Was ist neu

Waldspaziergang

Mitglied
Beitritt
12.01.2004
Beiträge
109
Zuletzt bearbeitet:

Waldspaziergang

Eigentlich mochte Kurt es nicht, wenn jemand ihn bei seinen Spaziergängen begleitete. Aber der andere kam einfach auf diese Kreuzung des Waldweges zugelaufen, die etwa so aussah wie eine Wünschelrute. Aus zwei Wegen wurde ein Weg. Kurt kam von der rechten Seite des Weges, der andere kam von links. Beide gingen ohne Eile etwa mit der gleichen Geschwindigkeit. Na ja, was tut man in so einer Situation? Ihnen war klar, dass sie den einzelnen, den gemeinsamen Weg weitergehen würden. Keiner wollte, nur um alleine zu bleiben, in die Richtung gehen, aus der der Andere gekommen war. Man nickte sich zu und ging weiter.

Irgendwie seltsam, wenn man minutenlang schweigend nebeneinander hergeht, morgens gegen 9.00 Uhr, auf einem schmalen Waldweg.
Kurt hatte den Anderen hier im Wald noch nie gesehen. Er war etwa im gleichen Alter wie er, etwa gleich groß, auch dunkelhaarig. Etwas schlanker vielleicht. Aber nicht viel.

Nach einiger Zeit merkte er, wie ihn auch der andere aus den Augenwinkeln musterte. Irgendwas müsste man jetzt sagen. So was wie:
"Kommen Sie oft hierher?", oder
"Sie laufen wohl auch gerne früh am Morgen?"
Aber Kurt sagte nichts. Der andere auch nicht. Kurt wusste, dass ihn der Weg noch etwa zwei Kilometer weit in den Wald und am Schluss dann ein kleiner Weg zurück zu seinem Ausgangspunkt, der alten Fabrik führen würde.
Auf dem dortigen Parkplatz würde sein Spaziergang wie immer enden.

Aber was, wenn der Andere auch zur alten Fabrik wollte? Ob er einfach mal eine Zeitlang langsamer laufen, das Tempo seiner Schritte verringern sollte? Sollte er so tun, als habe er einen Stein im Schuh?
Herrgott noch mal, das war doch absurd! Da gehen zwei erwachsene Männer gemächlich nebeneinander auf einem Waldweg und schweigen sich an! Und keiner traut sich, etwas zu dem anderen zu sagen.

Gerda hätte längst eine Unterhaltung mit dem Fremden begonnen. Kurt schmunzelte still vor sich hin. Wahrscheinlich hätte sie schon alles über ihn herausgefunden, wo er lebt, was er beruflich macht, wie alt er ist, wie seine Frau heißt.
Aber Gerda war seit drei Jahren tot. Sie war damals an Brustkrebs gestorben. Es begann ganz langsam, unbemerkt, bis sie eines Tages etwas von einem Knoten erzählte und davon sprach, mal zum Arzt zu gehen. Das Ergebnis der Untersuchung war niederschmetternd. Es hatten sich bereits Metastasen im ganzen Körper gebildet, ein Jahr später war sie dann gestorben.

"Laufen Sie auch so gerne früh am Morgen?"
Kurt erschrak.
"Wie?"
"Der Spaziergang! Früh am Morgen ist es hier doch am Schönsten, finden Sie nicht auch?", sagte der Fremde und lächelte Kurt an.
"Ja, früh am Morgen, da haben sie Recht."
Eigentlich hatte Kurt gar keine Lust sich zu unterhalten. Was sollte er ihm auch erzählen? Dass seine Frau vor drei Jahren gestorben war? Warum sollte den anderen das interessieren? Vielleicht war er ja auch Witwer? Ob er Kinder hatte?
Kurt und Gerda hatten keine Kinder. Kurt wollte immer einen Sohn, aber Gerda konnte keine Kinder bekommen. Ob ihn ein Kind damals über den Tod Gerdas hinweggetröstet hätte? Ein Sohn oder eine Tochter wäre jetzt wohl auch schon über zwanzig Jahre alt, Kurt und Gerda waren immerhin dreißig Jahre glücklich miteinander verheiratet gewesen, bevor sie starb.

Wie es wohl gewesen wäre, einen Sohn zu haben, überlegte Kurt zum wiederholten Male. Ihn aufwachsen zu sehen, mit ihm zu spielen, mit ihm schwimmen zu gehen, angeln vielleicht.
Blödsinn. Kurt hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine Angel in der Hand gehabt, warum hätte er, falls er einen Sohn gehabt hätte, mit diesem angeln gehen sollen?
Obwohl, mit seinem Sohn wäre es bestimmt interessant gewesen, das Angeln. Interessanter als alleine auf jeden Fall.
Kurt musste lächeln, als er sich vorstellte, stundenlang an einem See oder einem Fluss zu stehen, um eine Angel ins Wasser zu halten.

"Haben Sie einen Sohn?", hörte er sich plötzlich seinen Begleiter fragen.
"Ich? Nein, ich habe zwei Töchter", sagte der. "Warum fragen Sie?"
"Ach, nur so." Er machte eine kurze Pause.
"Es muss schön sein, mit seinem Sohn angeln zu gehen", setzte er dann hinzu.
"Angeln Sie?", fragte interessiert der Andere und blickte ihn an.
"Äh, nein, nicht wirklich." Kurt wurde es jetzt fast schon peinlich, überhaupt damit angefangen zu haben.
Dann gingen sie wieder schweigend mehrere Minuten nebeneinander her. Es war Kurt plötzlich gar nicht mehr so unangenehm, mit jemandem gemeinsam zu gehen. Vielleicht könnte man sich ja öfter treffen und Waldspaziergänge machen. Wenn das Eis erst mal gebrochen war, wer weiß, vielleicht würde sich so eine Art Freundschaft entwickeln? Kurt ging automatisch an der Weggabelung rechts, weil er bei der alten Fabrik abbiegen wollte. Er bemerkte gar nicht, dass sein Begleiter sich mehr links hielt. Erst als dieser schon aus einiger Entfernung: "Einen schönen Tag noch!" rief, fiel es ihm auf.
"Ja, danke, Ihnen auch", entfuhr es ihm noch, dann wurde der Fremde auch schon vom Unterholz verdeckt.

Kurt fühlte sich plötzlich irgendwie alleingelassen.
Schon seit vielen Jahren war er morgens ohne Begleitung im Wald unterwegs.
Noch nie hatte es ihm irgendetwas ausgemacht, nie hatte er sich dermaßen alleine gefühlt. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Bald hatte er die alte Fabrik erreicht und verließ den Wald, den er genau an dieser Stelle vor zwei Stunden betreten hatte. Er liebte diesen Rundweg, trotzdem beschloss er, beim nächsten Mal nicht wieder hierher zu kommen.

Das nächste Mal würde er am See spazieren gehen. Er kannte dort ein paar Stellen, an dem immer die Angler saßen.
Er freute sich plötzlich auf sie.


 

Hallo Compuexe,

es wurde Zeit dass mal jemand dieses Thema aufgreift.
Hab´s mit Genuss gelesen.

Freudige Grüße

 

Für den Kritikerkreis geschrieben von Woltochinon


Hallo Compuexe,


Der Aufbau Deiner Geschichte ist gut gewählt: Der Protagonist antizipiert eine Situation, von der er weiß, dass er sie nicht mögen wird. Ganz typisch für eine solche Situation dann das distanzierte Taxieren des unerwünschten Begleiters.

Elegant ist der Übergang von allgemeinen Gedanken, wie man die Situation meistern könnte zu den Erinnerungen an die eigene Frau, die kein Problem mit so einer Begebenheit gehabt hätte.
Bei
„Aber was, wenn der Andere auch zur alten Fabrik wollte?“ merkt man die Besorgnis, dass es vielleicht unausweichlich ist, auf das Treffen zu reagieren. Warum reagiert der Mann verunsichert? Aufgrund dieser Verunsicherung sucht er Halt in den Gedanken an seine Frau, indirekt wird so, mit ganz sparsamen Mitteln, seine Bewunderung für sie dargestellt.
Gut gefallen hat mir auch, wie der Protagonist aus seinen Gedanken aufgeschreckt wird, wie er auf das Angesprochen-Werden mit Einschätzung suchenden Gedanken reagiert. Auch hier ist wieder seine Verunsicherung zu spüren, diese ist das Geheimnis, hinter welches der Leser kommen möchte.
Zitat:
„Was sollte er ihm auch erzählen? Dass seine Frau vor drei Jahren gestorben war? Warum sollte den anderen das interessieren? Vielleicht war er ja auch Witwer? Ob er Kinder hatte?“

Erst blockt der Protagonist ab, ein wenig Selbstmitleid ist zu spüren, doch dann die Wende: Die Einsicht, dass es ja auch andere Menschen geben kann, die Schicksalsschläge erlitten haben. Dieser Wechsel vom `Ich´ zum `Du´ gibt der Situation eine verallgemeinernde Bedeutung.
Das Anschließende Sinnieren des Protagonisten passt zu dem Bild, das er bis jetzt verkörpert hat, aber jetzt führt seine Nachdenklichkeit nicht zur Abgrenzung, sondern er befragt seinen Begleiter ganz unvermittelt über das Thema, welches ihn so schmerzlich beschäftigt - die Vorstellung, einen Sohn zu haben. Es ist ein wenig wie `das Pfeifen in Walde´ oder auch der Mut etwas unangenehmen ins Auge zu sehen.
Schnell bereut der Protagonist den Ausbruch aus seinen ausgetretenen gedanklichen Pfaden, dies ist psychologisch gut beobachtet. Doch diese kleine Begebenheit hinterlässt ihre Spuren, hat eine Hemmschwelle abgebaut, die bis jetzt den Blick auf die Möglichkeiten außerhalb des leidenden `Ichs´ verwehrt hat. Der Protagonist beschließt in Zukunft andere Wege zu gehen:
“ Er liebte diesen Rundweg, trotzdem beschloss er, beim nächsten Mal nicht wieder hierher zu kommen.“

Dies ist durchaus nicht nur örtlich zu verstehen, ein passendes Bild zur Darstellung des neuen Lebenswegs des Protagonisten.


Natürlich ist die Frage, ob ein solches Erlebnis eine so große Wirkung haben kann. In diesem Text scheint dies folgerichtig zu sein, man kann hoffen, dass der Effekt von Dauer ist. Die Fragen, die der Protagonist mit sich trägt, ihm, sich im Kreise drehend, eine Antwort beim `im Kreise laufen´ auf dem Rundweg verweigern, haben sich zumindest momentan verflüchtigt. Der Protagonist freut sich auf die Angler, die, die das tun, was er vielleicht getan hätte…


LG,

tschüß… Woltochinon


Noch einige Kleinigkeiten:

Aus zwei Wegen wurde plötzlich ein Weg

- Er kennt den Weg, die Weggabelung ist also nicht besonders plötzlich.

Eigentlich mochte Kurt es nicht, wenn jemand ihn bei seinen Spaziergängen begleitete. Der andere

- `Aber der andere´ finde ich passender.

Am Schluss zweimal „Rundweg“.

 

Hallo Woltochinon

Danke für die Besprechung und die zwei Tipps.
Freut mich, dass dir die Story gefallen hat. :)

 

Diese Geschichte wurde im Kritikerkreis besprochen.
Wir würden uns über weitere Anmerkungen zu diesem Text freuen.

Das Kritikerteam.

 

Hallo Compuexe!

ich finde im Gegesatz zu kakaotesschen nicht, dass die Gedanken an Gerda fehl am Platz sind. Gedanken an einen geliebten Menschen kommen immer wieder und in den unterschiedlichsten Situationen, auch nach Jahren noch.
Ihc finde den Aufbau sehr gelungen. Zuerst das Unwohlsein bei dem Gedanken, neben dem Fremden zu laufen, dann die Einsamkeit. Ein paar Momente, die verändert haben.
Meiner Meinugn nach hast Du die Stimmung gut eingefangen, ich habe die Geschichte gern gelesen.

schöne Grüße
Anne

 

Geschrieben von kakaotesschen
ich denke, wenn jmd drei jahre tot ist, dann denkt man vielleicht mit einem wehmütigen kleinen lächeln an ihn zurück
aber man gräbt nicht bei der erstbesten gelegenheit alle möglichen philosophischen fragen à la "hätte ein sohn mir geholfen?" aus
das wirkt doch arg gekünstelt

Hallo kakaotesschen

Danke fürs Lesen. Hab grad in deinem Profil nachgesehen, wie alt du bist, denn die eine Bemerkung ließ mich schon auf einen sehr jungen Menschen denken.
Glaub mir, wenn du mit einem Menschen 30 Jahre lang verheiratet bist, dann denkst du nach dessen Tod nicht nur mit einen wehmütigen kleinen Lächeln an diese Person, schon gar nicht nur drei Jahre lang.
Sondern immer und immer wieder. Auch noch nach fünf, zehn und fünfzehn Jahren.
Vielleicht nicht bewußt, aber immer dann, wenn du dich fragst, wie diese Person auf eben so eine Situation reagiert hätte.

 

Geschrieben von Maus
Meiner Meinugn nach hast Du die Stimmung gut eingefangen, ich habe die Geschichte gern gelesen.

schöne Grüße
Anne


Hallo Anne

Danke fürs lesen. Freut mich, dass es dir gefallen hat.:D

 

Geschrieben von kakaotesschen
da mag sogar wirklich was dran sein
aber ich kann ja nur wiedergeben, wies aus meiner warte heraus auf mich wirkt

Ja, das ist mir schon klar. Das sollte auch kein heftiger Vorwurf sein.
Du kannst halt, bedingt durch dein Alter, aus deiner Warte eine solche Einschätzung gar nicht vornehmen. :cool:

 

Geschrieben von kakaotesschen
autsch.....:-)
aber nun gut, thema durch

Neee, nicht dass das jetzt falsch rüberkommt.
Wer zwanzig Jahre alt ist, kann einfach nicht wissen, wie man sich fühlt, wenn man jemanden verloren hat, mit dem man zwanzig oder wie in der Story dreissig Jahre lang zusammen lebte, das meine ich.:)

Wie schon gesagt, es sollte kein Vorwurf sein.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom