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- 10.07.2007
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Wahrheit
Im Jahr des Einhorns, hatte der Hofchronist geschrieben, begab es sich, dass einer der uralten Drachen in den Silbernen Bergen erwachte. Es war ein riesiges, Feuer speiendes Ungeheuer, das drohte, das gesamte Königreich zu verheeren. Der einzige Weg, die Bestie zu besänftigen, war es, ihm eine Jungfrau königlichen Blutes als Opfer darzubringen. Und so blieb König Sigon dem Großen nichts anderes übrig, als seine jüngste Tochter Elmira einem grausamen Schicksal zu überantworten. Das ganze Land fiel in Trauer, denn es schien, dass nichts das Leben der Prinzessin retten könne. An einen Felsen gefesselt erwartete das Mädchen sein schreckliches Ende.
Doch unter den Rittern des Königs war Leon, der tapferste Krieger weit und breit. Als er hörte, was mit der Prinzessin geschehen sollte, schwor er, ihr Leben zu retten oder bei dem Versuch zu sterben. Nur mit seinem Schwert und seinem Vertrauen in die Götter bewaffnet, forderte er die Bestie heraus und brachte ihr gleich mit dem ersten Angriff eine schwere Wunde bei. Der Schmerz entfachte in der Bestie maßlosen Zorn. Sie vergaß das ihr zugedachte Opfer und hatte nur noch das Ziel, den Helden auszulöschen, der es gewagt hatte, ihr die Stirn zu bieten.
So begann ein schrecklicher Kampf. Leon schwang sein Schwert mit fast übermenschlicher Kraft, durchschlug die Schuppen des widerlichen Leibes und verwundete das Ungeheuer wieder und wieder, doch es schien weder zu ermüden noch schwächer zu werden, während die Kräfte des Helden langsam, aber unaufhaltsam schwanden.
Der Drache stürzte sich auf ihn, und fügte ihm mit seinen Zähnen und Klauen so entsetzliche Wunden zu, dass Leon den Tod schon vor Augen hatte. All seine Tapferkeit schien umsonst gewesen zu sein. Verzweifelt flehte er die Götter um Hilfe an. Die Bestie richtete sich auf und holte tief Luft, um ihn mit ihrem Feuer endgültig zu vernichten, aber die Götter hatten das Gebet des Helden erhört und verliehen ihm Kraft. Mit seinem letzten Streich schlug er dem Ungeheuer den Kopf ab.
Der Ritter war ebenfalls dem Tode nahe, aber mit letzter Kraft gelang es ihm, sich zu der Prinzessin zurückzuschleppen und sie von ihren Fesseln zu befreien. Die Jungfrau dankte ihrem Retter unter Tränen und verband seine Wunden mit Streifen von ihrem Gewand. Als sie ins Schloss zurückkehrten, wurde ein Fest gefeiert, das sieben Tage und Nächste dauerte. Der Lohn des siegreichen Helden war die Heirat mit der Prinzessin und die Hälfte des Königreichs.
Die Königinmutter sah von dem Text auf und nickte leicht.
„Es ist gut“, sagte sie.
Der Hofchronist stieß seinen angehaltenen Atem aus. „Alles … ist zu Eurer Zufriedenheit?“
„Ja“, antwortete sie. „Übergib es dem Holzschneider.“
In seine Erleichterung mischte sich ein wenig Enttäuschung. „Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir noch mehr über die Ereignisse sagen. Es ist mein höchstes Ziel, dass wir alles wahrheitsgetreu überliefern. Dies ist das erste Mal, dass eine Chronik unseres Reiches gedruckt wird.“
Der Hofchronist war noch ein junger Mann, und die Verantwortung lastete schwer auf ihm.
Er begegnete ihrem Blick. Die Augen waren blass und von zahllosen Falten umgeben, aber aus ihnen sprach ein wacher und scharfer Verstand.
Ihr Gesichtsausdruck war rätselhaft.
„Was lässt dich annehmen, dass die Geschichte nicht der Wahrheit entspricht?“, fragte sie.
„Nichts! So habe ich das nicht gemeint, Hoheit. Ich wollte nur … man hat nicht oft die Gelegenheit, mit jemandem zu sprechen, der etwas so Außergewöhnliches erlebt hat. Ich dachte, vielleicht erinnert Ihr Euch an Einzelheiten, die wir noch nicht aufgezeichnet haben.“
„Und an was für Einzelheiten hast du gedacht?“
Noch immer war ihr Gesichtsausdruck nicht zu deuten. War sie amüsiert? Verärgert? Er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um seine Frage zu stellen. „Also … seht Ihr, ich habe mich immer gefragt … Leon verlor seinen Schwertarm in jenem Kampf. Wie konnte er danach noch den Drachen erschlagen?“
„Nun“, sagte sie. „Das ist keine schwierige Frage. Mit seinem anderen Arm.“
Der Hofchronist hatte noch andere Fragen, doch es schien ihm weiser, sie nicht zu stellen.
„Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mann“, sagte die Königinmutter.
Dieses Mal fiel es dem Chronisten nicht schwer, ihr Gesicht zu deuten. Sie trauert noch immer um ihn, dachte er.
An jenem Abend zog sich die Königinmutter früh in ihre Gemächer zurück, doch es dauerte lange, bis sie in den Schlaf fand. Sie hatte geahnt, dass der Traum wiederkommen würde.
In der Nacht war die Wahrheit eine andere.
Sie sitzt in ihrer Kemenate, in der immer Halbdunkel herrscht, selbst wenn draußen heller Tag ist. Zu jener Zeit, als sie noch eine Prinzessin ist, gibt es noch keine Fensterscheiben aus Glas, und die Öffnungen, die Licht und Luft hereinlassen, können nur winzig sein, wenn man im Winter nicht erfrieren will. Sie hofft, dass es niemandem auffallen wird, wenn sie so viel Lampenöl verbraucht. Seit vielen Tagen ist sie nun schon in das Buch vertieft, einen dicken, in Leder gebundenen Wälzer, der einen leichten Modergeruch verströmt. Das Buch war lange Zeit an einem geheimen Ort versteckt, und es sollte nicht hier sein. Aber Elmira kümmert das nicht mehr. Sie liest Worte einer in Vergessenheit geratenen Sprache, und ihre Lippen bewegen sich leicht, wenn sie über die richtige Aussprache nachdenkt.
Sie ist ganz allein.
Wenige Meilen entfernt, an einem noch viel dunkleren Ort … In der Finsternis und Kälte einer Höhle, die tief in die Eingeweide der Berge hinabreicht, beginnt etwas, sich zu bewegen. Lange hat es regungslos dagelegen, Jahrhunderte, nach der Zeitrechnung der kurzlebigen Wesen an der Oberfläche.
Spärliches Licht glänzt auf glatten Schuppen und Zähnen, die so lang sind wie der Unterarm eines Menschen. Doch das Licht der Außenwelt gelangt nicht bis in diese Tiefen. Der fahle Glanz hat einen anderen Ursprung: Die tellergroßen, gelb leuchtenden Augen, die sich gerade geöffnet haben.
Das Etwas streckt sich in der Dunkelheit, und das Knacken gigantischer Knochen ist zu hören. Dann wird die Höhle plötzlich von dem sehr viel helleren Licht erleuchtet, das ein Feuerball erzeugt. Alles funktioniert noch wie gewohnt.
Jemand klopft an die Tür, und Elmira zuckt zusammen. Hastig lässt sie das Buch verschwinden und nimmt eine halbfertige Stickerei zur Hand.
Das Wissen in diesem Buch ist für Frauen tabu, und selbst eine Prinzessin bekäme Schwierigkeiten, wenn man es in ihrem Besitz fände. In ihrer Eile sticht sie sich in den Finger und unterdrückt einen Fluch, bevor sie „Herein“ sagt.
Es ist nur eine Dienerin, die gekommen ist, um sie zum Abendessen zu bitten.
Elmira bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Dienstboten in ihrer Gegenwart nervös werden, aber dies ist etwas anderes. Die Frau ist blass, und ihre Hände zittern.
„Was ist mir dir?“, fragt Elmira.
„Nichts, Hoheit“, antwortet ihre Dienerin. „Es ist nur … die Magier sind gekommen. Ich weiß, es ist dumm von mir, aber ich fürchte sie.“
„Das Konzil ist hier?“, fragt Elmira.
Die Frau nickt. Sie ist noch immer nervös.
Elmira presst ihre Lippen aufeinander, bis sie zu einem Strich werden. Sie hält es keineswegs für dumm, die Magier zu fürchten. Gesunder Menschenverstand ist es.
Sie verabscheut die alten Männer. Sie sind diejenigen, wegen denen sie das Buch verbergen muss, wegen denen sie niemandem anvertrauen kann, was sie über sich herausgefunden hat. Ihretwegen muss sie vorgeben, ein dummes, artiges Mädchen zu sein, das sich mit Stickereien und Harfenspiel die Zeit vertreibt.
Offiziell sind die Magier nur Ratgeber. Sie sind die weisen und gerechten Hüter der Tradition, die dem König immer zur Seite stehen. Allerdings sind sie es auch, die für Flüche und Schlangenplagen und spontane Verwandlungen sorgen können, wenn das Reich nicht so regiert wird, wie die Ratgeber es für richtig halten. Und sollte ein König einmal nicht so weise und gerecht sein, wie man das sich wünschen könnte, dann sind sie es, die dafür sorgen, dass der richtige Mann ein magisches Schwert aus einem Stein zieht, um den Thron zu befreien.
Das Etwas in der Höhle ist nun auf dem Weg zur Oberfläche, zum Ausgang. Es kriecht langsam vorwärts, noch benommen von der Kälte und seinem langen Schlaf. Doch es spürt bereits den Hunger.
Dieses Geschöpf lebt nicht von gewöhnlicher Nahrung. Gewiss, es verzehrt kleinere Lebewesen – was praktisch alles einschließt außer seiner eigenen Art – doch es ist nicht ihr Fleisch, das es sättigt. Es ist ein magisches Wesen, und seine eigentliche, wirkliche Nahrung sind die Qualen und die Angst, die seine Opfer vor ihrem Tod empfinden.
Und seine Art hat einen genialen Weg gefunden, sich mit jener Nahrung zu versorgen. Könnte es etwas anderes empfinden als Hass und Hunger – ersteren bringt es anderen seiner Art entgegen, letzteren allen anderen Kreaturen – dann wäre es vielleicht stolz auf die Klugheit seiner Rasse.
Es gibt gar nicht so wenige von ihnen. Sie werden sehr alt.
Aber die meiste Zeit über schlafen sie. Manchmal leben und sterben an der Oberfläche mehrere Generationen gewöhnlicher Kreaturen, ohne überhaupt zu ahnen, welche Gefahr in den Bergen schlummert.
Aber wenn eines von ihnen erwacht, geht es augenblicklich auf Nahrungssuche, und stellt sicher, dass noch lange über es gesprochen wird, wenn es schon längst wieder schläft.
Die Magier sind natürlich zum Essen geblieben. Das tun sie immer, wenn sie an den Hof kommen. Ihre Anwesenheit ist schon allein daran zu erkennen, dass alle am Tisch so blass und eingeschüchtert aussehen wie Elmiras Dienerin.
Doch diesmal bilden die alten Männer keine Ausnahme von der allgemeinen gedrückten Stimmung. Sonst werden sie gefürchtet. Heute fürchten sie sich selbst.
Etwas Seltsames ist im Gange.
Angst will sich in ihr breit machen, aber Elmira lässt es nicht zu. Fürchten kann sie sich auch noch, wenn sie weiß, was hier vorgeht.
Sie grüßt ihre Eltern und ihre Schwester Selena, deren Ehemann Oren ihrem Vater eines Tages auf dem Thron folgen wird, mit einem Knicks. Zu den Magiern sagt sie: „Seid gegrüßt. Wie kommen wir zu der Ehre, euch heute so zahlreich bei uns zu sehen?“ Dann nimmt sie am Tisch neben ihrer Schwester Platz.
Das müssen ungefähr ein Dutzend Höflichkeitsregeln gewesen sein, die sie gerade verletzt hat, aber sie findet, das Konzil hat es nicht anders verdient. Außerdem will sie natürlich wirklich wissen, was die alten Männer hier zu suchen haben.
Sie ist ein wenig überrascht, dass niemand sie rügt und dass Landuin, der Ranghöchste der anwesenden Magier, ihr sofort antwortet.
„Hoheit, wir haben eine dunkle Präsenz in den Bergen gespürt. So stark wie seit vielen hundert Jahren nicht. Wir befürchten, das bedeutet …“
„Dass ein Drache erwacht ist“, sagt Elmira, erneut die Regeln der Höflichkeit vergessend.
Die Menschen am Tisch nicken alle, aber niemand sagt etwas.
Und alle starren sie an.
Sie weiß nicht genau, was sie erwarten – ein leises Beben und ein paar ästhetische Tränen der Verzweiflung vielleicht, wie sich das für eine Prinzessin in ihrer Lage gehört. Elmira kümmert es nicht. Sie spürt, wie ihr Gesicht sich zu einem humorlosen Lächeln verzieht.
„Na so was“, sagt sie. „Wen es wohl treffen wird?“
Elmiras Mutter beginnt zu weinen. Ihr Vater tätschelt ihr unbeholfen den Arm und macht dadurch alles noch schlimmer. Er selbst ist so bleich, dass er wie ein Toter aussieht.
Noch haben die Magier keinen Kontakt mit der Bestie gehabt, noch wissen sie nicht genau, was sie verlangen wird. Doch im Grunde ist klar, worauf alles hinausläuft. Es ist doch immer das Gleiche.
Der Volksglaube, Drachen würden wegen des Geschmacks am liebsten Jungfrauen königlicher Herkunft verzehren, ist völliger Blödsinn. Die Ungeheuer fressen alles, was ihnen über den Weg läuft, und wenn es anstelle einer zarten Prinzessin ein zäher alter Abortreiniger ist, merken sie wahrscheinlich keinen Unterschied.
Aber sie verlangen immer ein Opfer aus der königlichen Familie als Preis für die Schonung des Landes. Auf diese Art bekommen sie viel mehr von dem, was sie brauchen. Würden sie nur ein paar unvorsichtige Bauern und Hirten töten, dann gäbe es nur ein paar vereinzelte trauernde Familien und Nachbarn in den Dörfern. Aber wenn sie jemanden aus dem Königshaus verlangen, wird das ganze Volk von Trauer und Furcht gezeichnet, und das verleiht ihnen Macht.
Das Geschlecht des Opfers ist den Drachen egal. Aber männliche Nachkommen sind nun einmal wichtig, um die Thronfolge zu sichern.
Und es gibt auch einen guten Grund für das Opfern von Jungfrauen.
Elmiras ältere Schwester ist die Frau des künftigen Thronerben. Sie erwartet gerade ihr erstes Kind, von dem alle hoffen, dass es ein Sohn wird.
Elmira ist noch unverheiratet.
Und Elmira ist merkwürdig. Die Leute halten sie für kaltherzig, weil sie nicht bei jedem Anlass seufzt oder in Ohnmacht fällt, wie man das von einer Prinzessin erwartet. Sie ist nicht so hübsch wie ihre Schwester, und bei weitem nicht so sanftmütig. Und – das weiß natürlich niemand hier im Saal, doch wenn es sie wüssten, wäre das ein weiterer Punkt, der gegen sie spricht – Elmira hat ein dunkles Geheimnis.
„Seid unbesorgt“, sagt sie zu der Runde aus bleichen, starren Gesichtern. „Ich kenne meine Pflicht gegenüber dem Königreich, und ich werde ihr nachkommen. Können wir jetzt essen?“
Nun fängt auch Selena an zu weinen. „Wie kannst du … wie kannst du jetzt ans Essen denken?“ schluchzt sie.
Elmira hat ihre große Schwester gern, aber die Worte kommen schneller über ihre Lippen, als sie nachdenken kann. „Ist es denn nicht naheliegend, jetzt an Essen zu denken?“
Selenas Augen weiten sich. Sie versucht, noch etwas zu sagen, dann springt sie auf und läuft aus dem Saal. Ihr Mann Oren folgt ihr. Er ist immer sehr besorgt um sie, vor allem seit sie schwanger ist.
Elmira bedauert ihre Worte, aber sie kann jetzt nicht schwach sein. Manchmal ist Kälte der einzige Schutz.
Natürlich hat sie Angst, schreckliche Angst sogar, sie ist ja nicht aus Stein. Aber sie wird es nicht zeigen. Das Ganze ist schlimm genug, sie wird jetzt nicht anfangen zu zittern und zu heulen, nur damit alle „das arme Ding“ sagen und sich besser fühlen können.
Und außerdem gibt es, abgesehen von der Möglichkeit, dass der Drache plötzlich tot umfällt, weil es den Göttern so gefällt, noch einen schwachen Hoffnungsschimmer, von dem niemand wissen kann.
Es gibt das Buch. Und es gibt etwas in ihrem Inneren, für das sie keinen Namen weiß. Es fühlt sich leuchtend an, obwohl das Unsinn ist. Man kann sein Inneres ja nicht sehen, und man kann auch nicht fühlen, dass etwas leuchtet. Aber sie hat inzwischen genug gelernt, um diese Dinge nicht mehr in Frage zu stellen.
Die Menschen glauben, Drachen seien grausame und dumme Kreaturen. Aber sie haben nur mit dem ersten Teil Recht.
Drachen sind schlau. Viel schlauer als diese kleinen Dinger, die sich einbilden, die Welt zu beherrschen. Dumme Kreaturen hätten nicht den Handel erreicht.
Natürlich könnte ein Drache unermessliches Leid verursachen, wenn er einfach die Siedlungen der kleinen Dinger niederbrennen und alle fressen würde, die es nicht schaffen, rechtzeitig zu fliehen. Doch das wäre dumm.
Vielleicht würden sich die kleinen Dinger nach einigen solchen Attacken nicht mehr erholen, ihre Siedlungen aufgeben und für immer aus den Bergen verschwinden. Wenn der Drache dann nach einer Weile wieder erwachte, wäre niemand mehr da, der ihm Respekt erweisen könnte. Die dumpfe Panik irgendwelcher Wildtiere ist mit der Angst und dem Leiden von Menschen nicht zu vergleichen. Und vor allem nicht mit ihrem Respekt. Nur Menschen können ihnen dieses Gefühl geben. Es sind die einzigen Geschöpfe, die bewundern, was sie fürchten.
Außerdem erfordert es viel Energie, über das Land zu fliegen und Dörfer in Flammen aufgehen zu lassen, vor allem, seit die kleinen Dinger begonnen haben, ihre Behausungen aus Stein zu bauen. Es ist anstrengend, und einmal derart verausgabt muss ein Drache lange schlafen, um seine Fähigkeit zum Feuerspeien zu regenerieren.
Der Handel macht alles einfacher. Auch für die kleinen Dinger.
Ein einziges Opfer, das ihm aus freien Stücken gebracht wird, und alle anderen bleiben verschont. Ihre lächerlichen Steinhütten bleiben stehen, und ihre Familien können weiterleben. Aber der Drache bekommt den Respekt, der ihm zusteht. Weil er ein besonderes Opfer auswählt. Eines, das den kleinen Dingern im ganzen Land etwas bedeutet.
Der Drache, der erst vor wenigen Stunden erwacht ist, sitzt auf einem Felsplateau. Vor kurzem stand hier noch ein kleines Wäldchen, aber er hat sich gelangweilt, und jetzt sind nur noch verkohlte, rauchende Stümpfe übrig. Sogar das lautlose Sterben von Pflanzen und winzigen Tierchen im Boden kann die Gier des Ungeheuers ein wenig lindern, aber nicht für sehr lange.
Er muss dafür sorgen, dass der Handel stattfindet. Dann wird sein Hunger für eine Weile gestillt sein, und er kann bald wieder ruhen.
Er konzentriert sich. Das Glühen seiner Augen wird heller. Er sucht nach dem Geist eines Menschen, mit dem er kommunizieren kann. Mit den meisten der kleinen Dinger funktioniert das nur auf sehr kurze Distanz. Er kann zwar die Emotionen, nach denen er giert, über weite Entfernungen wahrnehmen, aber die meisten von ihnen können seine Stimme in ihren Gedanken nicht hören, wenn sie ihm nicht direkt gegenüber stehen. Aber es gibt einige, die besonders begabt sind und deren Geistessphäre weiter reicht als die der anderen. Mit ihnen kann er über weite Entfernungen hinweg reden.
Der Drache grollt zufrieden, als er die helle Sphäre eines magisch begabten Individuums entdeckt.
„Ich bin erwacht“, verkündet er.
Dabei ist kein Laut zu hören. Er sendet nur seine Gedanken in den Geist des weit entfernten Menschen.
„Was willst du?“, empfängt er von weit her. Die Gedankenstimme zittert.
„Was mir zusteht“, sendet der Drache.
„Wir bieten dir … die jüngste Tochter unseres Königs an“, empfängt er, und er genießt das Zögern und die Qualen, die dieser Gedanke seinem Gegenüber verursacht.
„Einverstanden“, sendet er. „Ich erwarte sie in zehn Tagen. Vor Sonnenuntergang.“
Bis dahin wird er sich noch ein wenig austoben. Ein paar Wälder verbrennen, und gewiss auch das eine oder andere Pferd oder Schwein oder einen unvorsichtigen Wanderer fressen. Ganz ungeschoren kann er die kleinen Dinger auch nach einem Handel nicht davonkommen lassen. Sie sind kurzlebig und vergessen schnell. Er muss ihnen seine Macht zeigen, damit sie wieder eine Vorstellung davon bekommen, was geschähe, wenn sie ihm sein Opfer und den ihm zustehenden Respekt verweigerten.
Es gibt eine Zeremonie für diesen Anlass. Sie hat seit über hundert Jahren nicht mehr stattgefunden, aber trotzdem scheint jeder zu wissen, worauf es ankommt. Alle Menschen, die in der Hauptstadt und den umliegenden Dörfern leben, müssen sich dazu vor dem Schloss versammeln, außer den Alten, Kranken und Kindern. Doch die Zeremonie ist nicht für das Volk. Sie ist für den Drachen.
Alle müssen davon erfahren, das ist eine Bedingung des Handels. Einen Monat lang werden sie trauern, sobald verkündet wurde, was bevorsteht. Das Ungeheuer will das Entsetzen der Leute fühlen, in seinem Versteck oben in den Bergen.
Sigon ist so verzweifelt, dass er kein Wort herausbringt. Einer der Magier muss für ihn sprechen. Er redet von dem unendlichen Schmerz über den Verlust der Prinzessin, als wäre Elmira, die neben ihrem Vater steht und ab und zu seine Hand drückt, bereits tot. Sie hätte gern selbst etwas gesagt, aber das, hat man ihr mitgeteilt, wäre nicht angemessen.
Sie soll nur präsentiert werden.
Es wäre lächerlich, wenn es sie nicht so zornig machen würde. Sie ist diejenige, deren Leben geopfert wird. Und ihr steht es nicht zu, zu sprechen? Am liebsten würde sie den alten Zauberer mit seinem eigenen Bart erdrosseln.
Früher hat man bei solchen Gelegenheiten auch verkündet, dass jemand, der bereit wäre, gegen die Bestie zu kämpfen und imstande, sie zu besiegen, die Hand der Prinzessin und das halbe Königreich als Belohnung erhielte. Aber heute scheint dieser Teil auszufallen.
Vielleicht wollen sie nicht, dass eine Prinzessin wie sie gerettet wird, flüstert die kalte Stimme in Elmiras Kopf. Aber sie weiß, dass das nicht stimmt. Es wäre einfach falsch, in dieser Situation vergebliche Hoffnungen zu wecken. Zu genau können sich die Magier erinnern, was geschehen ist, wenn jemand versucht hat, eines der Opfer zu retten. Manchmal macht es den Drachen wütend, und er tötet eine viel größere Zahl von Menschen. Meistens aber werden sie nicht einmal böse. Einer von ihnen hat sich angeblich sogar bedankt, weil man ihm zwei Opfer gebracht hat.
Es ist merkwürdig, zu sehen, wie die Leute reagieren. Dass ihre Eltern verzweifelt sind, dass ihre Schwester nicht mehr schlafen kann, sogar dass ihre Diener bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbrechen, das kann sie verstehen. Aber die Leute, die sich um das Podest drängen, auf dem sich die Magier um sie und ihren Vater versammelt haben, kennen sie überhaupt nicht. Sie werden gut ohne sie zurechtkommen, aber sie sehen aus, als würde jedem von ihnen jemand genommen, an dem ihr Herz hängt.
Sie ist genauso ein Mensch wie alle dort unten, denkt Elmira, und trotzdem würden sie nicht anfangen zu weinen oder sich die Haare zu raufen, wenn sie erfahren würden, dass die Tochter eines Webers oder eines Schuhmachers sterben soll, um sie alle zu retten. Ist das vielleicht der Grund, warum es ein Königshaus gibt?
Der Magier verkündet, was geschehen muss: Singen und Tanzen wird für einen Monat verboten, das ganze Volk ist angewiesen, Trauerkleidung zu tragen, und vor jedes Fenster wird schwarzer Stoff gehängt.
Und dann passiert es.
„Ich kann das nicht zulassen“, ruft jemand. „Wir können die Prinzessin doch nicht in den Tod schicken! Ich melde mich freiwillig, um gegen den Drachen zu kämpfen!“
Elmira starrt in die Menge, dahin, wohin sich plötzlich alle Blicke richten.
Der Mann, der gerufen hat, ist keineswegs ein berühmter Held. Er ist kaum älter als zwanzig, und er trägt zwar ein Schwert, aber es scheint irgendwie zu groß für ihn zu sein. Gegen einen Drachen hätte er nicht den Hauch einer Chance.
Aber Elmira kennt ihn. Er heißt Leon und gehört erst seit kurzem zu den Rittern ihres Vaters. Der dritte Sohn irgendeines kleinen Adligen. Wenn in den Silbernen Bergen ein vermögender Mann mehrere Söhne hat, ist es üblich, dass der erste Sohn seinen gesamten Besitz erbt. Traditionell wird der zweite Sohn ein Krieger und der dritte Priester oder Mönch. Aber Leons zweitältester Bruder ist fast blind, deshalb ist er Priester geworden, und Leon musste zum Kriegsdienst.
Es heißt, er eignet sich nicht wirklich dafür. Die Leute machen sich über ihn lustig, angeblich kann er kein Blut sehen.
Außerdem ist er sehr religiös. Niemand sonst betet so viel. Er hätte sicher einen hervorragenden Priester abgegeben. Aber am Hof des Königs hat er für seine Fähigkeit zur inbrünstigen Verehrung neben den Göttern noch ein weiteres Objekt gefunden.
Elmira weiß, dass der junge Mann seit Monaten hoffnungslos in sie verliebt ist. Natürlich hat sie ihn nie ermutigt, sondern immer so getan, als würde sie ihn überhaupt nicht sehen. Irgendwie mag sie ihn nämlich, oder jedenfalls möchte sie nicht, dass ihm etwas zustößt. Vor allem nicht das, was Männern zustößt, die man einer höchst unstandesgemäßen Beziehung mit der Tochter des Königs verdächtigt.
Der alte Zauberer mustert den Jungen von oben bis unten.
„Deine Tapferkeit ehrt dich, Herr Ritter“, sagt er. „Aber was du vor hast, ist aussichtslos. Und der König hat beschlossen, niemandes Leben aufs Spiel zu setzen.“
Leon ist fassungslos. „Was ist mit dem Leben der Prinzessin?“, fragt er.
„Wir können uns dem Handel nicht entziehen“, sagt der Magier. „Wir müssen tun, was die Bestie verlangt. Ein Menschenopfer ist der Preis für unser aller Leben.“
„Aber sie sind nicht unbesiegbar“, beharrt Leon. „Es ist schon anderen Männern gelungen, sie zu töten. Bitte Herr, wollt ihr denn nicht, dass jemand eure Tochter rettet? Lasst es mich versuchen!“
Damit wendet er sich direkt an den König. Ein Murmeln geht durch die Menge.
Sigon wendet sich dem jungen Mann zu. Sein Gesicht ist wie eine Maske, erstarrt vor Schmerz. Er schüttelt den Kopf.
„Es ist schlimm genug, dass ein Leben geopfert werden muss“, sagt er tonlos. „Ich kann nicht zulassen, dass …“ er stockt. Natürlich wünscht er sich mehr als alles andere, es gäbe einen Ausweg. Er sieht plötzlich zu Elmira. „Wenn meine Tochter wünscht, dass du für ihr Leben kämpfst, werde ich dich nicht hindern“, sagt er.
Sie seufzt innerlich. Jetzt ist sie also auf einmal doch gefragt. Nur, weil ihr Vater nicht stark genug ist, um nein zu sagen. Aber sie kann ihm deswegen nicht böse sein.
Leon drängt sich durch die Menge nach vorn. Er fällt vor dem Podest auf die Knie und sieht zu ihr auf, als wollte er um ihre Hand anhalten.
„Bitte“, sagt er. „Ich schwöre bei den Göttern, dass ich lieber sterbe, als Euch der Bestie zu überlassen.“
Er hat dunkelbraune Augen. Sie muss an einen Hund denken, aber vielleicht liegt das auch daran, dass er so furchtbar dumm ist. Er bettelt sie an, ihn in den Tod zu schicken!
„Bittet mich nicht darum, Herr Ritter“, sagt sie. „Mein Schicksal ist hart genug, auch ohne den Tod eines Mannes auf dem Gewissen zu haben.“
„Aber …“
„Nein“, sagt sie.
Die Menge ist beeindruckt. Von seiner Tapferkeit und von ihrer. Wenn das Singen wieder erlaubt ist, werden sie Lieder schreiben, denkt Elmira.
Aber der junge Mann wirkt wie am Boden zerstört. Er kniet immer noch, und sein Hundeblick ist kaum zu ertragen.
„Steht auf“, sagt sie. „Geht. Ich bitte Euch.“
Endlich steht er auf und entfernt sich langsam. Er sieht aus wie ein Verurteilter auf dem Weg zu seiner Hinrichtung, dabei ist gerade das Gegenteil geschehen. Sie hat ihm verboten, sein Leben wegzuwerfen.
Den ganzen Tag über schien es, als wäre sie der am wenigsten verzweifelte Mensch im Schloss, doch in der Nacht findet Elmira keinen Schlaf. Es wird erst übermorgen so weit sein, aber ihre Gedanken kommen nicht zur Ruhe.
Sie will nicht sterben. Sie ist sechzehn, sie ist noch Jungfrau, und sie hat nie viel mehr von der Welt gesehen als ein Schloss, das immer dunkel und im Winter eiskalt ist. Das ist nicht gerecht.
Wenn sie schon nicht schlafen kann, denkt sie schließlich, kann sie ebenso gut versuchen, etwas Sinnvolles zu tun. Aber was könnte das sein, zwei Tage, bevor man im Rachen eines Ungeheuers endet?
Elmira schiebt ihre Bettdecke von sich und schleicht durch ihr dunkles Schlafzimmer. Sie legt die Decke vor die Türritze und hängt ein Tuch vor das Schlüsselloch, damit niemand den Schein der Öllampe sieht. Sie weiß, dass Wachen vor ihrer Tür stehen.
Dann sitzt sie auf dem Bett, das Buch vor sich auf dem Schoß, und liest, bis ihre Augen brennen. Sie murmelt die fremdartigen Worte vor sich hin, immer wieder.
Anfangs spürt sie nur Müdigkeit und Angst, die sie in den nächsten Tagen wohl nicht mehr loslassen wird. Aber dann scheint sich etwas zu lösen, und das, was da in ihrem Inneren ist, beginnt … stärker zu leuchten. Sie hat keine bessere Beschreibung dafür.
Sie weiß, dass es keinen Sinn hat, sich Hoffnungen hinzugeben, aber das Etwas in ihrem Inneren ist anderer Meinung.
Es leuchtet, und sie stellt sich vor … nein, sie sieht, wie die Farbe des Leuchtens von einem rötlichen Glühen in Orange, Gelb und schließlich ein strahlendes Weiß übergeht.
Am Morgen fühlt sie sich ausgeruht, obwohl sie keinen Moment geschlafen hat.
Sie geht ihrer Familie aus dem Weg, weil sie das Elend in ihren Gesichtern kaum ertragen kann. Sogar die Mahlzeiten lässt sie auf ihr Zimmer bringen.
Priester wollen mit ihr sprechen, aber sie will nicht beichten. Wenn sie es ernst nähme, dann müsste sie ihnen auch das Geheimnis sagen, müsste von dem Leuchten erzählen und gestehen, dass sie das Buch gestohlen hat. Das will sie nicht. Und wenn sie es nicht ernst nimmt, dann kann sie es auch sein lassen.
Am Abend verdeckt sie wieder die Türritze und das Schlüsselloch, aber dann muss sie plötzlich lachen, zieht den Stoff fort und wirft ihn über einen Stuhl.
Wie dumm sie doch ist. Als ob sie die Öllampe brauchen würde, wenn ihr eigenes Leuchten so viel heller geworden ist. Die Farbe ist jetzt ein Weiß von solcher Helligkeit, dass es einen Blaustich hat. Sie hat keine Ahnung warum, aber so ist es. Langsam glaubt sie, einige der besonders kryptischen Abschnitte des Buches zu verstehen. Auch dort geht es um Farben, und am Anfang hat sie geglaubt, damit sollten die Uneingeweihten verwirrt werden. Jetzt ahnt sie, was gemeint sein könnte.
Sie liest die Worte wieder, diesmal, indem sie einfach die Augen schließt und sie an sich vorbei ziehen lässt. Sie spricht sie leise vor sich hin. Und als sie sicher ist, sie nie in ihrem Leben mehr vergessen zu können, legt sie sich ins Bett und schläft tief ein. Sie hat getan, was sie konnte. Wenn das nicht genug ist, dann … wird sie nicht lange leben, um das zu bedauern.
Leon kann einfach nicht glauben, dass ihn niemand versteht. Er weiß, dass er kein großer Krieger ist, aber heißt es nicht, für den Sieg über einen Drachen brauche man vor allem Tapferkeit und Stärke im Glauben? Und wenn er Hilfe hätte, wenn sich die Ritter des Königs zusammentun würden, wäre es wahrscheinlich ein Leichtes, das Biest zu töten. Aber alle sehen ihn nur mitleidig an, und einer sagt sogar: „Vergiss die Kleine doch endlich. Die ist ohnehin tabu für dich.“
Leon kann nicht leugnen, dass er in sie verliebt ist. Er weiß, dass es aussichtslos und verboten ist, aber er kommt nicht dagegen an.
Das ist jedoch nicht der Grund, warum er sie retten will. Auch wenn er sie nicht lieben würde, wäre es seine Pflicht als Ritter, ihr Leben zu verteidigen. Er hat einen Eid vor den Göttern und seinem König geschworen.
Natürlich haben alle Ritter denselben Eid geschworen, aber da keiner ihn ernst nehmen will, bleibt ihm jetzt nur noch eins. Er wird die Magier aufsuchen.
Eine der alten Mägde am Hof hat ihm gesagt, wo Landuins Haus ist.
Er fürchtet sich nicht. Der Zorn des Gerechten brodelt in ihm.
„Ihr habt doch Macht!“, schleudert er dem alten Mann entgegen. „Warum im Namen der Unterwelt setzt ihr sie nicht ein, um die Bestie zu vernichten?“
Landuin hebt seine buschigen Brauen. Er ist es nicht gewohnt, dass Leute so mit ihm reden. In gewisser Weise imponiert ihm der junge Mann, und er bedauert es, ihm nicht helfen zu können. Deshalb sieht er ihm den Mangel an Respekt nach.
„Du stellst dir das ein wenig zu einfach vor“, sagt er. „Magie ist eine unsichere Sache. Wenn man auch nur einen winzigen Augenblick abgelenkt ist, schlägt der Zauber in zwei von drei Fällen fehl. Und Auge in Auge mit einem feuerspeienden Monstrum zu stehen, könnte die eine oder andere Ablenkung bereithalten. Stell dir einen Mann vor, der die Magie wirklich beherrscht – kannst du es sehen? Es ist ein alter Mann, weil er sie viele Jahre studiert hat. Alte Menschen sind nicht mehr gut zu Fuß. Dann hast du also einen alten Mann, der nicht mehr schnell laufen kann, und dessen Magie die Bestie aufspüren kann, wie ein Jagdhund die Fährte eines Wilds verfolgt. Nein, noch nie ist ein Drache von einem Magier besiegt worden. Wenn es überhaupt gelang, dann war es die Tat von Kriegern.“
„Weil ihr Feiglinge seid und die Krieger vorschickt“, bricht es aus Leon heraus.
„Wir sind weise Männer, die wissen, wie man ein hohes Alter erreicht“, sagt Landuin. „Es tut mir wirklich leid, Junge, aber die Prinzessin ist verloren. Einen Kampf gegen den Drachen zu wagen, bedeutet, ihm ein zweites Opfer zu bringen, ihm mehr von dem zu geben was er will. Dadurch würde seine Macht nur noch größer.“
„Und wenn wir untätig herumsitzen und um sie trauern, noch bevor sie tot ist?“, schreit Leon. „Gibt ihm das etwa nicht, was er will?“
Ohne es richtig zu bemerken, hat der junge Ritter die Robe des Magiers ergriffen. Landuin wirft einen kurzen Blick auf seine Hände, und Leon lässt ihn los, als hätte er sich verbrannt.
„Hör zu“, sagt der Zauberer nicht unfreundlich. „Ich verstehe deinen Kummer, und deine Tapferkeit ist bewundernswert, aber wenn du weiter solchen Lärm machst, muss ich dich leider in etwas Kleines und Schleimiges verwandeln.“
„Du meinst in einen Magier?“, sagt Leon, viel leiser als vorher.
Dann dreht er sich um, verlässt das Haus und wirft die Tür ins Schloss, dass Landuins gesamte Einrichtung bebt. Der Alte sieht davon ab, ihn in irgendetwas zu verwandeln. Der junge Mann ist schmächtig, und sein Benehmen ist reichlich albern, aber trotzdem hat er den Zauberer beeindruckt.
Vielleicht hätte ich ihm ein magisches Schwert geben sollen, denkt er.
Dann schüttelt er den Kopf.
Nein, auch wenn der Junge respektlos ist, er will ihm nicht helfen, sich umzubringen.
Leon kehrt zum Hof zurück. Finstere Entschlossenheit steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er wird nicht aufgeben. Wenn niemand sonst der Prinzessin helfen will, dann muss er es eben allein versuchen.
Der König hat es verboten, und auch Elmira selbst – wie könnte er das vergessen – aber darauf kommt es nicht mehr an. Wenn er siegen würde, wäre er ein Held, und niemand würde mehr danach fragen, ob er die Regeln verletzt hat. Befehle zu ignorieren gehört praktisch zum Handwerkszeug eines Helden.
Wenn er siegen würde … dann dürfte er sogar um Elmiras Hand anhalten. Natürlich würde sie ihn abweisen, weil er niemals gut genug für sie sein könnte, aber seine Liebe zu ihr wäre dann nichts Verbotenes mehr.
Und wenn er nicht siegt, wird er sterben, und dann wäre es ebenfalls bedeutungslos, dass er sich über den Befehl des Königs hinweggesetzt hat. Wenn Elmira tot wäre, hätte sein Leben ohnehin keinen Sinn mehr.
Auch wenn niemand ihm eine helfende Hand angeboten hat, ist es nicht unbemerkt geblieben, dass er allen, die er aufgesucht hat oder die ihm zufällig über den Weg laufen, unmissverständlich klar gemacht hat, dass er nicht aufgeben wird. Und entgegen seiner Überzeugung sind die Leute am Hof durchaus nicht gefühllos. Sie wissen sehr gut, welch schreckliches Schicksal es ist, einem Drachen zum Opfer zu fallen, und sie machen sich große Sorgen.
Doch davon ahnt Leon nichts. Er ist völlig in Gedanken versunken und merkt kaum, wohin er eigentlich geht, als ihn drei Männer von der Palastwache aufhalten. Sie haben schon einige Zeit nach ihm gesucht, sagen sie, und sie scheinen sehr erleichtert zu sein, dass er jetzt vor ihnen steht. Sie kommen ihm näher, als Leon es als erforderlich oder angenehm empfindet.
„Gebt mir Euer Schwert“, sagt einer von ihnen.
Was maßen sich diese Leute an? Sie sind nicht einmal Adlige.
„Das werde ich nicht“, sagt Leon und legt die Hand an den Schwertgriff. „Ich bin ein Ritter und habe das Recht, es zu tragen.“
„Es ist ein Befehl des Königs“, sagt der Wächter sanft. „Macht bitte keine Schwierigkeiten. Es ist zu Eurem Besten.“ Er spricht, als ob er versuchte, ein Kind zu beruhigen. Oder einen Wahnsinnigen.
Die drei Männer sind allesamt größer als Leon. Das ist vermutlich Absicht.
„Was geht hier vor?“, fragt er. „Was soll das?“
„Euch wird nichts geschehen“, sagt der Wächter im gleichen beruhigenden Tonfall. „Der König will nur verhindern, dass Ihr Euch selbst in Gefahr bringt. Bitte, gebt mir Euer Schwert.“
Leons Hand liegt noch immer am Griff der Waffe. „Und was habt ihr dann mit mir vor?“, fragt er. „Wollt ihr mich einsperren, bis es zu spät ist?“
„Das trifft es ziemlich genau“, sagt der Wächter. „Aber es ist nur zu Eurem Besten. Bitte zwingt uns nicht, Gewalt anzuwenden.“
Was soll er tun? Flucht hätte keinen Zweck, er ist umstellt. Und alle drei auf einmal kann er wahrscheinlich nicht besiegen, ganz abgesehen davon, dass sie nicht seine Feinde sind und er sie nicht verletzen will.
„Wenn ich euch mein Schwert gebe, und mein Wort, den Hof nicht zu verlassen, kann ich dann auf freiem Fuß bleiben?“, fragt er.
Es wird ihm schwer fallen, sein Wort zu brechen. Andererseits ist er am Hof für seine Haltung zu seinem Eid bekannt, deshalb gibt es vielleicht eine Chance, dass der Wächter ihm Glauben schenkt und ihn gehen lässt. Eine Waffe wird er sich schon wieder beschaffen können … aber er hat kein Glück.
„Wir haben den Befehl direkt vom König. Ich hörte, Euer Vater hat ihn darum gebeten“, sagt der Palastwächter.
Leon hat sich manchmal gefragt, ob sein Vater seinen dritten Sohn überhaupt liebt. Nun hat er den Beweis, dass dem so ist, und verflucht seinen Vater innerlich dafür.
Aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als aufzugeben. Wenn er sich wehrt und versucht gegen die Männer zu kämpfen, wird man es ihm schwerer machen, später zu entkommen, vielleicht unmöglich. Er senkt den Kopf und versucht möglichst unterwürfig auszusehen. Dann löst er seinen Schwertgurt und übergibt die Waffe.
„Ich … ich werde doch nicht in Ketten gelegt, oder?“, fragt er. Die Angst in seiner Stimme ist nicht gespielt. Wenn sie das tun, hätte er keine Chance zu entkommen.
„Natürlich nicht“, sagt der Wächter, erleichtert, dass der junge Mann nachgegeben hat. „Ihr seid keines Verbrechens angeklagt, und man wird Euch auch nicht so behandeln.“
In Leons Erleichterung mischt sich schon wieder der Zorn darüber, dass seine Tapferkeit als geistige Umnachtung behandelt wird, aber er hofft, dass man ihm nichts anmerkt. Er lässt sich von den drei Männern abführen, und den Göttern sei Dank bringen sie ihn tatsächlich nicht in den Kerker. Der Raum befindet sich in einem Turm, aber er hat ein Fenster. Die Tür allerdings wird verschlossen, und einer der Wächter bleibt davor stehen.
„Bei Sonnenuntergang seid Ihr wieder frei“, ruft der Mann durch die Tür.
Ja, denkt Leon, wenn es nach ihnen ginge. Aber dann wäre Elmira bereits tot, und die einzige Freiheit, die ihm dann noch etwas bedeuten würde, wäre die, auch seinem Leben ein Ende zu setzen.
Das Fenster ist sehr klein, und der Turm ist sehr hoch.
Aber er muss es versuchen.
Elmira hat das Gefühl, neben sich selbst zu stehen und alles aus einer gewissen Entfernung zu beobachten. Sie hat ein weißes Kleid angezogen, das ist Tradition. Sie hat nur eins in weiß, es ist altmodisch geschnitten und hat kleine Flecken von irgendetwas Braunem am Ärmel, aber um solche Dinge muss sie sich jetzt wohl keine Gedanken mehr machen.
Sie verabschiedet sich von der Dienerschaft. Die meisten weinen, obwohl sie durchaus nicht immer nett zu allen war. Sie umarmt ihre Eltern, dann ihren Schwager. Alle drei sehen aus, als wären sie innerhalb weniger Tage um Jahre gealtert. Sie fragt Oren, ob sie noch einmal zu Selena gehen sollte. All die Aufregung und der Kummer waren sicher schlecht für ihre Schwester und ihr ungeborenes Kind. Sie hütet seit Tagen das Bett und hat kaum etwas gegessen. Elmira will ihr auf keinen Fall noch mehr zusetzen.
Oren sagt, dass Selena es sich sicherlich wünschen würde, also geht sie zu ihr.
Das hübsche Gesicht ihrer großen Schwester ist blass und verweint, ihr Haar hängt strähnig und ungekämmt herab, und alles in allem sieht sie schlimmer aus, als Elmira sich fühlt. Sie hat beinahe ein schlechtes Gewissen.
Selena beginnt bei ihrem Anblick zu weinen.
„Ich werde es nach dir n-nennen“, sagt sie, während ihr die Tränen herab laufen.
Elmira lächelt. „Das ist lieb“, sagt sie. „Aber wenn es ein Sohn wird, wird ihm das vielleicht nicht gefallen.“
Selena, die sich all die Monate nichts sehnlicher gewünscht hat, als einen Jungen zur Welt zu bringen, schüttelt heftig den Kopf. „Ich bete um ein Mädchen, damit es deinen Namen tragen kann.“ Sie sieht Elmira verzweifelt an. „Du hasst uns doch nicht, oder?“
Dieser Gedanke ist Elmira noch nie gekommen. In den Silbernen Bergen wachsen die Kinder eines Königs mit dieser Möglichkeit auf – es ist eine Art Berufsrisiko, so wie ein Hufschmied durch den unglücklichen Tritt eines Pferdes sterben kann. Es ist einfach nur Pech, dass ausgerechnet sie die notfalls entbehrliche unverheiratete zweite Tochter ist. Niemals würde sie ihrer Familie daraus einen Vorwurf machen.
„Sei nicht dumm“, sagt sie. „Ich würde dich vielleicht sogar lieben, wenn du mehr essen und weniger heulen würdest.“
Selena versucht ein Lächeln. Es sieht scheußlich aus.
„Sehr gut“, lobt Elmira. „Und jetzt sagen wir auf Wiedersehen.“
„Du bist so tapfer“, sagt Selena. „Ich wünschte … ich …“ sie bekommt wieder einen Weinkrampf.
„Auf Wiedersehen, Selena“, sagt Elmira, und küsst das nasse Gesicht ihrer Schwester.
Dann brechen sie auf. Zwei Wächter begleiten sie auf Pferden.
Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie zu allen „auf Wiedersehen“ gesagt hat und nicht „Lebewohl“. Ihr Inneres leuchtet noch immer in dem strahlendem Weiß, das beinahe ins Blaue übergeht.
Leon wäre beinahe mit den Schultern stecken geblieben, aber irgendwie ist es ihm gelungen, aus dem Fenster zu klettern.
Und jetzt hängt er in dieser gefährlichen Höhe am Sims, sein Herz schlägt so laut, dass es eigentlich alle Wachen alarmieren müsste, er hält Ausschau nach Mauerritzen und Vorsprüngen, ihm wird schwindlig, sein Mund ist ganz trocken, und … wenn er fällt, wird niemand Elmira retten, also reißt er sich zusammen und fällt nicht.
Er hat kein Seil. Es gab nicht einmal ein Bettlaken in diesem Raum. Den Helden in Geschichten wird es entschieden einfacher gemacht, aus der Gefangenschaft zu entkommen.
Wenigstens ist der Turm alt und das Mauerwerk unregelmäßig, was das Klettern erleichtert, und langsam gewöhnt er sich an den Gedanken, dass jeder Fehler sein letzter wäre.
Es ist trotzdem eine Art Wunder, dass er heil unten ankommt.
Und ein weiteres Wunder, dass ihn niemand entdeckt … Nun, eigentlich ist niemand nicht ganz richtig, aber der Wächter ist zu überrascht, um Verstärkung zu rufen, bevor Leon ihn niederschlägt.
„Es tut mir leid“, sagt er aufrichtig, während er das Schwert des Mannes an sich nimmt. Dann schleift er den Bewusstlosen eine dunkle Ecke, wo man ihn nicht so schnell finden wird.
Er beruhigt sein Gewissen damit, dass er im Augenblick gezwungen ist, ein Held zu sein. Helden schlagen dauernd irgendwelche Wächter nieder, und niemand nimmt ihnen das übel. Er holt sein Pferd aus dem Stall, und reitet mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze zum Haupttor.
Und ja, ein weiteres Wunder geschieht, die Wachen am Tor halten ihn nicht auf. Er fragt sich, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, so reichlich mit Wundern gesegnet zu werden, bevor er den Drachen auch nur zu Gesicht bekommen hat. Hoffentlich werden den Göttern nicht mitten im Kampf die Wunder ausgehen. Ihm bleibt keine Zeit, noch einen Tempel aufzusuchen, um seine Sünde zu beichten. Dafür müssen sie Verständnis haben.
Ein Plateau liegt vor ihnen. An drei Seiten erheben sich steile Felswände, die eine Art natürlicher Arena bilden. Sie sind am Ziel.
Der Opferplatz hat eine furchtbare Ausstrahlung. Er liegt nicht besonders hoch in den Bergen, und doch wächst im Umkreis von mehreren Meilen hier nichts, kein Baum, kein Grashalm, nicht einmal Flechten. Und der Zweck des spitzen, von Menschenhand aufgerichteten Felsens in der Mitte des kahlen Plateaus ist nur zu offensichtlich. Alle Drachen kommen hierher, um ihre Opfer zu holen. Wie viele mögen es gewesen sein im Laufe der Jahrhunderte? Kein guter Gedanke.
Die Gesichter der Männer, die Elmira begleiten, sind aschfahl.
„Habt keine Angst, ich bin ja bei euch“, sagt sie.
Die Männer ketten sie an den spitzen Felsen, dann stehen sie da und starren sie an. Vielleicht warten sie auf irgendwelche bedeutungsschweren letzten Worte.
„Macht, dass ihr wegkommt“, sagt sie.
Die einzigartige Mischung aus Erleichterung, Scham, Angst und Bewunderung in ihren Gesichtern ist ein interessanter Anblick, aber sie will jetzt allein sein.
„Los doch“, sagt sie. „Ihr wollt doch nicht hier sein, wenn er kommt, oder?“
Sie laufen zu ihren Pferden. Hufschläge entfernen sich und verklingen. Gut.
Jetzt ist Elmira allein.
Sie schließt die Augen und konzentriert sich. Worte ziehen an ihrem inneren Auge vorbei, und jedes scheint von innen heraus zu leuchten.
Sie spricht eines von ihnen laut aus.
Dann öffnet sie die Augen. Dass es so einfach funktioniert hat, überrascht sie doch ein wenig. Die Kette, die sie an den Felsen gefesselt hat, ist verschwunden.
Sie muss lachen.
Es ist so leicht! Es fühlt sich so gut an! Was für eine Verschwendung, das einem Haufen überheblicher alter Männer zu überlassen!
Sie ist jetzt frei, doch natürlich kann sie nicht gehen. Das wäre das Verderben für das Königreich. Nein, entweder muss sie ihre Bestimmung erfüllen und das Opfer sein … oder sie sorgt dafür, dass das Ungeheuer nie wieder eines einfordern kann.
Sie sucht nach einer Stelle, von der aus man das Plateau gut einsehen kann, ohne selbst gesehen zu werden, und findet eine Felsnische. Es ist eng, aber sie will ja nicht die Ewigkeit hier verbringen.
Dort sitzt sie also … und wartet. Es ist ein angenehmer Sommerabend, und der Himmel hat ein klares, wundervolles Blau. In ihrem Inneren leuchtet es, und sie denkt, dass sie vielleicht nicht sterben muss.
Leon weiß, dass man sie schon vor einer Weile weggebracht hat. Deshalb reitet er wie der Teufel und betet wie ein Heiliger.
Die Bestie darf einfach nicht vor ihm dort ankommen.
Er kennt den Weg. Jedes Kind weiß, wo der Opferplatz ist.
Es war der Ort, wo man als Kind nie, unter keinen Umständen hin durfte, weil er tausendmal unheimlicher war als ein Friedhof, ein dunkler Keller oder die Stelle unter dem Bett.
Deshalb ist jeder Junge, den Leon kennt, einmal dort gewesen – ohne diese Mutprobe wird hier niemand erwachsen. Aber sie haben nie dort gespielt. Beim Anblick des Ortes will man ihn sofort wieder verlassen.
All das Böse, all die Angst und all das Leid, das dieser Ort in seiner Geschichte gesehen hat, liegen in der Luft, sie sind fast greifbar.
Er hatte wochenlang Alpträume nach seiner Mutprobe.
Wenn es nicht seine Pflicht wäre, würde er niemals an diesen Ort zurückkehren.
Sein Pferd ist schweißnass, aber er treibt es weiter an. Die Zeit ist knapp, er glaubt zu spüren, dass sie schneller verstreicht als sonst.
Wenn er zu spät kommt … er könnte es nicht ertragen.
In ihrem Versteck sieht Elmira einen kleinen Punkt in der Ferne. Er wird schnell größer, und bald erkennt sie den schlangenartigen Körper und die riesigen Flügel. Der Drache kommt.
Am blauen Himmel hinter der fliegenden Bestie sind jetzt ein paar weiße Wolken zu sehen. Sie bilden merkwürdige Muster, ein Seher könnte vielleicht ihr Schicksal herauslesen.
Und jetzt ist er da.
Elmiras Mund ist ausgetrocknet und erfüllt von einem metallischen Geschmack. Ihre Hände zittern, und ihr Magen schmerzt.
Aber ihr Inneres strahlt.
Der Drache hat seine Flügel zusammengefaltet. Jetzt kriecht er auf den spitzen Felsen zu. Er wirkt verwirrt, als er dort niemanden vorfindet.
Schnüffelnd kriecht er einmal um den Felsen herum.
„Ich weiß, dass du hier bist“, hört sie in ihrem Kopf. „Wo versteckst du dich?“
Trotz der Gefahr fällt es ihr schwer, ein Lachen zu unterdrücken. Doch sie konzentriert sich, zwingt sich, nur noch an die Worte zu denken, die sie nächtelang wieder und wieder gelesen hat und die jetzt ihre einzige Hoffnung sind.
Der Drache ist wütend. Er fühlt die Präsenz des kleinen Wesens, das ihm als Opfer zugedacht ist, ungewöhnlich stark sogar. Es muss ganz in der Nähe sein.
Doch es ist nicht zu sehen, und er kann auch die Gedanken des kleinen Dings nicht lesen. So etwas sollte überhaupt nicht möglich sein! Aber so ist es – im Augenblick weiß er nicht, wo das kleine Ding ist, obwohl er beinahe spürt, wie seine Augen ihn beobachten.
Dafür weiß er etwas anderes: Eine Kreatur, die ihre Gedanken vor ihm verschließen kann, ist kein gutes Opfer. Ein gutes Opfer ist panisch. Ein gutes Opfer kreischt und zappelt, bis es keine Kraft mehr dazu hat. Es wimmert um Gnade und hat viel zu viel Angst, um seinen Geist zu kontrollieren und andere daraus auszusperren.
„Dafür wirst du büßen, Menschenweibchen“, denkt er.
Es ist Wind aufgekommen, und inzwischen ist es kühler und dunkler als bei seiner Ankunft. Die Drachenaugen glühen, als er sich umsieht. Der Geruch des Opfers ist so nah … aber irgendetwas macht es ihm unmöglich, der Fährte zu folgen. Der Wind! Er wechselt ständig die Richtung, wie ein verrückter Tänzer.
Dunkle Wolken jagen über das Plateau, ihre Schatten gleiten über die Felsen. Der Drache hat nichts mit ihnen zu tun, doch sie passen gut zu seiner Stimmung.
Er fühlt den Kummer und die Angst, die Scham und die Selbstvorwürfe, die von den kleinen Dingern in der Ferne ausgehen. Aber er kann all das nicht richtig genießen, solange sein Opfer ein dummes Spiel mit ihm treibt und sich weigert, ihm Respekt zu erweisen.
Er hört ein fernes Donnern.
Als er den Kopf dreht, sieht er in der Ferne eine Staubwolke. Und davor erkennt er trotz der Dämmerung einen kleinen Punkt, der sich mit hoher Geschwindigkeit nähert. Und jetzt empfängt er Gedanken.
Seine Laune bessert sich augenblicklich.
Er kann nicht mehr zählen, wie oft er schon erwacht ist und einen Handel abgeschlossen hat. Es ist selten, aber manchmal hat er besonderes Glück, und etwas wie dies hier geschieht. Jemand kommt, um das Opfer zu retten.
Das hat ihm immer so viel Spaß gemacht.
Die kleine Staubwolke wird zwar nicht das respektlose Menschenweibchen retten, aber dafür rettet ihr Erscheinen ihm den Abend.
Auch Elmira sieht die Staubwolke, und es dauert nicht lange, bis sie erkennt, dass es sich um einen Reiter handelt. Und natürlich weiß sie auch, wer das ist.
Verschwinde von hier!, denkt sie verzweifelt. Ich will nicht, dass du stirbst!
Sie will rufen, dass er umkehren soll, aber das kann sie natürlich nicht. Wenn sie nicht still ist, wird die Bestie sie entdecken. Die Worte könnten ihr helfen, eine Botschaft zu senden, ohne ihre Stimme zu benutzen, aber sie weiß, sobald sie ihren Geist öffnet, um Leon zu warnen, lässt sie auch den Drachen hinein, und dann wird er wissen, wo sie ist.
Du hirnverbrannter Idiot!, denkt sie. Bis jetzt ist alles gut gegangen … und dann musste natürlich jemand kommen, um mich zu retten.
Sie atmet tief durch und konzentriert sich auf die Worte. Sie muss sich beeilen.
Der Drache kriecht ein wenig zur Seite, so dass er von dem Weg, auf dem der Reiter sich bewegt, nicht zu sehen ist. Offenbar plant er, Leon zu überraschen.
Es sieht aus, als ob er grinst.
Nun hat Leon das Plateau erreicht und steigt vom Pferd. Das Tier ist offensichtlich viel klüger als sein Reiter, denn es gerät in Panik und versucht wegzulaufen.
Als Leon sieht, dass Elmira nicht da ist, wird er kreidebleich. Und dabei hat er noch gar nicht bemerkt, dass das Ungeheuer direkt hinter ihm ist.
Die Worte, sie muss an die Worte denken!
Das Leuchten ist schwächer geworden. Das liegt an der Angst. Sie hat geglaubt, das würde nur geschehen, wenn sie Angst um sich selbst hat. Aber es ist offenbar dasselbe, wenn sie um jemand anderen fürchtet. Warum nur muss man solche Dinge immer ausgerechnet dann lernen, wenn es um Leben und Tod geht?
Bei allen Göttern … der Opferplatz ist leer.
Er ist zu spät gekommen. Sie ist tot.
Ein Schrei steckt in seiner Kehle, aber er gibt keinen Laut von sich. Dafür ist später noch Zeit. Im Augenblick kann er nur daran denken, dass der Drache vielleicht noch in der Nähe ist, und dass er Elmiras Tod rächen muss. Er wird die Bestie erschlagen oder bei dem Versuch sterben, und es wird so oder so das letzte sein, was er tut.
Leon zieht sein Schwert aus der Scheide und sieht sich um.
Der Körper des regungslos lauernden Ungeheuers ist graugrün wie die Felsen, und der Abendhimmel ist jetzt von dunklen Wolken verdeckt. Er erkennt es erst, als er direkt in die glühenden Augen starrt.
Eine Stimme in seinem Kopf sagt: „Willkommen.“
Und da stößt er doch einen Schrei aus.
Das kleine Ding hat beinahe seine Waffe fallen lassen, so sehr ist es erschrocken. Der Drache fühlt frisches, köstliches Entsetzen in seinem Geist.
Und er erkennt noch etwas anderes. Das neu hinzugekommene kleine Ding ist hier, weil es das Weibchen, das geopfert werden soll, liebt. Drachen kennen solche Gefühle nicht. Aber dieser ist alt und schlau und hat vieles gelernt. Er weiß, was dieses Gefühl bedeutet.
Wenn das kleine Ding sieht, wie das Weibchen stirbt, dann wird es mehr leiden als alle anderen. Das wird ein Fest! Er muss nur darauf achten, das es lange genug am Leben zu lassen.
„Du forderst mich heraus?“, denkt er.
„Ja!“, schreit das kleine Ding, und in seinen Gedanken betet es unentwegt zu den Göttern, die noch nie einem der Herausforderer geholfen haben.
„Ihr lernt es wohl niemals“, denkt der Drache.
Wolken jagen über sie hinweg, als der Kampf beginnt.
Die Unterseite der Bestie sieht am verwundbarsten aus. Die Schuppen dort sind heller und scheinen weicher zu sein.
Es ist gut, sich auf solche Gedanken zu konzentrieren, wenn man erkannt hat, dass man seine große Liebe nicht mehr retten kann und selbst todgeweiht ist. Mit einem Schrei, der aus seinem tiefsten Inneren kommt, stürzt Leon vorwärts und stößt mit dem Schwert zu.
Die Schuppen sind härter, als sie aussehen. Die Klinge rutscht ab und hinterlässt nicht mehr als einen Kratzer.
Er kann das Gelächter des Ungeheuers in seinem Kopf hören.
Es holt Luft, und Leon rennt, obwohl er weiß, dass er keine Chance hat …
Der Drache speit Feuer. Über seinen Kopf hinweg.
Er spielt mit ihm! Dieses verdammte Monster spielt mit ihm!
Leon dreht sich um, das Schwert so fest umklammert, dass alle Knöchel weiß hervortreten. Sein Herz schlägt schneller und lauter, als er es für möglich gehalten hätte.
Er versucht es erneut. Eine weitere kleine Schnittwunde am Bauch des Ungeheuers, und wieder Gelächter in seinem Kopf.
„Du wirst sterben“, denkt der Drache. „Und ich werde dir sehr weh tun.“
Aber jetzt ist es Leon, der beinahe in Gelächter ausbricht. Als ob nach Elmiras Tod ein anderer Schmerz noch von Bedeutung wäre.
Er braucht mehr Kraft. Er muss diese verdammten Schuppen durchdringen! Er betet, und er erinnert die Götter daran, dass dies wahrscheinlich sein letztes Gebet sein wird, bevor er sie persönlich kennen lernt.
Dann rennt er auf den Drachen zu, und rammt die Spitze seiner Waffe in seinen Unterleib.
Diesmal ist es mehr Blut. Er muss zur Seite springen, um dem Strahl auszuweichen. Das Zeug ist ätzend. Man sagt, ein Verrückter hätte einmal in Drachenblut gebadet, und es sei nur ein Schulterblatt von ihm übrig geblieben.
Dieses Mal hört er kein Gelächter in seinem Kopf. Der Drache brüllt vor Schmerz.
Ja! Gut! Er hat ihn verletzt! Es ist ihm gelungen … ihn wirklich wütend zu machen.
Diesmal versucht der Drache, ihn mit seinem Feuer zu treffen.
Es ist reines Glück, oder die Hilfe der Götter, die ihn davon kommen lässt. Nur sein Mantel ist leicht angesengt.
„Gut“, denkt der Drache. „Die Flammen sind zu gut für dich. Zu schnell.“
Er kriecht langsam auf Leon zu.
Das Schwert scheint immer schwerer zu werden.
Er ist erschöpft. Am Ende. Aber vielleicht hat er noch immer eine Chance, die Bestie zu töten. Er muss ein Stück zurückweichen, um mehr Anlauf zu haben, und versuchen, die Waffe in sein, finsteres, bösartiges Herz rammen.
Leon weicht einen Schritt zurück … und stolpert über einen Stein.
Oh nein, denkt Elmira. Warum stellt er sich nur so verdammt dämlich an?
Sie kann sich nicht konzentrieren.
Das Leuchten ist so hell, dass es beinahe schmerzt, aber jedes Mal, wenn sie auch nur einen Augenblick an Leon denkt und in welcher Gefahr er schwebt, scheint es für einen Moment zu flackern. Und nichts geschieht, so sehr sie sich auch anstrengt.
Sie schließt die Augen und denkt an die Worte, versucht zu vergessen, was gerade vor ihr geschieht.
Es ist ihre letzte Chance, ihr Leben zu retten … und das des Jungen, der an dieser Aufgabe gescheitert ist.
Der Drache ist jetzt nicht mehr langsam. Er ist schneller über ihm, als Leon sich aufrappeln kann. Die Vorderklauen greifen seinen Körper, und sein Kettenhemd und seine Kleidung werden durchbohrt. Er fühlt, wie sie in die Haut dringen.
Das ist also das Ende. Er hat versagt.
Rein instinktiv streckt er der Bestie sein Schwert entgegen, vielleicht kann er sie wenigstens noch einmal verwunden.
Dann kommt der Schmerz. Es ist so schlimm, dass Leon zuerst nicht einmal versteht, was passiert ist. Es dauert einen Moment, bevor er erkennt, dass der Schrei, den er hört, sein eigener ist.
„Du wirst verbluten“, hört er in seinem Kopf. „Aber das wird eine Weile dauern. Du hast noch genug Zeit, um mit anzusehen, wie dein Weibchen stirbt.“
Als er begreift, was der Drache meint, verliert er für einen Moment den Verstand.
Elmira muss noch am Leben sein. Er hätte sie retten können.
Er schreit und schreit und die Stimme in seinem Kopf teilt ihm mit, wie sehr der Drache das alles genießt.
Er hat seinen Arm abgebissen! Er hat einfach zugeschnappt, und das Schwert ausgespuckt wie eine lästige Gräte … Sie kann vor Zorn kaum noch atmen.
Leon wollte ihr das Leben retten, und jetzt liegt er dort und stirbt, weil dieses Monster seinen Arm abgebissen hat.
Der Drache sieht sich um, und sie hört, wie er darüber nachdenkt, wo sie sein könnte.
„Komm heraus“, denkt er. „Hör auf, dich zu verstecken, oder ich werde ihm noch mehr Schmerz zufügen.“
Bisher hat die Angst sie zurückgehalten. Aber jetzt ist ihr Zorn so stark, dass für die Angst kein Platz mehr bleibt. Elmira murmelt ein paar Worte, und sie wünscht sich, dass der Drache stirbt, mehr, als sie sich jemals irgendetwas gewünscht hat.
Die Wolken am Himmel sind jetzt so hoch und schwarz wie die Türme eines verfluchten Schlosses. Sie wiederholt die Worte. In ihrem Inneren wird das Leuchten immer größer, immer heller, bis es unerträglich scheint …
Sie sieht das Blut am Boden, und Leon, der zusehends bleicher wird. Sie sieht, wie der Drache sich umdreht, schnüffelt …
Und dann ist alles von dem blendenden, blauweißen Licht erfüllt, und unmittelbar auf den Blitz folgt der lauteste Donner, denn sie je gehört hat.
Als sie ihre Augen wieder öffnet, liegt der Drache am Boden, und die Luft riecht, als ob jemand den größten Misthaufen der Welt mit seltsamen alchemistischen Ingredienzien überschüttet und angezündet hätte.
Es regnet, in großen, platschenden Tropfen, aber es wird lange regnen müssen, ehe dieser Geruch verschwindet.
Sie ist nicht sicher, ob der Drache tot ist. Trotzdem verlässt sie ihr Versteck so schnell sie kann. Sie muss Leon helfen, er wird verbluten, wenn sie nicht schnell etwas tut. Zum Glück hat sie ein paar Mal gesehen, wie man Wunden verbindet. Es gab ein paar hässliche Verletzungen bei Turnieren und bei Jagdunfällen. Aber das hier ist viel, viel schlimmer. Das Biest hat seinen Arm … Elmira kann kaum hinsehen.
Wenigstens ist er bei Bewusstsein. Er ist bleich wie der Tod, und er redet zusammenhangloses Zeug, vor allem Zeilen aus irgendwelchen alten Gebeten, aber er lebt.
Sie reißt Streifen von ihrem Kleid ab. Es hat ihr ohnehin nicht richtig gepasst, und außerdem tun Mädchen das immer, um verletzte Krieger zu verbinden, es ist nicht unanständig, denkt sie zusammenhanglos.
Sie beeilt sich, aber da ist schon soviel Blut. Auf dem Boden, auf seiner Kleidung, auf ihren Händen … wie viel Blut hat ein Mensch überhaupt?
Jetzt ist es vorbei. Leon ist tot.
Er muss es sein, denn der Drache ist plötzlich verschwunden, und ein Engel beugt sich über ihn. Der Engel hat Elmiras Gesicht. Um sie herum leuchtet ein unirdisches weißes Licht.
Er hat kaum gewagt, darauf zu hoffen, dass sie sich im Jenseits wieder treffen, aber vielleicht haben die Götter beschlossen, ihn für seine Tapferkeit und seinen festen Glauben zu belohnen, obwohl er am Ende versagt hat.
Der Schmerz ist weit weg, wie eine alte Erinnerung, und das Licht ist wundervoll, und Elmiras Gesicht schwebt immer noch vor ihm … und sie schlägt ihm mit aller Kraft ins Gesicht und schreit seinen Namen.
„Leon! Du musst wach bleiben! Verdammt, du Idiot, du kannst mir jetzt nicht sterben. Nicht jetzt, wo es vorbei ist!“
Der junge Mann blinzelt.
„El- … Prinzessin?“
„Ja, ich bin es.“
„Du … und ich … wir leben noch, nicht wahr?“
Gut, er ist wieder da. Er ist immer noch schrecklich bleich, aber wenigstens redet er keinen Unsinn mehr.
„Ja, wir leben noch.“
„Und der …“
„Tot.“
Er blinzelt wieder.
„Die Götter haben eingegriffen?“
Elmira schüttelt den Kopf. Die Götter helfen denen, die sich selbst helfen, sagt man, aber sie ist nicht bereit, ihren Triumph mit ihnen zu teilen.
„Ich denke nicht, dass ich eine Göttin bin.“
Leons Gesicht verzieht sich zu einem entrückten Grinsen. „Oh, ich denke schon“, sagt er.
Ist das der Blutverlust, oder versucht, er, einen Witz zu machen?
„Es war Magie“, sagt Elmira.
„Das Gewitter? Das warst du?“
Für jemanden, der gerade beinahe verblutet wäre, begreift er wirklich schnell.
„Ja. Ich habe den Blitz gerufen.“
Sie ist nicht sicher, wie er das aufnehmen wird. Für einen frommen Jungen wie ihn ist es bestimmt ein Schock. Aber solange er nicht ohnmächtig wird, kümmert sie das nicht. Wenn er sie als Hexe beschimpfen will, wird sie das hinnehmen. Aber er schweigt.
„Ich wünschte, es wäre mir früher gelungen“, sagt sie. „Bevor … bevor er dir das angetan hat.“
„Mein Arm …“ Er sagt es ganz leise, und sie würde am liebsten anfangen zu weinen, weil es so hoffnungslos klingt. „Ich sterbe, nicht wahr?“
„Nein, du wirst nicht …“
„Ich liebe dich, Elmira. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, aber ich muss dir das sagen, bevor es zu Ende ist. Ich habe dich immer …“
„Leon, du … solltest nicht so viel reden. Du brauchst die Kraft noch. Wir müssen von hier weg. Ich helfe dir aufstehen.“
Zum Glück ist er nicht viel größer als sie, sonst würde sie es nicht schaffen. Irgendwie gelingt es ihr, ihn auf das Pferd zu hieven. Er hilft mit, so gut er kann.
Sie steigt hinter ihm auf, und dann trägt das Pferd sie weg von diesem Ort. Sie sind beide zu erschöpft, um sich noch einmal zu dem toten Ungeheuer umzudrehen. Ihre Körper zittern. Elmira friert, weil ihr Kleid dünn und vom Regen durchweicht ist, und noch dazu viel kürzer, seitdem sie den Verband daraus gemacht hat. Und Leon würde wahrscheinlich selbst dann zittern, wenn es warm wäre. Sie versucht, die Worte zu benutzen, um sich und ihn etwas zu wärmen, aber das Leuchten ist jetzt ganz schwach. So erschöpft wie sie selbst.
Sie reden nicht viel. Immer dann, wenn er glaubt, dass er es nicht bis nach Hause schaffen wird, sagt er ihr, dass er sie liebt.
„Ich weiß, Leon“, sagt sie jedes Mal.
Sie würde gern drei andere Worte sagen, um ihn glücklich zu machen, aber … sie glaubt nicht daran. Natürlich, sie wollte nicht dass er stirbt, aber sie will überhaupt niemanden sterben sehen. Das bedeutet doch nicht …
Und außerdem hat sie diese abergläubische Angst, dass er doch noch sterben könnte, wenn sie die anderen drei Worte sagt.
Es ist mitten in der Nacht, als sie das Schloss erreichen, aber niemand dort schläft. Die meisten Bewohner haben sich in dem kleinen Tempel versammelt und beten zu den Göttern. Weniger für das Seelenheil der beiden jungen Leute, von denen sie glauben, sie hätten den Tod gefunden, als vielmehr um Vergebung dafür, dass alle anderen noch leben.
Elmira ist entsetzlich müde. Sie weiß, dass es den Menschen schwer fallen muss zu glauben, dass sie und Leon keine Gespenster sind, aber trotzdem reißt ihr bald der Geduldsfaden.
Sie hätte nicht geglaubt, dass sie noch die Kraft hat, so laut zu schreien.
„Leon ist verletzt! Holt einen Heiler! Einen, der sein Handwerk versteht!“
Endlich läuft jemand los.
„Das habe ich schon schneller gesehen“, ruft sie hinterher, und ein Teil von ihr ärgert sich darüber, dass ihre Stimme sich überschlägt.
Menschen drängen sich um sie, bestürmen sie mit Fragen, wollen sie alle gleichzeitig berühren. Nur das hindert sie daran, im Stehen einzuschlafen.
Nachdem endlich der Heiler aufgetaucht ist und sich um Leon gekümmert hat, bleiben nur noch Elmira, ihre Eltern und Oren bei ihm.
Er ist noch immer bei Bewusstsein. Das hätte sie wirklich nicht erwartet.
Ihr Vater ringt lange um Worte, bevor er spricht.
„Vergib mir“, sagt er schließlich. „Ich hätte dir vertrauen und dich unterstützen müssen. Was du für meine Tochter auf dich genommen hast, kann ich niemals wieder gut machen.“
„Herr, ich habe nichts getan“, sagt Leon mühsam. Er ist kaum zu hören.
Sigon scheint fassungslos. „Du hast den Drachen erschlagen! Du bist der größte unter meinen Kriegern!“
Eigentlich müsste Leon längst eingeschlafen sein. Der Heiler hat ihm ein starkes Schmerzmittel gegeben. Aber er klammert sich ans Bewusstsein. „So war das nicht. Elmira hat …“
Sie ist gerührt. Jeder andere Mann wäre froh darüber, wenn man ihn für den tapferen Retter hielte. Die meisten würden nach kurzer Zeit selbst glauben, ein Held zu sein. Ein tapferer Retter darf die überschüssige gerettete Prinzessin heiraten, und sie weiß, dass Leon sich nichts sehnlicher wünscht. Außerdem bekommt ein Drachentöter halbe Königreich, aufgrund eines alten Gesetzes, dessen Einhaltung das Konzil der Magier sicher einfordern wird, auch wenn es Elmira auf lange Sicht keine besonders kluge Politik zu sein scheint.
Und trotzdem versucht Leon zu sagen, was wirklich geschehen ist. Er ist so ehrenhaft … so furchtbar ehrenhaft, das man ihn für verrückt halten wird. Ein Wahnsinniger darf sicher keine Prinzessin heiraten, auch wenn sie überschüssig ist.
Ein Teil von ihr wünscht sich, dass es alle erfahren. Sie sollen hören, welche Macht sie besitzt. Wie stark und mutig sie war. Dass sie diejenige ist, die jemanden gerettet hat.
Aber wer wird das glauben? Sie würden es sehr bedauern, dass Leons Verstand bei dem Kampf gegen die Bestie Schaden genommen hat. Sie würden dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlt, wenn sie ihn wegsperren.
Und Elmira würde vermutlich als Ehefrau von Herzog Tarik enden, dessen letzte Gemahlin unter mysteriösen Umständen von einem Turm gefallen ist. Wenn dagegen alle die Geschichte glauben, an die sie glauben wollen, dass Leon ein Held ist, der ein hilfloses Mädchen beschützt hat, dann würden sie heiraten, und sie bekämen die Hälfte des Königreichs.
„Elmira hat …“ versucht Leon noch einmal zu sagen.
Und da beschließt sie, ihn noch einmal zu retten. Und sich selbst auch. Sie denkt ein Wort, und trotz ihrer Erschöpfung kehrt das Leuchten zurück. Eine kleine, nicht besonders helle Flamme, aber mehr als genug.
Wenn du mich wirklich liebst, dann sei jetzt still, denkt sie, und sie weiß, dass er sie gehört hat. Es gibt nichts, womit man Leon besser zum Schweigen bringen könnte.
Endlich übermannt ihn der Schlaf. Er hört nicht mehr, wie der König und seine Frau bedauern, dass er wohl den Beinamen „der Einarmige“ bekommen wird, und nicht mehr, wie Oren eilig versichert, dass die Tradition der Teilung des Königreichs natürlich gewahrt bleiben soll.
Aber bevor er einschläft, merkt er noch, dass Elmira ihn auf den Mund küsst, und er hört, wie sie denkt Eines Tages werde ich dich auch lieben.
Und eines Tages wird es die Wahrheit sein.