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Wahre Liebe
"Ich könnte stundenlang hier sitzen." seufzte Lara und sah ihren Begleiter an. Andre nahm einen kleinen Schluck aus der heißen Espressotasse und nickte. Das Paar saß in dem gut gefüllten, schicken Ausflugslokal. Beide waren elegant gekleidet, hatten aber etwas Staub vom Spaziergang auf dem Kiesweg entlang des Flußufers an den Schuhen.
"Man nimmt sich viel zu selten Zeit für so etwas." sagte er gedankenverloren. Er betrachtete die langen Beine seiner Freundin, die von den hohen Schuhen herrlich betont wurden. Der kurze Rock und das enge Oberteil sahen sehr sexy aus, aber in keiner Weise billig. Diesen Drahtseilakt beherrschen nur wenige Frauen, dachte er. Auch während des Spaziergangs am Flußufer hatte sie trotz hoher Schuhe auf dem schlechten Weg einfach nur elegant gewirkt. Die neidischen Blicke der Männer, deren Frauen den Sonntagsausflug in Jeans und Turnschuhen bequemer fanden, hatte er genossen. Angeregt hatten sie miteinander geplaudert und waren dann in der Nähe der alten Fähre eingekehrt. Von der Terasse des Cafes hatten sie einen herrlichen Ausblick über den Fluß und auf die gelben Rapsfelder. Die Sonne schien, ein spürbarer Windzug machte die Wärme erträglich. Ein perfekter Sonntagnachmittag mit einer perfekten Frau. Er wußte, er war verliebt.
Jetzt sahen sie wieder gemeinsam über den Fluß und genossen das Dasein. Andre holte tief und entspannt Luft, nahm ihre Hand und gab ihren Fingern einen leichten Kuß. Sie bedankte sich mit ihrem reizenden, kleinen Lächeln. "Möchtest Du noch einen Kaffee oder ein Glas Wein?" erkundigte er sich. "Einen Kaffee." sagte sie. "Ich würde gerne noch ein wenig mit Dir hier sitzen." Dann schwiegen sie wieder für eine Weile. Eine der Eigenschaften, die er besonders an ihr mochte war, daß sie mit ihm schweigen konnte, ohne daß eine peinliche Stimmung aufkam. Die Menschen um sie herum unterhielten sich und lachten gedämpft. Ein kultiviertes Publikum.
Mit einem raschen Blick sah er auf die Uhr und ärgerte sich selbst dafür, denn er wollte Lara nicht verletzen. Schuldbewußt sah er in ihre sanften Augen, aber sie hatte es nicht bemerkt. Oder sie wollte ihm einfach das Gefühl geben, sie hätte es nicht bemerkt. Andre gab ihr noch einen Kuß auf die Hand. Das war alles, was er tun konnte. Wieder das bezaubernde Lächeln. er griff nach ihrer Hand und hielt sie unter dem Tisch fest.
Ihr Gesicht war nicht so puppenhaft schön, wie man es jetzt oft im TV oder auf den Titelseiten sah. Aber es war gut geschnitten und dezent geschminkt und hatte etwas an sich, daß einen Mann zweimal hinsehen ließ. So hatten sie sich auch kennengelernt. Er wollte nach einem mit Besorgungen angefüllten Vormittag in der City eine schnelle Pizza aus der Hand essen. Sie stand direkt hinter ihm in der Schlange und als sei es das normalste der Welt, eine fremde, attraktive Frau anzureden, waren sie ins Gespräch gekommen. Andre hatte bemerkt, wie sie zunächst vorsichtig seine ersten Worte abschätzte. Schnell hatte sie die Schublade mit der Aufschrift "Dumme Anmache" wieder geschlossen und sich locker und entspannt mit ihm unterhalten. Von der Qualität der schnellen Pizza waren sie auf ihre beiderseits vorhandene Vorliebe für Slow-Food gekommen. Ihr hatte gefallen, daß er sich ohne weiteres über ein "Frauenthema" unterhalten konnte und ihn ihr noch sympathischer gemacht. Als sie auch noch feststellten, daß beide ihre Mittagspausen in den gleichen Gaststätten verbrachten, hatten sie sich für den kommenden Montag verabredet. Alles weitere hatte seinen Lauf genommen. Sie trafen sich des öfteren, irgendwann auch zuhause, hatten offen miteinander geredet.Lara hatte ihm von ihrem langjährigen Freund erzählt, von dem sie sich vor einigen Monaten getrennt hatte. Andre hatte seine Frau nicht verheimlicht. Er nahm das Risiko auf sich, daß ihr Herz vielleicht noch zum einem kleinen Teil bei ihrem Ex war. Sie konnte akzeptieren, daß er seine Frau regelmäßig sah.
Als der Kellner auf einen kurzen Wink hin erschien, bestellte Andre noch eine Tasse Kaffee für Lara und für sich einen Ramazotti. Den brauchte er für das, was er noch vorhatte. Lara nahm es zur Kenntnis. Die Umstände verboten ihr ein Stirnrunzeln.
Händchenhaltend tranken sie in scheinbarer Ruhe aus, unterhielten sich über den geplanten Urlaub im Piemont und sahen einander verliebt an. Schließlich bestand Lara darauf, zahlen zu dürfen. Andre überließ ihr die Rechnung. Er würde eben das nächste Essen zahlen und wußte, daß es für sie eine Freude war, wenigstens auch mal eine kleinere Rechnung zu begleichen und ihn einladen zu können. Er dankte ihr mit einem Streicheln über die Schulter und sie gingen zum Wagen.
"Bis bald." sagte Lara, jetzt doch ein wenig Traurigkeit in den Augen. Sei beugte sich zu Andre hinüber. Er streichelte mit dem Handrücken zärtlich über ihre Wange. "Ich freue mich darauf." entgegnete er und sie wußte, daßes nicth bloß eine Phrase war. Noch immer hielt Lara ihm den Mund entgegen und wartete geduldig. "Bitte..." sagte Andre und konnte sie dabei nicht ansehen. Sie nickte und stieg aus. Er sah ihr noch einen Moment sehnsüchtig nach und fuhr dann weiter.
Andre mußte diesmal ein ganzes Stück weit entfernt vom Hospiz parken. Der Fußweg tat ihm aber gut. Er half ihm, seine Fassung wiederzugwinnen. "Guten Tag, Schwester Gabriela!" grüßte er die Nonne, die wie immer in der Pförtnerloge saß. Sie sah auf und lächelte ihn an. "Guten Tag, herr Schneider! Ihre Frau wird sich freuen, sie zu sehen."
Andre stieg die breite Treppe in den ersten Stock hoch. Das Treppenhaus roch nach Bohnerwachs und Kampfer. Auf der Station begrüßte ihn eine weitere Nonnenschwester, diesmal nicht so fröhlich. "Ihre Frau hatte heute morgen einen starken Schub." Sie sprach leise und einfühlsam mit ihm. "Sie sollten in den nächsten Wochen mit dem Schlimmsten rechnen, Herr Schneider." Andre schluckte und konnte nichts sagen. Nach so vielen Jahren! Tränen stiegen ihm in die Augen, aber er lächelte. "Ich begleite sie zu ihrer Frau." bot sich die Schwester an. Er nickte stumm, denn er war frohum eine Stütze. Der Anblick seiner Frau nach einem Schub der hinterhältigen Krankheit belastete ihn immer sehr.
Eine Lernschwester war bereits im Zimmer seiner Frau und reinigte Spiegel und Waschbecken. Sie vermied es offensichtlich, die zusammengekrümmte Frau in dem Bett anzusehen. Andre ging mit festem Schritt auf das Bett zu. Seine Frau Ruth lag seit so vielen Jahren in diesem Bett! Ihr Körper hatte sich immer mehr zusammengezogen. Was von den Knochen übriggeblieben war, bildete sich scharf durch die dünne Haut ab. Er ging vor dem Kopfende in die Hocke. Die Augen in dem haarlosen Totenschädel begannen zu strahlen, ein Mundwinkel zuckte. Andre begann zu weinen, nahm den Schädel vorsichtig in die Hände und bedeckte die eingefallenen Wangen und den rissigen Mund mit Küssen.
"Ich schäme mich so!" flüsterte er.