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Wahrscheinlich nie wieder
Wir saßen gemeinsam unter der lauten Brücke, neben der lauten Hauptstraße, die in die noch viel lautere Stadt führt. Wir versuchten all den Lärm mit unserer Musik zu übertönen. Ein alter Ghettoblaster, den ich mit bunten Stickern, die ich vor einem Jahr auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte dekoriert hatte diente uns als Waffe. Ich betrachtete die Sticker immer gerne. Vor einem Jahr…damals waren die Dinge noch völlig anders. Klar, das sind sie irgendwie nach jedem Jahr. Zumindest ist das bei mir der Fall. Aber in diesem Jahr haben sich einfach absolut alle Dinge geändert. Ich saß hier unter einer Brücke, eine halbe Weltreise von meinem früheren Heimatort entfernt. Mit einem Haufen Leuten, die ich bis vor ein paar Monaten noch nicht gekannt habe. Wenn ich auf meine Fingernägel blicke sehe ich nicht mehr die roten Kunstnägel, sondern kurz geschnittene, völlig naturbelassene Nägel. Und meine Schuhe sind nicht mehr die schwarzen Peeptoes, sondern rote Converse mit viel zu langen Schnürsenkeln, die ich mir um die Beine gebunden habe.
„Riri gib mal schnell die Flasche rüber“, grölte Mirco, ein Freund, der mir gegenüber saß. Ich kannte ihn von allen Leuten schon am längsten. Ich hatte ihn als erstes nach einer Kippe gefragt, als ich den Flughafen in Barcelona verlassen hatte. Er war ein absoluter Überlebenskünstler, der mit seinem verrückten gelb grünen Backpack schon fast die ganze Welt gesehen hatte. Verrückt war das Wort, das ihn wohl am besten beschrieb. Verrückt, aber auf eine gute Weise. Ich reichte ihm die besagte Flasche aus Glas mit blutrotem Inhalt. Er bedankte sich. „Hast du schon das Neueste gehört?“, fragte Tommy. Ein junger Künstler, der zwar unglaubliches Talent hatte es aber bisher nicht weiter als bis zum Straßenmusiker geschafft hatte. Er hatte immer ein Thema, mit dem er uns alle unterhalten konnte. War es auch nur der unbedeutendste Klatsch und Tratsch. „Erzähl“, kam gleichzeitig aus meinem und dem Mund von Neomi, einer Freundin, die ich erst vor ein paar Wochen in der Umkleide eines second hand Ladens kennengelernt hatte. Ich stand da, nackt bis auf die Unterhose. Sie fragte mich, ob sie das Kleid, dass ich ihn der Hand hielt, auch einmal anprobieren könnte. „Mona ist jetzt wirklich gesprungen!“ Wir waren alle mehr als ein wenig verdutzt und reagierten dementsprechend.
„Wirklich von der schwarzen Brücke?“, fragte Neomi neugierig nach. „Ja genau von der“, antwortete Tommy. „Hast du´s gesehn?“ „Nein aber jeder redet drüber.“ „Das sind doch wieder nur dumme Gerüchte“, mischte sich Gina ein. „Ne ich glaub nicht.“ Ich dachte eine Weile darüber nach. Ich jedenfalls hätte es mich wohl nie getraut. Allein die Vorstellung machte mir eine ungeheure Angst. Aber andererseits empfand ich auch einen Funken Neid. Sie hatte den Schritt gewagt…ich war viel zu feige dafür, habe kurz vor knapp einen Rückzieher gemacht. Keine Ahnung warum mich das in dieser Weise herunterzog. Ich war einfach einmal wieder viel zu fixiert auf andere. Das wollte ich doch endlich ablegen. Gerade wenn es um Personen ging, die ich nie wieder sehen würde. Und das war bei Mona ja definitiv der Fall. Wir redeten nicht mehr lange darüber, sondern fanden mit dem Wechsel des Songs ein neues Thema. „Hat jemand eine Idee was wir später essen könnten?“, fragte ein junger Mann, der von uns allen Hatschi genannt wurde, weil niemand in der Lage war seinen richtigen Namen auszusprechen. Er war Chinese, sprach aber mindestens vier andere Sprachen fließend. Wirklich faszinierend der Mann. Und trotzdem saß er wie wir alle hier zusammen herum und kramte zeitgleich mit den anderen in seinem Rucksack auf der Suche nach etwas essbarem.
Ich war die erste, die etwas aus ihrem Rucksack hervorzog. Eine große Packung Spiralnudeln. Es war meine letzte, doch ich teilte sie gerne mit den anderen. Tommy hatte noch eine volle Dose Tomatensoße dabei und Noemi eine Kräutermischung, mit der sie gerne jede Mahlzeit etwas verfeinerte und an der ich mittlerweile auch großen Gefallen gefunden hatte. Nach dem Essen warteten wir darauf, dass eine Veranstaltung in der Innenstadt losging. Eine Art Flohmarkt, an dem Musik gespielt wurde und für verschiedene Rechte demonstriert wurde. Ganz verstand ich das Konzept immer noch nicht, aber es hörte sich spannend an. Genau nach dem Richtigen für mich. Ich freute mich natürlich von der Gruppe begleitet zu werden, aber ich wäre auch alleine hingegangen. Irgendwann verliert man diese gewisse Scheu, die ich für meinen Teil eine Zeit lang hatte. Es war so oder so ein gutes Erlebnis. Ich kaufte mir einen selbst bemalten, bunten Stoffbeutel und schnappte mir ein Schild mit einem Spruch, der für Frauenrechte einstand. Zumindest wurde mir das versichert. Schließlich war mein Spanisch noch nicht das Allerbeste. Mirco und Noemi zwangen Tommy auf eine kleine Bühne, auf der jeder der wollte, sein Talent unter Beweis stellen konnte. „Riri komm mit!“, forderte er mich auf, bevor er die Bühne betrat. „Und was soll ich dann machen?“ Da ich leider kein musikalisches Talent besaß verstand ich den Sinn der Sache nicht ganz, aber ich ließ mich doch mitreisen und spielte am Ende ein paar halbwegs passende Töne auf der Mundharmonika.
Ich bekam wieder so viele Eindrücke, doch innerlich fühlte ich eine gewisse Leere. Das hatte ich gelegentlich und ich wusste auch woher das kam. Vielleicht morgen, sagte ich mir kurz bevor ich abends schlafen ging. Das tat ich eigentlich immer. Und dann war der neue Tag auch schon wieder angebrochen. Dieses Mal hatte ich tatsächlich die Energie dazu. Ich wollte es wirklich tun. Ich wollte so mutig sein wie Mona. Egal wie. Mit diesem einen Vorhaben startete ich in den Tag. Es regnete furchtbar und der Himmel sah aus als hätten tausend Fabriken alles blau verdeckt und die normalen Wolken mit einer bauschigen, grauen Schicht überzogen. Ich war mir nicht sicher ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Beirren ließ ich mich durch nichts. Mein Weg führte mich durch zwei U-Bahn Stationen in ein komplett anderes Stadtviertel. Ich war hier erst einmal gewesen, aber ich erinnerte mich noch gut an einen Wolkenkratzer, auf dessen Dach man sich traf, um in der Dämmerung ein bisschen über seine eigenen und die Probleme der Welt zu reden. An einer Stelle war das Geländer, das vor einem Absturz bewahrte entfernt worden. Genau diese Stelle war mein Ziel. Ich wollte nicht wie Mona von einer Brücke springen. Ich hatte diesen Weg ausgewählt und er schien mir gut. Zumindest würde kein besserer kommen. Als ich mich in dem kleinen, dunklen Aufzug in die oberste Etage befand betete ich, dass nicht allzu viele Menschen dort oben waren. Ich blickte noch einmal in den Ganzkörperspiegel an der hinteren Wand des Aufzugs bevor ich ausstieg. Ein bisschen blasser als sonst aber sonst eigentlich wie immer, dachte ich mir. Die Angst spielte mir die seltsamsten Bilder vor. Ich dürfte einfach bis kurz davor nicht hinuntersehen. Das hatte ich schon so oft gehört, dass es einfach ein guter Tipp sein musste. Ich öffnete dann also die Tür, die mich nach draußen führte, wo es ruhig zu sein schien. Ich sah mich um und stellte fest scheinbar komplett alleine auf dem Dach zu sein. Das fand ich gar nicht so schlecht. Ich lief bewusst nicht zu nahe an den Rand. Ich wusste, dass ich sonst Panik bekommen würde und das wollte ich so lange es ging verhindern. Ich fixierte meinen Blick auf das kleine Holzhäuschen, dass dort mitten auf der weiten Fläche platziert worden war. Kerzengerade und ohne den Blick davon abzuwenden steuerte ich darauf zu bis ich realisierte, dass sich dort ein Mann befand, der immer wieder einen Blick aus dem Fenster warf. Er hatte mich definitiv gesehen. Aber es war mir egal. Am liebsten wäre ich noch kurz zu ihm gelaufen, um ihn zu fragen was er überhaupt dort tat. Ich wusste aber genau, dass ich das aus reiner Feigheit machen wollte, damit er mich vielleicht am Ende sogar noch abhielt.
Ich lief also geradewegs auf die besagte freie Stelle im Geländer zu. Ich hatte mir vorgenommen nicht nach unten zu sehen, doch ich konnte einfach nicht anders. Schließlich musste ich mir ein Bild von der Lage machen, auch wenn es meine Angst noch um einiges vergrößerte. Nachdem ich den Blick wieder nach vorne gerichtet hatte atmete ich tief und gut hörbar ein. "Jetzt tu es schon", sagte mir mein Kopf immer wieder. Meine Beine weigerten sich aber auch nur einen Muskel zu bewegen. Sie führten ihren Kampf eine ganze Weile und ich hatte keinen Einfluss darauf. Irgendwann gewann mein Kopf doch die Überhand und mir entwich beim Bewegen des rechten Fußes ein kleines Quieken. Ich tat es tatsächlich. Der linke Fuß folgte. Dann gab es keinen Platz mehr zwischen mir und dem Abgrund. Kurz zögerte ich immer noch, doch dann schloss ich die Augen und sprang. Es war so irreal. Wie im Film. Ich konnte fliegen. Die eine Sekunde, in der ich mich so unendlich frei fühlte verging unglaublich schnell und ich traf auf. Das Wasser war kälter als gedacht, der Aufprall etwas ungemütlich. Die Kleidung verklemmte sich überall. Als ich auftauchte wurde es nicht besser. Das Schwimmen fiel mir dadurch schwer, aber das Ziel war ja nicht weit entfernt. Ich krabbelte wie ein einbeiniger Krebs aus dem Wasser und setzte mich auf eine Treppe, die sich direkt am Ufer befand. Ich warf einen Blick nach oben. Eigentlich schaute ich eine ganze Weile nach oben. Bis schließlich der Mann auftauchte, der in sich in der Hütte befand. Er lehnte sich über das Geländer und starrte unaufhörlich nach unten. Auf der Suche nach mir. Doch von dort konnte er mich nicht sehen. Ich musste lachen und wusste nicht warum. Das war wohl das dümmste, das ich in meinem Leben gemacht hatte. Einerseits konnte ich es nicht erwarten es jemandem zu erzählen aber andererseits wollte ich das auch gar nicht. Das würde wohl nicht jeder verstehen. Noemie zum Beispiel würde mich wahrscheinlich anschreien und fragen ob ich meinen Verstand verloren hätte. Mirco würde wohl einfach nur lachen und mir erklären, warum solche Dinge unsinnig sind. Und ich wüsste keine gute Antwort auf diese Reaktionen. Ich habe mich herausgefordert und das werde ich wieder tun…das wusste ich dagegen ganz genau.