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Hallo Leute,
ich bin jetzt seit einem Jahr angemeldet, habe mich aber bisher nicht getraut, etwas einzustellen. Jetzt fasse ich mir mal ein Herz und stelle eine meiner Lieblingsgeschichten ein.
Ich hoffe, sie gefällt euch.
Wal-thers Gesang
Wal-ther konnte sich nicht erinnern, wie er in diese Welt geraten war. Er konnte sich auch nicht erinnern, wo er hergekommen war. Ob er überhaupt irgendwo hergekommen war. Vielleicht war seine Existenz einfach nur aus einem namenlosen Etwas aufgeploppt wie eine Seifenblase. Aber nun war er da und versuchte, sich zurechtzufinden. Er hielt sich immer in der Nähe seiner Mama auf, sie bot ihm Schutz und Nahrung, und Wal-thers Instinkte sagten ihm, dass er genau das brauchte - Schutz und Nahrung. Weiter nichts.
Kommentarlos folgte er seiner Gruppe und tat, was man ihm sagte. Brav schwamm er an die Oberfläche, um Luft zu holen. Er blies das Wasser dabei ab und kicherte, wenn es auf seinen Rücken rieselte und ihn dabei kitzelte. Er saugte seine regelmäßige Ration aus den Zitzen seiner Mutter. Es war ein angenehmes Gefühl, wenn die warme Milch durch seinen Rachen rann und seinen hungrigen Magen füllte. Eines Tages würde er vielleicht 200 Tonnen wiegen, da musste er noch kräftig wachsen. Er lernte, die bösen Haie im Auge zu behalten und sie zu meiden, hielt sich immer in der Mitte der Gruppe auf, die, wie er bald lernte, Schule hieß, und schlief häufig, denn das viele Fressen und Luftholen machte müde. Er führte ein zufriedenes Leben.
Bis zu dem Tag, an dem zum ersten Mal etwas Seltsames an sein Ohr drang, leise, verhalten, etwas, das sein Herz zum Schwingen brachte. »Was ist das?«, fragte er seine Mutter erstaunt.
»Was meinst du?«, fragte sie.
»Was sind das für Töne? Wo kommen sie her?«
Seine Mutter lauschte angestrengt. »Da sind keine Töne, das bildest du dir ein. Jetzt sei still und mach dich auf den Weg, um Luft zu holen.« Sie wandte sich ab und saugte weiter Krill in sich hinein. Ihre eigene gewaltige Körpermasse und ein Baby wollten ernährt werden.
Wal-ther tat wie geheißen, schwamm nach oben und ignorierte die Töne. Zumindest versuchte er es, denn mit der Zeit wurden sie lauter und lauter, beschleunigten seinen Herzschlag und weckten eine Sehnsucht in ihm, eine Sehnsucht, von der er nicht wusste, wohin sie ihn führen würde. Das brachte ihn zum Nachdenken.
»Wo komme ich her?«, fragte er eines Tages seine Mutter.
»Von Mutter Erde«, antwortete sie.
Wal-ther war schockiert. »Ich dachte, du wärst meine Mutter«, äußerte er vorwurfsvoll.
»Das ist etwas anderes. Dein Körper ist durch mich entstanden, aber dein Geist ist aus Mutter Erde hervorgekommen, der großen Göttin Mannanai. Dorthin wirst du eines Tages zurückkehren.«
Betroffen schwieg Wal-ther und versuchte zu verarbeiten, was er da gerade erfahren hatte. »Ich habe einen Geist? Bin ich zwei? Warum bin ich hier, wenn ich wieder zurückkehren muss?«
»Es ist, wie es ist«, antwortete seine Mutter.
Wal-ther bemühte sich redlich, saugte brav an den Zitzen seiner Mutter, holte Luft, schlief und hielt sich von den Haien fern. Er wuchs, und mit seiner Körpergröße nahm auch die Musik zu. Je mehr er versuchte, sie zu ignorieren, desto aufdringlicher und hartnäckiger erklang sie, drang lauter und lauter an sein Ohr. Die Musik forderte ihn auf zu antworten, das spürte er. Wie sollte er das bewerkstelligen? Kein Wal aus seiner Familie sang. Wie könnte er so etwas Ungeheuerliches wagen?
Doch die Sehnsucht ließ ihn nicht mehr los. Heimlich sonderte er sich etwas von der Schule ab, ging in sich und spürte dieses Gefühl im Bauch, etwas, das seinen Körper verlassen wollte. Nein, korrigierte er sich, während er in sich hineinlauschte, das war es nicht! Es war etwas, das seinen Geist verlassen wollte! Das sich darin bildete, größer wurde, sich ungestüm aufbäumte und verzweifelt seinen Weg in die Welt suchte. Ähnlich, wie er aus Mannanai in die Welt geworfen wurde, so wollte diese Musik in das Sein geworfen werden und irgendwann ihren Weg zurück zu Mannanai finden. Er fühlte sich wie ein Instrument, auf dem Mannanai ihre Weisen spielte, aus reiner Freude an ihrer Existenz. Aus diesem Grund war er hier.
Ohne es zu wollen, bahnte sich die Musik ihren Weg, und Wal-ther gab ein leises Krächzen von sich, weit entfernt von der Lieblichkeit der Töne, die er von außen vernahm. Erneut versuchte er es, lauter. Aus dem Krächzen wurde ein Ton, der sich länger zog und länger, der die Frequenz erhöhte und sich seinen Weg weit in die Tiefen des Ozeans suchte.
Die anderen Wale hatten diesen Ton gehört. Entrüstet näherte sich seine Mutter. »Was fällt dir ein? Wie kannst du es wagen? Wale singen nicht, hörst du? Sie fressen und sie atmen. Das ist der einzige Grund für unsere Existenz. Folge den Gesetzen von Mannanai!«
Betroffen schwieg Wal-ther und kehrte reumütig zu seiner Familie zurück. Fraß, atmete und hielt sich von den Haien fern. Obwohl er für die Haie längst zu groß geworden war. Er fraß und er atmete, fraß, atmete. Er versuchte, die Musik zu ignorieren. Aber sie sammelte sich in seinem Bauch, wurde größer und größer, drängte und versuchte, sich gewaltsam einen Weg nach draußen zu bahnen.
Eines Tages war es genug. Wal-ther hielt es nicht mehr aus. Er hielt sich zunehmend außerhalb der Schule auf, vergrößerte den Abstand, beobachtete aufmerksam, ob jemand ihn beachtete und im geeigneten Moment schwamm er davon. Er verließ die Sicherheit der Schule und nahm seinen Weg Richtung Norden, zu den kalten Gewässern, in denen es keine anderen Wale gab, die ihm das Singen verbieten konnten.
Während er so durch die Strömung glitt, bahnten sich die Töne aus seinem Bauch endlich ihren Weg in die Freiheit, voller Inbrunst sang Wal-ther sein Lied, tiefe brummende Frequenzen, die seinen Körper erzittern ließen, hohe Töne, die dahinflogen, sich überlagerten und wundersame Weisen entstehen ließen und Mannanais Herz mit Freude erfüllen würden.
In Wal-thers Glück mischten sich bittere Tränen, während er monatelang so durch die Meere zog. Auf den Hunderten und Tausenden Kilometern, die er auf dem Weg zum Polarmeer zurückgelegt hatte, war ihm nicht ein einziger Artgenosse begegnet. Selbst wenn ihm eine Schule begegnet wäre, was hätte er für eine Wahl gehabt? Die Geborgenheit einzutauschen um den Preis seiner Musik?
Die Töne, die er von sich gab, änderten ihre Klangfarbe, wurden disharmonisch, klagend, suchend. Weit, weit, viele hundert Kilometer, sandte er seine einsamen Rufe in den Ozean hinaus, aber sie verhallten ungehört. Das Wasser wurde kälter, auf der Oberfläche verdichteten sich die Eisschollen.
Wal-ther fühlte sich ausgelaugt, müde vom vielen Singen, und müde vom vielen Suchen. Er hatte keine Kraft mehr, keinen Lebenswillen. Erschöpft sank er nach unten. Sollte er seine Suche aufgeben? Er war seit langer Zeit unter Wasser, musste bald nach oben schwimmen, um Luft zu holen. Sollte er sich stattdessen auf den Grund des Meeres sinken lassen und unverrichteter Dinge zu Mutter Erde zurückkehren?
Sein Entschluss war gefasst. Während er verzweifelt seine Augen schloss und sich langsam fallen ließ, drang erneut die Musik an sein Ohr, zart und lieblich. Er spürte bereits, wie die Atemnot seine Sinne schwinden ließ. Mannanai sang für ihn, während er ihr entgegenging. Hohe Frequenzen, die eine unwirkliche Melodie bildeten, untermalt von tiefen, dröhnenden Frequenzen.
Was war das? Überrascht öffnete Wal-ther die Augen und lauschte. Das war nicht Mannanai, die hier sang! Die Töne waren suchend, sehnsuchtsvoll. Sie klangen wie seine eigenen Lieder. Von weit her drang der Gesang an sein Ohr, rief ihn, lockte ihn, forderte ihn auf, sich zu nähern.
Mit letzter Kraft setzte sich Wal-ther in Bewegung, schwamm an die Oberfläche, pustete das Wasser aus und kicherte, weil die Tropfen seinen Rücken kitzelten. Tief sog er den lebensspendenden Sauerstoff ein und spürte, wie ihn neue Hoffnung und Lebenskraft erfüllte.
Er tauchte ab, begann zu antworten. Er konnte die Richtung ausmachen, aus der die Töne kamen und sandte seine Musik aus, kraftvoll, dröhnend, sehnsuchtsvoll und weich.
Mannanai begann zu lächeln.