Waldkind
Der Himmel war blau. Ein knalliges, beinah unwirkliches Blau, wie im Traum. Es tat in den Augen weh, wenn ich zu lange hinsah.
Deshalb schloss ich meine Augen.
Es war erstaunlich, wie viel man selbst mit geschlossenen Augen noch von der Welt um sich herum mitbekam.
Natürlich, man hatte ja auch fünf Sinne, nicht nur die Sehkraft. Eine Tatsache, die viele Menschen scheinbar vergessen hatten.
Meine Ohren. Verzückt lauschten sie dem Rauschen des Windes in den Bäumen.
Meine Nase. Es roch nach Erde, Gras, modrigen Blättern und frischer Luft. Es roch nach Wald.
Meine Haut. Im Rücken piekste mich das Gras, auf dem ich lag. Meine Hände tasteten den Boden ab, unter meinen Fingern spürte ich die kalte, trockene Erde, darüber stachelige, schmale Grashalme.
Ich öffnete die Augen wieder. Meine anderen Sinne rückten in den Hintergrund, als ich meine Umgebung mit den Augen betrachtete.
Ich lag auf einer kleinen Lichtung im Gras, umgeben von Wald. Ein schmaler Pfad führte etwa zehn Meter von mir entfernt in die Bäume hinein, wo er bald aus meinem Sichtfeld verschwand.
Der Wald war voller Leben, um mich herum schwirrten tausende von Insekten im Gras herum und in den Bäumen zwitscherten die Vögel ihr Lied.
Dennoch fühlte ich mich unbeobachtet, frei. Die Tiere interessierten sich nicht für mich, ich war ihnen egal.
Der Wald war der einzige Ort, in dem ich einfach nur sein konnte. Hier liegen, das Geschehen um mich herum beobachten. Hier war ich ein stiller Beobachter, einfach nur da.
Doch ich musste hier weg.
Die Sonne war bereits fast hinter den Bäumen verschwunden. Das Blau des Himmels begann, seine Intensität im schwindenden Licht der Sonne zu verlieren.
Es wurde Abend.
Ich hasste den Winter, wenn es immer schneller dunkel wurde und somit meine Zeit im Wald begrenzt war.
Ich sammelte meine herumliegenden Blöcke und Schulbücher ein und warf sie in meine Schultasche, die ein Stück von mir entfernt im Gras lag.
Der Weg nach Hause war nicht lang, und die meiste Zeit lief ich durch den Wald.
Genoss die letzten Minuten im schützenden Dickicht, bevor ich wieder die Welt der Menschen betrat. Der Wald hörte so urplötzlich auf, der moosige, erdige Boden ging so abrupt in den harten Asphalt über, dass ich jedes Mal aufs Neue überrascht war.
Wie jedes Mal, wenn ich aus dem Wald kam, fühlte ich mich in der Stadt, zwischen Häusern und Asphalt, vollkommen fehl am Platz. Dabei war ich hier geboren.
Unser Haus war nur ein weiterer Block zwischen all den anderen. Hässlich und braun. Im Treppenhaus stank es nach abgestandenen Zigarettenrauch und chinesischem Essen.
Automatisch zählte ich die Treppenstufen mit. Anders als der Wald, der sich jeden Tag veränderte, blieben sie immer – logischerweise – gleich. 8 Treppen, 14 Stufen pro Treppe. 112 Stufen.
Unsere Wohnungstür stand halb offen. Aus der Wohnung kamen Geschirrklappern und aufgeregte Stimmen. Schon wieder stritten sie.
Hinter mir schloss ich die Wohnungstür. Es musste ja nicht das ganze Haus mitbekommen, dass meine Eltern kurz vor der Scheidung standen.
Der kleine Schuhschrank neben der Tür wurde voll eingenommen von den tausend verschiedenen und doch gleich aussehenden High Heels meiner Mutter. Meine ausgelatschten, ehemals weißen Converse, die ich daneben abstellte, sahen im Vergleich dazu aus wie aus einer anderen Welt.
In der Küche stand meine Mutter am Herd und im ersten Moment dachte ich schon, dass sie kochte, aber dann sah ich die halbleere Packung Tiefkühlpenne und den Teller, den sie gerade in die Mikrowelle schob.
Mein Vater saß am Küchentisch, vor sich bereits einen weiteren Teller mit Penne, von der er sich energisch einen Löffel nach dem anderen in den Mund schob.
Vor ihm stand eine leere Bierflasche. Daneben eine weitere, noch volle.
„Wie war es in der Schule?“, fragte meine Mutter mich, ohne jedoch wirklich eine Antwort zu erwarten.
„Ganz gut“, nuschelte ich und nahm den Teller entgegen, den sie mir aus der Mikrowelle reichte.
Die Stimmung zwischen den beiden war deutlich angespannt, deshalb beschloss ich, in meinem Zimmer zu essen, wo ich meine Ruhe hatte.
Ich hatte immer versucht, mein Zimmer dem Wald so ähnlich wie möglich zu machen. Die Wände waren in einem freundlichen hellgrün gestrichen, wie die Blätter der Bäume im Sommer. Meine Möbel waren alle aus Kiefernholz und überall hingen Bilder vom Wald – gezeichnete, selbst fotografierte, oder auch selbst gepresste Pflanzen hingen in Rahmen an den Wänden.
Dennoch war es nicht echt. Kein echter Wald. Durch die dünnen Wände konnte ich immer noch meine Eltern hören, ein Stockwerk unter mir hörte ich das Nachbarskind brüllen, in der Wohnung neben uns plärrte ein Fernseher.
Und aus dem Fenster blickte ich direkt auf den nächsten Block.
Das war nicht der echte Wald.
Nachdem ich mein Essen aufgegessen hatte, beschloss ich, entgegen meiner Gewohnheit, zu meinen Eltern ins Wohnzimmer zu gehen. Ich war das ewige Rumgebrülle satt, und wenn ich bei ihnen war, waren sie wenigstens still. Als ob ich sie nicht hören konnte, wenn ich in meinem Zimmer war.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Eine übergewichtige Frau mit schlechten Zähnen ließ sich in fehlerhaftem Deutsch über ihren Freund aus, der sie offenbar betrogen hatte.
Meine Mutter schaltete weiter. Eine Quizsendung. Doch die Teilnehmerin scheiterte schon an der 500€-Frage.
Nächster Sender. Sendepause. Bernd das Brot beschwerte sich über sein Leben.
Kein Wunder. An seiner Stelle hätte ich auch keine Lust, jeden Tag zwei Stunden lang im Fernsehen erscheinen zu müssen.
„Läuft doch nur Mist“, murrte mein Vater. Er war bereits bei seinem vierten Bier angelangt. Meine Mutter schaltete den Fernseher aus.
„Wie war’s in der Schule?“ Sie schien vergessen zu haben, dass sie mich das schon gefragt hatte.
„Wie immer“, antwortete ich. Sie hörte mir nicht zu. Hatte ihr Handy rausgeholt. Facebook und ihre E-Mails waren wichtiger.
Keiner der beiden merkte, als ich aufstand und wieder in mein Zimmer ging. Ich zog meinen Pyjama an und legte mich ins Bett. Drüben im Wohnzimmer blieb es ruhig. Sie hatten sich wohl ausgestritten.
Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich eingeschlafen war, bis am nächsten Morgen der Wecker klingelte.
Meine Eltern waren bereits zur Arbeit gegangen. Ich genoss die morgendliche Ruhe, bevor ich in den Bus stieg, in dem es wie immer turbulent zuging. Ein paar Fünftklässler kloppten sich um ihre Sitzplätze. Ein Junge mit schwarz umrandeten Augen meinte, seine deprimierende Musik mit dem ganzen Bus teilen zu müssen. Selbst durch seine Kopfhörer und fünf Meter weiter konnte ich den Text deutlich verstehen.
Obwohl ich mit niemandem redete, war ich jetzt schon genervt von den Menschen um mich herum.
In der Schule wurde es nicht besser. Wir schrieben einen unangekündigten Test. Mit gemischten Gefühlen gab ich ihn der Lehrerin ab und ignorierte das Gemecker meiner Klassenkameraden um mich herum.
In Sport machten wir Ausdauerlauf. Endlich mal Ruhe um mich herum. Jeder rannte für sich, alle hochangestrengt. Bis auf ein paar ganz Coole, die lieber eine Sechs kassierten, als ihre Frisur durch die Anstrengung zu ruinieren.
Nach Sport hatte ich Schluss. Endlich.
Der Bus war nicht so voll wie am Morgen, ich fand sogar einen Sitzplatz. An meiner Haltestelle angekommen, rannte ich fast zum Wald.
Endlich umfing mich das tröstende Gezwitscher der Vögel, der beruhigende Waldgeruch. Ich lief ein paar Meter in das Dickicht hinein, blieb stehen, atmete einmal tief ein. Ließ die frische Luft meine Lungen durchströmen. Meine Hände tasteten über die raue Rinde der Bäume. Mit jedem Meter, den ich weiter im Wald verschwand, wurde mein Herz leichter.
Auf der Lichtung legte ich mich auf den Boden. Ließ die Sonne mein Gesicht wärmen. Schloss die Augen angesichts des strahlend intensiven Blaus des Himmels.
Zuhause.