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Wahre Liebe

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03.09.2003
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Wahre Liebe

Wahre Liebe

Schon seit 179 Minuten sitze ich in diesem geschmackvoll in dezentem grüngelb gestrichenen Wartezimmer! Die Bilder von Pablo Klecks habe ich mittlerweile ausführlich studiert ohne hinter ihnen auch nur im Entferntesten einen Sinn zu entdecken; die Zeitschrift „Frau im Bilde“ Ausgabe 8 kann ich auswendig. Meine Hosentaschen quellen über von vollgerotzten Papiertaschentüchern. Meine Augen liegen wie zwei heiße kleine Kugeln in ihren Höhlen. Die Nase läuft nicht nur, sie rennt förmlich! Sie bildet mit ihrem tiefen Rotton einen auffälligen Kontrast zum restlichen Gesichtsfeld. Ich greife in meine Handtasche und fingere das 24 Hustenbonbon Marke „Rachenwohl“ an diesem Morgen hervor. Wie ich diese Bonbons hasse: Widerlich süß vom ersten bis zum letzten Augenblick, zu allem Überfluss noch mit einem angeblich so gesunden Honig-Kräuter-Sirup in der Mitte. Aber was tut man nicht alles! Ist der Arzt eigentlich überhaupt noch in der Praxis??! Schon Ewigkeiten ist niemand mehr aufgerufen worden. Klar, ich habe keinen Termin, so einen Erkältungs-Supergau kann man ja nicht schon fünf Wochen vorher vorhersehen! Warum bleiben alle Patienten immer so lange beim Doktor – nur ich bin immer innerhalb von 145 Sekunden „abgearbeitet“?! Das habe ich noch nie verstanden!

Langsam steigt eine nicht geringe Wut in mir hoch – weshalb sitze ich hier eigentlich? Wer oder was ist schuld an meinem beklagenswerten Zustand? Ich erinnere mich an Sonntag abend: Da war ich mitten in der wohl kältesten Nacht seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen noch einmal aus der kuschelig warmen Wohnung auf die Straße gehetzt. Als ich gerade ins Bett gehen wollte fiel mir der abgefallene pinkfarbene Post-it-Zettel auf dem Fußboden unter dem Garderobenspiegel auf: „Geld für Schatz abheben!“. Scheiße! Wozu verteile ich denn für jede Kleinigkeit pinkfarbene Klebezettel in der ganzen Wohnung, wenn diese im Ernstfall ihren Auftrag doch nie erfüllen oder jedenfalls erst dann, wenn es fast zu spät ist? Wie oft schon habe ich beim großen Wohnungsreinemachen solche Versager hinter Schränken und Kommoden hervorgeholt!

Aber – wir leben ja im Zeitalter der Plastikkarten, PIN-Nummern und Automaten. Schnell riss ich den Mantel vom Garderobenständer, stopfte das Portemonnaie in die Hosentasche – Schuhe und Schal noch, Quatsch – brauche ich nicht, der Geldautomat ist schräg gegenüber von unserer Wohnung, es dauert nicht lange. Also, die Schlüssel noch und ich polterte nicht gerade mietshausfreundlich die Holztreppen hinunter. Als ich über den Spielplatz flog, der mich noch von dem Automaten trennte, macht sich ein Pantoffel selbständig. Ich suchte im Sandkasten, da war er auch schon. Weiter ging’s, doch - es war nicht zu fassen: Zu dieser Zeit (22:47 Uhr) war ich nicht die einzige, die in Geldnöten steckte – Herr Kloppowski-Müllenberger von Haus Nr. 13 stand einer raschen Erledigung meines Vorhabens im Wege. Schon nach 7 Minuten verließ er zufrieden grunzend den Automaten, eingepackt in seinen Wintermantel mit 20-m-Schal und dicker Pudelmütze. Ich war dran. PIN-Nr.? Nein – die von der neuen Karte hatte ich noch nicht im Kopf. Also – die Kreditkarte muss dran glauben. Endlich hatte ich das Geld. Schatz brauchte es doch so dringend. Er selber kam nicht dazu, das Geld abzuheben, da er sich noch auf einer Betriebsfeier befand und morgen bereits vor der Frühschicht den Wagen aus der Werkstatt abholen wollte.

Als ich das Geld schnell wegpackte merkte ich erst – meine Zehen waren vor Kälte ganz taub, den Mantel hatte ich auch weit offen stehen, die Haare waren noch nicht wieder ganz trocken. Abhärtung ist alles, dachte ich noch so in meinem nicht mehr ganz so jugendlichen Leichtsinn, als ich bibbernd wieder in unsere Wohnung ging.

„Frau Schnippenmeyer bitte“, tönt es in mein Unterbewusstsein, während ich noch in Gedanken Ursachenforschung betreibe. Das Wartezimmer ist inzwischen leer, ich bin natürlich die letzte, die aufgerufen wird. Aber ich sollte schon eine Stunde bevor der Doktor überhaupt die Praxis betrat „vorbeikommen“, damit ich ohne Termin nicht so lange warten muss...

 

Hallo,

dies ist meine erste Rezension seit langem, also erwarte bitte keine Wundertaten. Deine Kurzgeschichte gefällt mir jedenfalls bis auf kleinere Ausnahmen gut. Dies liegt zum einem an einer Protagonistin die durch eine geradezu reizende, geradezu symphatische Schrulligkeit besticht. Zum anderen liegt es daran, dass du die Schrulligkeit der Protagonistin scheinbar gezielt durch Worte wie "Pablo Klecks" etc. herausstellst.

Trotz allem sind mir einige Fehler(chen) aufgefallen:

Ist der Arzt eigentlich überhaupt noch in der Praxis??!

Hätte es ein einfaches Fragezeichen nicht auch getan?


Schon seit 179 Minuten sitze ich in diesem geschmackvoll in dezentem grüngelb gestrichenen Wartezimmer!

Genau seit 179 Minuten? Hat sich die Protagonistin auch nicht verzählt und es waren in Wirklichkeit 180 oder doch nur 178 Minuten?


Wie oft schon habe ich beim großen Wohnungsreinemachen solche Versager hinter Schränken und Kommoden hervorgeholt!

"Wie schon so oft" hört sich weitaus eleganter an und ist auch allgemein gebräuchlicher.

Warum bleiben alle Patienten immer so lange beim Doktor – nur ich bin immer innerhalb von 145 Sekunden „abgearbeitet“?!

145 - siehe oben...

Aber – wir leben ja im Zeitalter der Plastikkarten, PIN-Nummern und Automaten. Schnell riss ich den Mantel vom Garderobenständer, stopfte das Portemonnaie in die Hosentasche – Schuhe und Schal noch, Quatsch – brauche ich nicht, der Geldautomat ist schräg gegenüber von unserer Wohnung, es dauert nicht lange

Schon mal etwas von Punkt und Symikolon gehört?

Als ich das Geld schnell wegpackte merkte ich erst – meine Zehen waren vor Kälte ganz taub, den Mantel hatte ich auch weit offen stehen, die Haare waren noch nicht wieder ganz trocken.

Reichlich unlogisch, besonders bei klirrender Kälte...
Passt trotz der mangelnden Logik ganz gut zur Schrulligkeit.


Okay, das war's erstmal. Nette Geschichte, würde mich freuen, wenn du über meine Geschichte "Die Flüßen fließen zurück in die Vergangenheit" guckst und sie ggf. rezensierst.

Danke

FrozenFire

 

Hallo Julchen,

süße Geschichte, mußte öfter schmunzeln!

Nur eine Stelle ist mir nicht ganz klar:

Als ich das Geld schnell wegpackte merkte ich erst ....

WAS merkte sie erst? Denke, Du hast da was vergessen.

Ansonsten - niedlich!

VG

Petra

P.S.: Bei mir brauchst Du auch nix zu rezensieren! ;)

 

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