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Wahre Helden
Also stand es fest. Noch höchstens 10 Stunden. Die Erschießungen fanden grundsätzlich 06.00 Uhr morgens statt. Ronny schätzte die aktuelle Uhrzeit auf 20.00 Uhr, und sein Zeitgefühl war gut trainiert. Allerdings hatte er schon seit Wochen kein Sonnenlicht mehr gesehen, das Fenster war zugemauert. Sein einziger Anhaltspunkt für eine Zeitbestimmung waren die alle zwei Tage stattfindenden Besuche der Wache. Waschen, prügeln, füttern - der Ablauf war stets der gleiche. Das Essen war selbstredend seinen Namen nicht wert, Ronny schätzte seinen Gewichtsverlust auf mindestens 40 Kilo. Doch das würde spätestens morgen früh nicht mehr sein Problem sein.
So, das war es also. So weit hast du es gebracht, du Held. Das wolltest du ja immer sein. Ein Held! Hat dich jemand nach deinem Namen gefragt, seit du hier bist? Wird auch nur eine Menschenseele Notiz von deinem Abgang nehmen? Deine Eltern halten dich mit Sicherheit schon seit Monaten für tot. Ob dein Bruder und der Rest der Einheit noch lebt, ist ungewiß. Aber selbst wenn, wie lange habt ihr euch in den letzten Jahren dafür Zeit genommen, den Gefallenen nachzutrauern? Ein förmlicher Abschiedsappell, meist eine Beisetzung ohne Leichnam, dafür mit Fahne, ein paar Schuß Salut - das war´s. Weiter wie gewohnt. Du bist schon tot, nur der organische Ablebevorgang muß noch abgeschlossen werden. Aber keine Bange, morgen ist es endlich soweit. Ende des Kapitels.
Da war sie wieder, die nervende Stimme in seinem Schädel. Sein einziger Gesprächspartner seit Wochen. Und beileibe kein angenehmer.
Leck mich! dachte Ronny. Noch ist nicht aller Tage Abend. Zumindest bleibt mir noch die Chance, mit einem Paukenschlag abzutreten. Hast du etwa die Bombe in meinem Backenzahn vergessen? Die Schneidezähne haben sie mir komplett ausgeschlagen, aber nicht die Backenzähne. Nicht die! Das wird ein Schlachtfest. Am besten warte ich, bis ich im Hof stehe, die Explosion dürfte ein riesiges Loch in den gesamten Trakt reißen. Und in die Außenmauer. Vielleicht können ja ein paar glückliche Hunde abhauen. Man wird sich an mich erinnern, verlaß dich drauf!
Das größte Problem mit seinem Diskussionspartner war, daß er auf das gleiche Wissen wie Ronny zurückgreifen konnte.
Soso, ein großer Knall also. Hmmhmm. Die Bomben wurden modifiziert, als deine Einheit für die Herreise das Kampfschiff betrat. Du erinnerst dich doch? Die ´Berserker´. Das fette Angriffsschiff mit dem paranoiden Kapitän. Die Wirkung wurde herabgesetzt, damit ein einzelner Amokläufer nicht eine ganze Sektion wegsprengen kann. Kannst du dich vielleicht daran erinnern, daß diese Maßnahme wieder rückgängig gemacht wurde? Und erzähl` mir keine Märchen, in deinem Gedächtnis finde ich nämlich nichts.
Ronny stand an der Wand, hinter welcher er die Freiheit vermutete. Er müßte nur ein kleines Loch hineinsprengen, der sichere Wald war höchstens 70 Meter entfernt. Ja, die Bombe war in ihrer Wirkung größtenteils entschärft worden, doch für diese Wand würde es noch reichen. Leider gab es keine Möglichkeit der Fernzündung. Ronny hatte es schon endlose Male im Geiste durchgespielt. Die Bombe wurde durch eine bestimmte Abfolge von Druckveränderungen gezündet. Einfach dreimal zubeißen, beim dritten Mal den Druck genau 5 Sekunden aufrechterhalten und dann gehenlassen. Falls eine Selbsttötung unvermeidlich werden sollte. Er würde es auch durch Fingerdruck machen können, den ausgeschlagenen Zahn mit dem ausgestreckten Arm weghaltend. Diese Möglichkeit war jedoch keine. Die Wucht würde ihn aus dieser Nähe K.o. schlagen, mit Sicherheit. Auch war sein Körper schon zu geschwächt, um den zu erwartenden Blutverlust noch hinnehmen zu können. Denn den Arm würde er unweigerlich verlieren. Dieser Umstand hatte ihn schon die ganze Zeit von der Flucht abgehalten. Er hatte nur noch diesen einen Arm, der andere lag samt Schulter auf dem Schlachtfeld. Die Panzerung hatte nämlich doch nicht gehalten. Ganz ohne Hände würde er niemals durchkommen. Ronny konnte zwar ab und zu Detonationen von Artilleriegeschossen hören, doch die waren mindestens 30 Kilometer entfernt. Die eigenen Truppen waren demzufolge noch gute 50 Kilometer weit weg. Ein Marsch durch den unwegsamen Wald, in dem es zweifellos von feindlichen Truppen nur so wimmelte, würde zwei bis drei Tage dauern. Wie sollte er sich ernähren? Wasser aus Pfützen trinken, das ginge vielleicht. Auch wie ein Tier mit den Zähnen den Boden nach Würmern und Maden durchwühlen, das ginge eventuell auch noch. Aber spätestens bei der Notwendigkeit einer Verteidigung wäre Schluß mit lustig. Bei seinem Absturz hatte er die Dichte der feindlichen Reihen eindrucksvoll studieren können. Falls diese Alternative überhaupt einmal andenkbar gewesen sein sollte, so war dies gleich nach seinem Eintreffen in der Kerkerburg gewesen. Nun hatte er zu lange gewartet.
Ronny schaute sich in dem kleinen Raum um. Der Drang nach Flucht wuchs in ihm minütlich. Er war sich sicher gewesen, sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Doch dann kam diese Stimme. Diese penetrante, besserwisserische Stimme! Es war der Teil seines Verstandes, der sich nicht täuschen ließ, immer die Argumente aufgriff, die Ronny bewußt ignorierte. Wollte er etwas nicht erkennen, rieb die Stimme es ihm unter die Nase; wollte er etwas planen, wer kannte alle Gegenargumente? Ich will fliehen! Nein, das kannst du nicht. Dann bleibe ich halt hier! Nein, das willst du nicht. Anfangs hatte Ronny gehofft, die Stimme würde ihm weiterhelfen. Er würde einen Plan entwerfen, und die Stimme würde ihn überprüfen. Dann würde er den Plan verbessern. Die Stimme würde wieder etwas zum nörgeln finden. Doch irgendwann würde sein Fluchtvorhaben ausgereift sein, und dann wäre er weg! Doch weit gefehlt. Auch wenn er einen Gesprächspartner hatte, so teilten sie sich das gleiche Wissen - und eben auch das gleiche Unwissen. Letzten Endes redete er einfach nur mit sich selbst. Neue Erkenntnisse würde er hieraus nicht gewinnen können. Ergo machte seine Persönlichkeitsspaltung nur das Denken schwerer. Und das Schlafen. Denn vorrangig dann, wenn er gerade einschlafen wollte, meldete sich sein zweites Ego zu Wort.
In den letzten Tagen war es jedoch in seinem Kopf etwas ruhiger geworden. Es hatte sich schlichtweg nichts Diskussionswertes ereignet. Bis zu dem Zeitpunkt, als Ronny von seinem nahen Ende erfuhr. Als die Wachen ihn das letzte Mal besucht hatten, hatte er einen flüchtigen Blick in den Flur werfen können. Eine Unaufmerksamkeit der sonst peinlich genauen Soldaten. Am Eingang jeder Zelle befand sich ein Metallschild. In dem Schild befand sich eine Drehscheibe eingebaut. Diese war in drei Farben unterteilt. Sie war ihm schon aufgefallen, als er nach seiner Ankunft in die Zelle verbracht worden war. Die Wachen hatten ihn gerade aus dem Transporter gezerrt, als er das erste Mal nach dem Aufschlag das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Kaum das er festgestellt hatte, daß seine Beine noch heil waren und er noch stehen konnte, hatte man ihn durch ein großes Tor in den Burghof geprügelt. Dort war er kraftlos zusammengebrochen. Die Wachen hatten darüber beraten, ob sie ihn nicht gleich erschießen sollten. Immerhin sah es für sie nicht so aus, als könne ein Mensch in seiner Verfassung noch allzu lange weiterleben. Am anderen Ende des Hofes hattee Ronny damals einige andere Gefangene erkennen können. Es waren nur noch aufrecht stehende Gerippe gewesen, als Menschen kaum noch erkennbar. Scheinbar handelte es sich um Rebellen. Vielleicht auch um gefangengenommene Aufklärer, die schon Wochen vor den Landungstruppen die feindlichen Stellungen sabotieren sollten. Während er dagelegen hatte und vor sich hinblutete, hatte er beobachten können, wie diese Frauen und Männer ihre letzten Gespräche führten oder einfach nur regungslos in den blauen sonnigen Himmel starrten. Das Erschießungskommando verrichtete seine Arbeit noch während sich seine Wächter stritten. Dieser Umstand hatte sein Leben verlängert. Als seine Wachen die Schüsse hörten, waren sie verstummt. Einer hatte ihn hochgezerrt und ihm zynisch gratuliert. Und dann in das Hauptgebäude abgeführt. Er war im Erdgeschoß untergebracht worden, am Ende eines circa 30 Meter langen Flures. Alle zwei Meter befand sich beiderseits eine Zellentür. Und am Türrahmen befanden sich die besagten Schilder. Die vordersten Zellentüren standen offen, aus dem Inneren war ein erbärmlicher Gestank gedrungen. Die Drehscheiben standen auf rot. Als man ihn in seine Zelle warf, stand die Drehscheibe auf weiß und man drehte sie auf blau. Weiß hieß also leer, blau hieß belegt. Rot hieß offensichtlich Zelle wird geräumt. Und gestern war seine Scheibe auf rot gedreht worden. Nahrung hatte es auch keine mehr gegeben.
Fliehen wollte Ronny vom ersten Tag an. Doch der Gedanke allein reichte hierfür nicht aus. Er brauchte eine erkennbare Chance. Die ersten Tage verbrachte er mit dem sinnlosen Versuch, wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Die Nahrung reichte einfach nicht aus. Oh ja, wenn er sich genetisch hätte anpassen lassen, dann vielleicht... Aber das hatte er nun mal regelmäßig ausgeschlagen. Zumindest hatte der spontane Wundverschluß funktioniert, diese Modifikation war ihm seinerzeit noch als zumutbar erschienen. Auch sorgte sein veränderter Stoffwechsel für eine effektive Verwertung der spärlichen Nahrung. Ohne diese Vorteile wäre er längst gestorben. Doch es wuchs ihm kein neuer Arm, die Muskeln wurden schwächer und nicht stärker. Statt dessen lief die Zeit gegen ihn. Also hatte er die restliche Zeit mit Nachdenken verbracht. Offensichtlich hatte er sein Gehirn dabei etwas überfordert, denn alles was es liefern konnte, war ein neuer Untermieter hinter seiner Stirn. Die nervenaufreibende Stimme mit vielen Fragen ohne Antwort.
Es führten nur zwei Wege aus der Zelle. Weg Nummer 1 war die Zellentür an sich. Draußen befand sich ein langer Gang mit einem breiten Tisch an seinem Ende. Auf dem Tisch befand sich ein Maschinengewehr. Hinter dem Tisch stand ein Stuhl. Und auf dem Stuhl saß ein Wachsoldat. Selbst wenn dieser bei Ronnys Fluchtversuch schlafen sollte, die Explosion der Minibombe würde ihn schon wecken. Und eine andere Möglichkeit, die Tür zu öffnen, bestand definitiv nicht. 30 Meter den Flur hinunter - keine Chance. Weg Numero 2 schien noch aussichtsloser zu sein. In der Mitte der Zelle befand sich ein Gitter. Das Gitter war grobmaschig, denn im Gegensatz zu Ronny selbst sollte doch etwas anderes jederzeit die Zelle verlassen können. So konnte man auf eine Naßtoilette in den Zellen verzichten. Der Abguß war ihm sofort aufgefallen, denn so widerwärtig die daraus aufsteigenden Gerüche auch waren, irgendwie wirkte die Drainage doch verlockend. Das Rohr war nämlich ziemlich groß. Ronny schätzte es auf gute 50 Zentimeter. Doch erstens war Ronny bei seiner Ankunft selbst dafür zu breit gewesen, zweitens war er mit Sicherheit nicht der erste, der an diese Fluchtmöglichkeit gedacht hatte. Also hatten die „Burgherren“ sich etwas einfallen lassen und eine Verengung aus Metall unter das Gitter geschweißt. Diese ließ nur noch knappe 15 Zentimeter Durchmesser übrig.
Obwohl er den Sekundärausgang schon längst abgeschrieben hatte, blieb Ronnys Blick nun doch daran hängen. 40 Kilo Gewichtsverlust. Kein anderer Weg nach draußen.
Na, woran denkst du denn jetzt? Willst wohl nun doch deinen Verdauungsprodukten folgen? Schau dir das Loch ruhig an. 15 Zentimeter, da paßt ja nicht einmal dein dämlicher Schädel durch. Und schon gar nicht dein Oberkörper, auch wenn nur noch eine Schulter samt Arm dran hängt. Vergiß es, du Pfeife!
Ronny ging einen Schritt auf die Öffnung im Boden zu, kniete davor nieder.
Die Metallabdeckung ist zu eng, aber die Röhre darunter ist breit genug für mich. Das Gitter habe ich schon losbekommen, auch wenn es noch an den Scharnieren hängt. Ansonsten hätte es schon längst einer Wache den Schädel gespalten. Über den Flur geht es nicht, die Mauer bekomme ich auch nicht gesprengt. Aber vielleicht die Abdeckung.
Ronny fing nachdenklich an, den Backenzahn mit der integrierten Minibombe zu befingern.
Oh, bist du blöd! Ob du nun die Mauer wegsprengst oder die Metallplatte, dein Arm ist in jedem Fall hin. Die Wache wird in 15 Sekunden hier sein und deiner jämmerlichen Existenz schon heute abend ein Ende bereiten.
Ronny fummelte entschlossener an dem Zahn herum.
Deiner Existenz aber auch! Dann ist endlich Ruhe mit deinem destruktiven Gequatsche! Außerdem habe ich da eine Idee, die so einfach ist, daß ich mir in meinen knochigen Arsch beißen könnte, weil sie mir nicht schon früher eingefallen ist!
Mit einem Knacken brach der Zahn los.
Als ich herkam - und da war ich zum Glück noch allein hier drin - wog ich runde 90 Kilo. Das war für meine Verhältnisse schon verdammt wenig, aber viel zu viel, um durch diese Röhre zu passen. Das war einmal. Jetzt passe ich mit Sicherheit durch. Nur die Metallplatte muß noch weg.
Die Stimme in seinem Kopf schwieg, schien zu grübeln.
Was hast du vor? Ich merke, du hast einen Plan. Und der scheint zu funktionieren... Hmm... Ah, ja! Wenn ich nicht von so negierender Natur wäre, hätte ich dich freilich schon früher darauf gebracht!
War das etwa eine Zustimmung? Ronny traute seinen Ohren (?) nicht.
Soll das etwa heißen, daß du keine Einwände hast? Du, der Geist, der stets verneint?
Oh doch, die habe ich! Der Einfall mit der Kleidung war ganz interessant. Du wirst es schaffen. Du legst also den Zahn unter das angehobene Gitter. An das Gitter knotest du deine Hose und an die deine Jacke. Dann wirst du dich möglichst weit weg flach auf den Boden legen und sodann an der Jacke ziehen. Durch den Zug wird das Gitter angehoben. Zweimal gehen lassen und gleich wieder ziehen. Dadurch wird sich das Gitter in den Scharnieren heben und wieder senken. Und dabei auf den Zahn drücken. Dann nur noch fünf Sekunden lockerlassen, wieder ziehen und... buuum! Geniale Idee. Dann wirst du kopfüber in die Röhre springen und hoffen, daß sie in eine in deinen Träumen weitläufige Kanalisation führt. So weit, so gut. Aber wird sich am anderen Ende der Röhre nicht wieder ein Gitter befinden? Du wirst steckenbleiben, die Wache wird kommen und lässig lächelnd eine oder zwei Handgranaten fallen lassen. Wahrscheinlich nur eine. Die wird dich nicht gleich töten, nur deine Beine wegreißen. Das gibt dir die einmalige Gelegenheit, mit der Nase in der eigenen Scheiße jämmerlich zu krepieren. Einfach genial!
Ronny zögerte. Das waren wirklich keine rosigen Aussichten. Er war mittlerweile nackt, die Hose mit der Jacke verknotet und am Gitter befestigt. Den Zahn hielt er noch überlegend in der Hand.
Wozu ein zweites Gitter? Das führt nur zu Verstopfungen und irgendein Depp muß in die Jauche steigen und das Gitter doch wieder aufmachen. Da ist kein Gitter. Und selbst wenn. Ich kann nicht jedes Risiko ausschließen. Vielleicht bleibe ich stecken. Vielleicht gibt es keinen breiten Abwasserkanal, sondern eine Hauptröhre, an die diese Röhre vor mir im 90-Grad-Winkel angeschlossen ist. Vielleicht schaffe ich es nicht aus der Kanalisation heraus, vielleicht nicht bis in den Wald, zur Front, in eine Stellung unserer Truppen, ohne vorher von einer Seite abgeknallt zu werden. Egal, wenn ich hierbleibe, bin ich morgen tot.
Entschlossen packte Ronny die Bombe unter das Gitter. Er stieg über das Gitter und ging auf die Seite, an der die Scharniere das Gitter mit dem Boden verbanden. Er legte sich auf den Boden und rutschte bis an die Wand. In seiner verbliebenen Hand hielt er den freien Ärmel seiner Jacke. Es war soweit. Ein kurzer Entschluß, der kurzerhand in die Tat umgesetzt wurde. Es gab mit Sicherheit tausend Gründe, weshalb der Fluchtversuch schiefgehen konnte. Ronny kannte Murphys Gesetz seit seiner Jugend. Er wollte aber der Stimme in seinem Kopf nicht erst lange die Möglichkeit geben, auch nur einige der Eventualitäten aufzuzählen.
Hast du dir das gut überlegt? Was sagt Murphys Gesetz? Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es schief.
Ronny preßte seine Stirn auf den kalten Steinboden. Dann ließ er die Jacke gehen und stand ruckartig auf.
Na also, bist du endlich wieder zur Vernunft gekommen? Ich habe mir schon Sorgen gemacht! Jetzt leg dich auf deine Matte und warte in Ruhe bis zum Morgengrauen, dann hast du es geschafft. Ein sauberer, ehrenvoller Abgang. Zeig ein wenig Würde!
Ronny stellte sich vor das Gitter.
Paß mal auf, du Resultat meiner Gehirnerweichung. Murphy wollte einfach nur sagen, daß ein Versuch dann die besten Aussichten auf Erfolg hat, wenn es möglichst keine Möglichkeit auf Mißerfolg gibt. Also muß man so viele Gefahrenquellen wie möglich ausschließen.
Ronny fing an sich zu biegen. Er erwärmte und dehnte sich. Seine Gelenkigkeit könnte noch wichtig sein.
Oh, ein bischen Gymnastik zum Abschluß? Ja, schließ ruhig noch ein paar Gefahren aus. Da bleiben nach Adam Riese noch genau eine Million.
Ronny stellte die Dehnübungen ein. Da gab es noch eine Gefahr... Er stellte sich breitbeinig über die Öffnung und pinkelte hinein. Den Urinstrahl ließ er dabei kreisen.
Was bist du nur für ein Schwein? Gerade rede ich noch von Würde und Anstand, und was machst du? Du pißt in das Loch, durch das du gleich kriechen willst. Oh Gott, du bist so was von erbärmlich!
Der Grund war einfach. Er wollte nicht steckenbleiben. Mehr fiel ihm jedoch nicht mehr ein. Schätzungsweise war es nun 20.30 Uhr. Die Dämmerung setzte auf dem Kontinent momentan gegen 18.00 Uhr ein, also war es wohl mittlerweile dunkel draußen. Es gab keinen Grund mehr zu warten. Ronny schnappte sich wieder den Ärmel der Jacke und legte sich an die gleiche Stelle wie zuvor.
Er zog, ließ gehen, zog, ließ gehen. Ronnys Körper spannte sich wie eine Feder. Die Explosion würde ihn verletzen, soviel war klar. Doch es ging nicht anders. Er schloß die Augen und öffnete den Mund. Der Druck der Explosion sollte nicht seine Trommelfelle zerreißen.
Noch ein letztes Mal ziehen, dieses Mal 5 Sekunden lang gehenlassen und... nichts!
Schlagartig atmete Ronny aus, sein Körper sackte kraftlos auf dem kalten Boden seines Verlieses zusammen. Dumpfe Kopfschmerzen pochten in seinem Schädel. Kein Kommentar von seinem alter ego. Selbst der schien enttäuscht zu sein.
Ich habe zu lange gewartet. Zwischen dem zweiten und dem dritten Druck darf nicht mehr als eine Sekunde verstreichen. Also noch einmal!
Dieses Mal agierte er konzentrierter. Der Takt stimmte, die 5 Sekunden waren um und...
Mit einem trockenen, ohrenbetäubenden Knall detonierte die Bombe. Metall splitterte, Stein zerbarst, flog durch den Raum und prallte gegen die Wände oder warmes, nachgiebiges Fleisch. Das Metallgitter wurde nach oben gesprengt, doch die Scharniere hielten. Also schwang es komplett herum und knallte auf den Boden neben Ronny. Dabei wurden nochmals Steinsplitter losgeschlagen und schossen durch den Raum.
Ronny keuchte kurz vor Schmerz. Ohne weiteres Zögern stand er auf und lief zu der Röhre. Die Explosion hatte tatsächlich die Metallplatte losgerissen. Ronny bückte sich, ergriff die kochend heiße Platte und zerrte sie beiseite. Er achtete nicht darauf, ob es gefährliche Grate gab oder vielleicht tiefer unten eine weitere Sperre existierte. Er streckte seinen Arm nach vorne und stürzte sich kopfüber in die Röhre.
Sein ausgedörrter Körper paßte gerade so in die Drainage. Sein verstümmelter Oberkörper rutschte problemlos hinein, seine Hüfte jedoch knallte schmerzhaft gegen den oberen Rand der Öffnung. Ronny rutschte ungefähr 2 Meter senkrecht in die Tiefe. Dann machte die Röhre einen scharfen Knick. Nicht zu scharf, Ronny blieb nicht stecken. Sein Körpergewicht drückte ihn tiefer hinunter. Das Gefälle wurde geringer, und noch geringer... die Röhre verlief nun waagerecht. Er blieb doch stecken.
Mit Wucht wurde oben die Zellentür aufgestoßen. Schüsse peitschten durch die Zelle über ihm, die Wachsoldaten waren offensichtlich nervös. Es folgte Ruhe.
Ronny japste nach Luft. Panik machte sich breit und schnürte ihm die Kehle zu.
Scheiße, das war´s. Gleich werde ich das Geräusch einer Handgranate hören, die mir hinterherspringt. Hoffentlich bin ich gleich tot. Oder werde wenigstens ohnmächtig. Oh Gott!
Es rollte jedoch keine Handgranate hinter ihm her. Statt dessen hörte er das höhnische Lachen der Soldaten in der Zelle über ihm.
„Viel Spaß beim Scheißefressen! Haha! Dämlicher Hund!“
Laut lachend verließen die Soldaten die Zelle. Mit einem Knall schlugen sie die Tür hinter sich zu.
Ronny lag still. Ungläubig erwartete er die Rückkehr der Soldaten.
Da hast du es. Endstation. In einem Scheißerohr. So clever! Bist echt ein Held. An dich wird man sich erinnern. An den Typen, der im Scheißerohr steckenblieb. Laß mich raten, sie setzen auf die Ratten. Du erinnerst dich doch an die Ratten? Ihr habt sie in den Schützengräben gefangen und sie dann gebraten, weil ihr nichts anderes zu beißen hattet. Das hast du damals als erniedrigend und unwürdig empfunden. Wie gerne würdest du jetzt brutzelndes Rattenfleisch riechen? Und was riechst du jetzt?
Ronny fing an zu würgen. Der Gestank der Exkremente war übermächtig. Zwar war sein Magen leer, doch das ließ die aufsteigende Gallenflüssigkeit nur noch bitterer schmecken.
Du wolltest ein Held sein. Von Kindheit an. Es hat dich gegrämt, daß dein Bruder früher zur Armee durfte. Familientradition und so. Hast du deinem Großvater eigentlich mal zugehört? Ich meine richtig zugehört. Und nicht nur das gehört, was in dein Bild vom Leben und dem Tod eines Soldaten passen sollte. Soldaten sterben nicht, Ronnyboy. Sie krepieren, Sonnyboy. Wie oft hast du gedacht, den absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben? Schon während der Ausbildung ein paar Mal. In der Kaserne, du Träumer! Dabei ging es dir dort blendend! Und später? Bei den ersten Einsätzen? Bei der 2.Großoffensive? Die Belagerung war natürlich auch ganz schön hart gewesen. Da wolltest du dich aufgeben. Doch das war noch gar nichts gegen die anschließende Zeit im Kessel. Aber da konntest du wenigstens noch essen, schlafen, scheißen, ja sogar manchmal eine rauchen! Jetzt steckst du aber wirklich in der Scheiße. Jetzt kannst du dich nicht mal mehr bewegen. Und überleg dir, wo genau du bist!
Ronny heulte. Es war zuviel. Da war es also, das Ende. Hier gab es kein Entkommen mehr. Keine Möglichkeit, nach den Wachen zu treten. Die Wand wegzusprengen. Auf dem Weg zum Hof zu entkommen. Kurzzeitig versuchte er sich zu beruhigen, aber es gab keinen Grund, weshalb er Ruhe bewahren sollte. Nicht den geringsten Grund. Er wurde hysterisch. Jammernd und greinend wand er sich, doch sein Körper stieß nur gegen die Röhre. Er konnte sich nicht mehr bewegen, steckte fest. Seine Hand wischte zuckend über den glitschigen Boden des Abflusses, seine Beine strampelten hilflos. Er bekam Schnappatmung, er japste nach Luft wie ein Fisch an Land.
Neeeiiiiiiiin!!! Das kann nicht sein. Nicht sein! Mama!
Mama? Habe ich da tatsächlich Mama gehört? Oh heilige Scheiße, das darf doch nicht wahr sein. Verdammt, wie tief willst du noch sinken? Bist du dir gar nichts mehr wert? Entschuldige, was für eine sinnlose Frage! Ich will sie dir trotzdem beantworten. Du bist nicht mehr wert als der feuchte Dreck, in dem du dich gerade windest. Vor nicht mal fünf Minuten hast du noch in der Zelle gehockt und großfressig von deinen Chancen auf Flucht gefaselt. Daß du schwachsinnig bist, beweist schon meine pure Existenz. Aber selten ist ein Irrer so hart für seinen Wahnsinn bestraft worden. Ich will dich auch gar nicht übermäßig davon abhalten, dein Schicksal zu begreifen. Also halte ich jetzt mal ein wenig die Schnauze und melde mich erst wieder zurück, wenn du endgültig verreckst. Meine Stimme soll das letzte sein, was du während deines sinnlosen Daseins in dieser Welt wahrnehmen wirst! Verdammter Verlierer!
In der Tat wurde es kurz einmal ruhig in Ronnys Kopf. Er versuchte, eigene Gedanken zu entwickeln.
Es kann nicht sein! Ich kann mich nicht damit abfinden! Habe ich wirklich keine Möglichkeit mehr? Vielleicht schaffe ich es wieder zurück? Nein, niemals. Ich stecke mindestens 4 oder 5 Meter tief hier drin. Die letzten beiden Meter würde es senkrecht wieder hinaufgehen. Selbst ein Mensch in Topform könnte das nicht schaffen. Wenn ich überhaupt noch eine Alternative habe, dann nach vorn zu kriechen. Aber da habe ich nichts zu erwarten, sonst hätten die Wachsoldaten mich ausradiert. Verdammt, diese Schweine! Wieso haben sie mir nicht wenigstens den Garaus gemacht? War es ihnen wirklich noch nicht niederträchtig genug? Diese verdammten Schweine!
Der Mann befand sich am Rande des Wahnsinns. Doch zu seinem Unglück hatte sich der Teil seines Verstandes abgemeldet, der schon vor einiger Zeit die Schwelle zur geistigen Umnachtung überschritten hatte. Übrig blieb die Vernunft und die ungefilterte Wahrnehmung seiner Situation.
Der Gestank begann Ronnys Sinne zu betäuben. Sollte das seine letzte Chance sein? Würde er beizeiten ohnmächtig werden und ihm so ein Ende in körperlicher und geistiger Agonie erspart bleiben?
Ich kann noch nach vorne. Vielleicht ist es der letzte Anflug von Idiotie, aber egal. Zu verlieren gibt es nichts mehr. Es gibt tatsächlich auch kein Zurück mehr. Also vorwärts!
Ronny preßte seinen Körper fest an den Boden der Röhre. Die Gase vor ihm konnten so ein wenig über seinen Rücken abziehen. Es würde reichen, eine Ohnmacht zu verhindern. Mühsam begann er sich zu winden. Es war dermaßen eng, daß sein Körper fast vollständig anlag. Jede Bewegung zur Seite wurde schmerzhaft abgewürgt.
Los, vorwärts! Vielleicht kommt weiter vorne wieder ein Gefälle. Es muß eines kommen, schließlich ist dies ja ein Abfluß!
Und es keimte doch wirklich noch einmal so etwas wie Hoffnung in Ronnys Gedanken auf. In der Tat, ein Abfluß funktionierte nur bei Gefälle. Und irgendwohin mußte das Abwasser schließlich abfließen. Wahrscheinlich würde es nur eine Sickergrube ohne Möglichkeit eines Ausweges sein, vielleicht gab es doch ein weiteres Absperrgitter weiter unten. Aber das alles spielte keine Rolle mehr, denn es gab schlichtweg keinen Weg zurück.
Zentimeter um Zentimeter robbte er voran. Zunächst glaubte Ronny an gar kein Vorwärtskommen, jedoch schmierte sein Gesicht immer wieder über neue schleimige Widerlichkeiten. Seine Hand fand kaum Halt auf dem schmierigen Boden, seine nackten Zehen rutschten ständig weg. Und doch schien er sich zu bewegen.
Die Zeit verging und Ronny kämpfte sich weiter voran. Sein Verstand befand sich mittlerweile im Leerlauf. Er vollführte immer wieder die gleichen Bewegungen, handelte nur noch nach Schema F. Er würde vorankommen oder steckenbleiben, es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Zu sehen gab es nichts, es war natürlich absolut dunkel. Das war jedoch einer der wenigen glücklichen Umstände in Ronnys Situation. Es reichte, daß er riechen und spüren mußte, womit er sich den knappen Raum teilte. Noch ein Zentimeter, noch ein Stück Sch... Gefälle! Ronny war sich zunächst nicht sicher, zu sehr hatte er darauf gehofft. Spielte ihm sein Verstand nur einen Streich? Nein, als er noch ein wenig weiter gekrochen war, konnte er es eindeutig feststellen: das Rohr führte wieder nach unten. Aufgeregt fing Ronny an zu zucken. Hecktisch versuchte er seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Doch das Gegenteil war der Fall. So kam er gar nicht mehr voran.
Beruhige dich, ganz sachte jetzt! Wahrscheinlich rutschst du nur eine Etage tiefer und fängst dort wieder von vorne an. Also mach dich locker. Wenn du Pech hast, endet deine Reise in einer Sickergrube.
Diese Stimme war die seiner Vernunft. Seine dem Wahnsinn verfallenen Gehirnregionen hüllten sich noch immer in Schweigen.
Ronny war kurz liegen geblieben und hatte sich beruhigt. Mit frischer Kraft strebte er nun wieder nach vorn. Seine Hand tastete als Vorbote den vor ihm liegenden Boden ab. Größere Ablagerungen wischte sie dabei beiseite. Immer wieder zog Ronny die Zehen an und stieß sich nach vorne ab. Die Hand tastete weiter, gelangte tiefer hinab in die glitschige Röhre und traf auf...
Ha, da bin ich wieder! Na, hast du mich vermißt? Ich war nicht weit weg, war gleich hier bei dir. Ja, fühl´ noch mal nach! Ja, was haben wir denn da? Flüssigkeit, nicht? Viiiel Flüssigkeit. Nicht ekeln, Ronny, ist alles dein Mist. Scheiße, Pisse, ein wenig Kotze... na ja, du kannst dich wohl selber daran erinnern. Tja, das sieht mir aber nach einer astreinen kapitalen Verstopfung aus! Wollen wir wetten, daß die Wachen das wußten? Wieso haben sie dich denn sonst am Leben gelassen? Viel Spaß beim Scheißefressen haben sie dir gewünscht, nicht wahr? Na dann hau mal rein! Wohl bekommt´s! Das zweite Mal, haha!
Ronny brach zusammen. Egal, wie oft er gedacht hatte, den absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben - was könnte jetzt noch schlimmer werden? Was noch? Nichts, rein gar nichts. Seine ihm verbliebene Hand lag in kalter, stinkender, dickflüssiger Jauche. Das Rohr war dicht. Scheinbar schon länger, die Wachen mußten es nämlich schon mit Sicherheit gewußt haben. Entweder war es verstopft, oder die Sickergrube war schlichtweg überfüllt. Es dauerte ein wenig, bis sein Verstand verarbeitet hatte, in welche Situation sein Körper ihn geführt hatte. Und das Gehirn schlug zurück. Mit einem klaustrophobischen Anfall allererster Güteklasse. Es gab kein rückwärts mehr, kein vorwärts, seitwärts schon gar nicht. Niemals zuvor hatte Ronny so ein lupenreines Gefühl erstickender Panik erleben können. In all dem Dreck tief in diesem dunklen Abfluß war dieses Gefühl eine leuchtend reine Perle. Würgend, japsend, zuckend steckte Ronny fest und sein Verstand machte plop.
So, Hosenscheißer! Jetzt muß ich mich aber ranhalten! Denn gleich gehen bei dir die Lichter aus, das spüre ich deutlich! Ich wollte dir nur noch mal vor Augen führen, wie glücklich ein Mensch bei einer Hinrichtung sein kann. Stell dir das nur mal vor! Du hättest noch mehrere Stunden zu leben gehabt! Morgen ist bestimmt blauer Himmel. Du hättest die Sonne noch einmal sehen können. O.k., nicht deine Heimatsonne. Aber besser als gar nichts. Besser als das hier! Mann, du zappelst ja wie ein Irrer! Also, wenn du gleich endgültig überschnappst, denk an den glücklichen Häftling bei der Erschießung! Unter blauem Himmel! Dieser Preis hätte Ihrer sein können!
Mit allerletzter Kraft zog Ronny sich vorwärts. Er hatte doch noch eine Handlungsmöglichkeit erkannt. Er würde sich ersäufen. Es würde seinen Tod nicht verbessern, jedoch erheblich verkürzen. Schon war seine Hüfte kurz vor dem Gefälle, sein kompletter Arm in der dickflüssigen Jauche. Seine Stirn berührte die Oberfläche der Flüssigkeit. Sein Körper kam ins Rutschen, sein Gewicht drückte ihn nach unten. In einem letzten Anflug von Überlebenswillen hielt Ronny die Luft an, als sein Oberkörper versank.
Erst jetzt, nach all den furchtbaren Erlebnissen seines Daseins, hatte Ronny endgültig den Tiefpunkt erreicht. Kurz noch versuchte sein Körper ohne Luft zu existieren, dann gab er nach. Ronny öffnete seinen Mund und versuchte zu atmen.
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Luft und stinkender Schlamm füllten seine Lunge. Ein wilder Hustenanfall schüttelte den kraftlosen Körper. Dicke Brocken flogen aus seinem Mund. Die Nase hatte sich zugesetzt, keine Luft kam hindurch. Der Körper reagierte automatisch, atmete, hustete, versuchte wieder zu atmen. Der Verstand drehte noch Kreise um sich selbst. Mehrere Minuten kämpfte der Körper auf sich alleine gestellt. Die Atmung beruhigte sich, der Pulsschlag kehrte in überlebensfähige Regionen zurück. Dann kam der Verstand langsam wieder.
...wo bin ich... was ist denn passiert... Mutter?... hallo?...
Er versuchte, die Augen zu öffnen. Brennender Schmerz ließ ihn aufheulen. Die Flüssigkeit ätzte. Mit zittriger Hand faßte er sich ins Gesicht und wischte seine Augen ab. Dinge. Schmierige Sachen hingen an seiner Haut. Es war kalt, hundekalt sogar. Er versuchte nochmals die Augen zu öffnen und zu sehen. Seine Sicht war verschmiert. Egal wo er war, es war mit Sicherheit dunkel.
Die Röhre! Eben war ich noch in der verstopften Röhre!
Ronny zuckte zusammen.
Bin ich tot? Niemals! Ich bin doch da nicht mehr herausgekommen! Unmöglich!
Der Fakt war nicht einfach zu akzeptieren, jedoch kristallklar. Der hämische Kommentator hinter seiner Stirn schwieg. Ronny würde ihn auch so schnell nicht mehr zu hören bekommen.
Langsam und unter Schmerzen richtete Ronny sich auf. Zuerst kämpfte er sich auf die Knie, dann versuchte er ganz aufzustehen. Auf halben Wege nach oben stieß er sich den Kopf. Offensichtlich befand er sich in einer Art Höhle.
Nein, das ist keine Höhle, der Boden ist eben. Aber irgendwie naß und seltsam rauh. Ich glaube, es ist ein Gitterfußboden. Ja, klar. Und über mir kann ich Mauerwerk ertasten. Ich bin wohl doch irgendwie in der Kanalisation gelandet.
Das wichtigste schien zunächst die Wiedererlangung der Sicht zu sein. Ronny wischte sich mehrmals die Augen aus. Es brannte wie die Hölle, doch konnte er dagegen nichts unternehmen. Nach zahlreichen Versuchen schaffte er es, die Augen für einen kurzen Moment geöffnet zu halten und sich umzuschauen. Das Bild seiner Umgebung prägte sich bei ihm ein. Ronny schloß die schmerzenden Augen wieder und kauerte sich auf den Boden. Im Geiste wertete er das soeben Gesehene aus.
Er befand sich in einem geräumigen Kanal. Die bogenförmige Decke war in der Mitte circa 2 Meter hoch. Allerdings befand sich der Boden unter Wasser und Ronny konnte die Tiefe kaum abschätzen. Er hatte das Ende des Gewölbes gesehen, es war keine 20 Meter entfernt. Ein großes Tor aus Eisenstäben hielt Eindringlinge ab, ließ das Wasser jedoch ungehindert abfließen. Aus der Decke ragten in regelmäßigen Abständen Rohre hervor. Es waren die Abflüsse der Gefängniszellen. Sie waren verschlossen. Scheinbar wurden Baumaßnahmen in dem Gewölbe durchgeführt. Damit sich die Arbeiter nicht mit den Exkrementen der Gefangenen herumplagen mußten, hatte man kurzerhand die Abflüsse abgedichtet. Ein Gefangener bekam nicht genügend Nahrung, um allzu viel wieder ausscheiden zu können. Daher konnten die Abdichtungen getrost einen längeren Zeitraum an Ort und Stelle belassen werden. Die Wachsoldaten hatten davon gewußt, doch hatten sie sich verschätzt. Durch Ronnys verzweifelten Selbstmordversuch hatte sich in seiner Röhre ein zu hoher Druck aufgebaut. Die Abdichtung war gebrochen und er war hinausgerutscht.
Willkommen zurück im Leben! Falls ich hier jemals wegkommen sollte, werde ich ein zweites Mal Geburtstag feiern können. Da bin ich nun, nackt wie der Herrgott mich schuf und mit meiner eigenen Scheiße beschmiert wie am ersten Tag!
Ronny hörte draußen wieder Granaten einschlagen. Dieses Mal klang es jedoch wesentlich näher als bisher.
Hossa! Das hört sich nach einem schweren Gefecht an! Höchstens 20 Kilometer entfernt!
Ronny war noch zu erschöpft, um sich weitergehende Gedanken über seine weitere Flucht machen zu können. Gerade eben noch hatte er in seiner eigenen Jauche gesteckt und mit dem Leben abgeschlossen. Das war etwas viel für seinen Verstand gewesen.
Die Kampfgeräusche hörten sich aus der Entfernung wie Donnergrollen an. Da war wirklich etwas größeres im Gange.
Also was soll´s! Heute ist der Tag der schnellen Entscheidungen! Lange zögern verschafft mir keine Vorteile. Im Kampfgetümmel komme ich vielleicht sogar besser durch als bei ruhigen Verhältnissen. Hoffentlich werde ich nicht von den eigenen Leuten abgeknallt - falls ich es überhaupt bis dorthin schaffe. Aber wer hat Angst vor einem nackten Mann?
Ronny kämpfte sich hoch, dieses Mal ohne sich den Kopf zu stoßen, und lief zu dem Eisentor am Ende des Kanals. Das Tor war massiv, die Flügel in der Mitte aneinander geschweißt. Doch hing es schief in der Halterung. Scheinbar war es zu schwer konstruiert worden und auch deswegen zusammengeschweißt worden. Zwischen dem Tor und der Wand war genug Platz, daß Ronny sich hindurchquetschen konnte. Nach seinem Erlebnis in der Röhre erledigte er diese Aufgabe mit einem Lächeln.
Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Nur der Widerschein der Explosionen auf dem entfernten Schlachtfeld erhellte den Himmel. Auf der wegführenden Straße vor dem Haupttor der Festung herrschte rege Betriebsamkeit. Vollbeladene LKW und überfüllte Truppentransporter fuhren in unregelmäßigen Abständen in Richtung Innenland. Der Standort wurde scheinbar kampflos aufgegeben. Daher schenkte auch niemand dem Waldrand Beachtung, der in Richtung der Front lag. Der Feind schien noch einigermaßen weit weg zu sein. So konnte Ronny unbemerkt fliehen.
Dimitri wand sich in dem engen Schützenloch. Aber egal, was er auch versuchte, seine Stellung wurde nicht bequemer. Es war kalt. Zumindest seinem Empfinden nach. Er zitterte immer wieder. Außerdem war er hundemüde. Und das ließ ihn noch mehr frieren.
In dem Schützenloch neben ihm hörte er Tom herumwühlen. Der schien sich mit irgendwelchen Ausschachtarbeiten die Zeit zu vertreiben.
„Tom?“ zischte Dimitri zu seinem Nachbarn hinüber.
Keine Antwort. Statt dessen schienen Toms Aktivitäten noch intensiver zu werden.
„Tohom!“ Wieso hörte er nicht?
„Was denn?“ fluchte Tom leise.
„Ey Mann, ist dir auch so scheiß kalt?“
Genervtes Stöhnen von drüben.
„Kalt? Spinnst du? Wir haben eine scheiß schwüle Nacht. Wie die letzten tausend.“
Dimitri seufzte. Tom schien nicht mit ihm reden zu wollen. Statt dessen ging das Buddeln weiter.
„Tom?“ Er konnte einfach nicht still sein. Die Wachschicht ging noch zwei Stunden. Ewige zwei Stunden!
„Tohom!“
„Was denn, du Pflegefall!“ Tom wurde wütend.
„Nicht so laut, Tom! Geräuschtarnung!“
„Dann halt die Fresse!“ Tom war wirklich sauer.
Dimitri schwieg. Vorerst. Er versucht erneut, es sich ein wenig bequemer zu machen. Hoffnungslos. Das Erdloch war schon –zig Mal von den Soldaten bearbeitet worden. Aber eine Schützenstellung war nun mal kein Himmelbett. Dann könnte er auch nicht den herrlichen Nachthimmel sehen. Der Mond war voll diese Nacht. Die Umgebung war in ein aschfahles Licht getaucht. Die Landschaft vor ihnen war nur schemenhaft zu erkennen. Dimitri haßte Wacheschieben. Er haßte den ganzen Militärdienst. Eigentlich war er nur der Armee beigetreten, um ein sicheres Einkommen zu haben. Zum Bürohengst taugte er jedoch nicht. Das sah er selber ein. Mit einem Krieg hatte er bei seinem Eintritt nicht gerechnet – und schon gar nicht, daß er an einem teilnehmen müßte!
Das war vor vier Jahren gewesen. Seit über drei Jahren war er mittlerweile in der Kampftruppe. Warum er noch lebte? Weil er ein As im Sich-verdrücken war. In der Regel war er vom Gefechtsfeld verschwunden, bevor der Knall des ersten Schusses auf dem Gefechtsfeld verhallt war. Sicherlich gehörte auch Glück dazu. Aber dem konnte man ja auf die Sprünge helfen...
„Tom?“ Sein Nachbar hatte eine Beschäftigung gefunden, die ihn ablenkte. Das machte Dimitri neidisch. Er wollte ihn dabei stören, um nicht der einzige zu sein, der sich langweilt.
„Tohom!!! Mann, hör doch mal!“
Dimitri hörte, wie Tom drüben in seinem Schützenloch wütend etwas zu Boden warf.
„Dimitri, du tauber Wurf! Entweder, du hast jetzt etwas außerordentlich Wichtiges zu verlautbaren, oder ich steige aus meinem Loch und komme zu dir rüber! Und dann reiße ich dir den Schädel herunter und scheiße dir in den Hals!“
Dimitri schluckte heftig. Tom war zum Teil schnell dabei, Arschtritte zu verteilen. Dimitri überlegte krampfhaft. Doch dann fiel ihm etwas ein.
„Du Tom... äh... hast du schon von der neuen Richtlinie gehört?“
„Welche neue Richtlinie?“
„Na ja... äh... die mit den Spionen?“
Schweigen von drüben. In der Tat hatte es an die Offiziere Anweisungen in Bezug auf den Umgang mit Spionen gegeben. Bisher waren zu den Mannschaften aber nur Gerüchte durchgedrungen.
„Dimitri. Wenn du mir jetzt den gleichen Lagerfeuer-Schmuß erzählst, den hier alle die letzten Tage vom Stapel gelassen haben, dann schwöre ich dir, ziehe ich meinen Spaten durch deine dämliche Visage!“
„Ähm, nee. Äh, eigentlich darf ich es ja gar nicht erzählen. Ist streng geheim oder so was. Noch zumindest. Also bis sie es uns allen mitteilen, hmm. Also, uh, ich habe da was in der Kantine mitbekommen, als ich letzte Woche Ordonnanz war. Da haben sich zwei Offze miteinander im Suff vertraulich unterhalten. Nur zu laut, haha. Jedenfalls muß es wohl so sein, daß derjenige, der es als nächster schafft, einen Spion zu erledigen, einen Heldenorden und Sonderurlaub erhält. Zu Hause! Die wollen uns das natürlich nicht sagen, sondern selbst auf die Jagd gehen. Notfalls ein wenig bescheißen.“
Tom schwieg eine Weile. Dann stieg er aus seinem Schützenloch. Dimitri zuckte ängstlich zusammen. Tom war groß und kräftig. Das würde eine heftige Abreibung geben.
Mit wenigen langen Schritten hatte Tom den Weg zu Dimitris Stellung zurückgelegt. Nun beugte er sich finster blickend zu dem wesentlich schwächeren Kameraden hinab und packte diesen am Kragen.
„Sag, daß du dich ja nicht verhört hast!“ Sein Griff war stark wie der einer Schraubzwinge.
„Ja, nein... nein!!! Bestimmt nicht! Ich sage dir die Wahrheit!“ Dimitri winselte und keuchte. Das würde den anderen eventuell mitleidig stimmen.
Tom überlegte. Dann ließ er locker. Ein boshaftes Lächeln tauchte in seinem Gesicht auf. Zufrieden tätschelte er den Kopf des unter ihm liegenden Dimitri.
„Fein gemacht. Ganz brav!“ In seinen Augen blitze es. „Das hört sich doch schwer nach Heimaturlaub an!“ Finster lächelnd schaute Tom in Richtung der feindlichen Linien. „Muß nur noch einer zu nahe kommen, dann geht es ab in die Heimat! Gib mir deine Umgebungskarte!“
Dimitri erschrak.
„Wozu?“
„Frag nicht, her damit! Wenn die bescheißen wollen, können wir das auch!“
„Und wenn mich jemand nach meiner Karte fragt?“
„Das wird ja wohl keiner! Ist doch noch nie passiert!“
Und warum nimmst du dann nicht deine eigene? dachte Dimitri. Er war jedoch zu feige, das auch auszusprechen. Also gab er mit zitternder Hand seine dienstliche Umgebungskarte an Tom.
„So!“ meinte der. „Jetzt schießen wir noch schnell einen von diesen Hurensöhnen über den Haufen und dann geht es ab in die Heimat!“ Hämisch lachend kehrte Tom zu seiner Stellung zurück.
Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis die erste Gestalt auf dem Feld vor ihnen auftauchte. Die Truppe hatte in den letzten Tagen mehrere Vorstöße ins Feindesland vorgenommen und war nun auf direkter Tuchfühlung mit dem Feind. Die versprengten feindlichen Truppenteile unternahmen immer wieder verzweifelte Versuche, durch Boten in Kontakt zu bleiben und ihr Vorgehen zu koordinieren. Diese abzuschießen, gehörte momentan mehr oder weniger zur Standardaufgabe der vorgeschobenen Wachposten. Leider waren aber Boten keine Spione. Es hatte in den vorigen Wochen immer wieder gezielte Attentate gegeben, die mit relativer Sicherheit auf Spionageaktivitäten schließen ließen. Scheinbar hatte die oberste Heeresleitung mittlerweile ein Kopfgeld auf feindliche Spitzel ausgesetzt, nur daß die Truppen durch ihre Vorgesetzten hiervon nicht aufgeklärt worden waren.
Dimitri drückte sein Nachsichtgerät fest gegen sein Gesicht. Ein dicker Kloß saß ihm im Hals. Die ganze Sache war ihm zu heikel. Was, wenn die Vorgesetzten mißtrauisch wurden? Die würden doch stinksauer sein, wenn vor ihnen jemand die Lorbeeren einheimste. Und dann würden sie kontrollieren, ob da wirklich ein Spion zu Strecke gebracht worden ist oder nicht. Tom hatte offensichtlich vor, einen feindlichen Soldaten abzuschießen und diesem dann die Karte zuzustecken. Dimitris Karte! Und dann würden die Fragen losgehen. Wie kamen Sie auf die Idee, es könnte sich um einen Agenten handeln, obwohl er in einer stinknormalen Uniform steckt? Weshalb sind Sie das Risiko eingegangen, Ihre Stellung zu verlassen und den getöteten Soldaten auf Hinweise für eine Spionagetätigkeit zu durchsuchen. UND WO ZUM TEUFEL IST IHRE EIGENE KARTE?!!!
Tom wäre fein raus aus der Sache. Ganz klar, er würde Dimitri vorschicken. Ginge die Sache schief, wäre dieser an allem schuld. Wenn nicht, würde er selbstredend auf Toms Befehl hin gehandelt haben.
Dimitri preßte das Fernglas so stark gegen seine Augen, daß diese schmerzten. Was nun? Wie komme ich aus dieser Scheiße heraus?
Tom meldete sich per Funk, obwohl sie in Hörweite auseinanderlagen. Aber der Funkverkehr wurde überwacht...
„Posten 2, hier Posten 1, bereithalten. Den müssen wir erwischen. Unbedingt! Ich habe den Verdacht, das könnte ein Spion sein!“
ARSCHLOCH!!! Hitze stieg in ihm auf. Jetzt würde er sich etwas einfallen lassen müssen. Zitternd griff er zum Funkgerät.
„Hier Posten 2, alles klar. Ich übernehme den Abschuß!“
Noch bevor Tom antworten konnte, riß Dimitri sein Gewehr nach oben. Durch die Zieleinrichtung konnte er die Gestalt beobachten, wie diese sich langsam und in vermeidlicher Deckung in tiefer Gangart über das Feld bewegte. Höchstens 350 Meter. Mit dem modernen Standardgewehr kein Problem.
Der Schuß krachte. Das Projektil schoß über das Feld vor ihnen. Es flog zwar schnell, aber trotzdem langsam genug, um mit dem bloßen Auge verfolgt zu werden. Dimitri hörte Tom fluchen.
Eine blendende Explosion zerriß die Dunkelheit der Nacht. Ein ohrenbetäubender Knall folgte. Die Granate hatte ihr Ziel gefunden. Die Sprengkraft reichte aus, um eine Erdfontäne 20 Meter hinauf in den Nachthimmel zu schleudern.
„Dimitri, du Arsch!“ brüllte Tom. „Hast du sie nicht mehr alle beisammen?“
Erleichtert betrachtete Dimitri die züngelnden Flammen an der Stelle, an der eben noch die Gestalt durch die Nacht gepirscht war. Dem würden sie keine Karte mehr zustecken können.
„Himmel, Herrgott, verdammt!“ jammerte Tom. „So bescheuert muß man mal sein! Keiner jagt eine Granate raus, um einen Spitzel abzuknallen!“ Tom schien langsam tatsächlich zu glauben, daß es sich um einen Spion gehandelt habe. Denn er fluchte nicht in das Funkgerät. Die Vorstellung, Urlaub in der Heimat machen zu können, schien ihm das Gehirn zu fritieren.
„Den nächsten knalle ich ab, verstanden, Posten 2?!“
„Ja, verstanden,“ meinte Dimitri zufrieden. Noch anderthalb Stunden Wache. Da würde kein weiterer Bote auftauchen. Bestimmt nicht.
Leider doch. Zu einem Zeitpunkt, an dem Dimitri sich schon sicher gewesen war, gleich in seinen klimatisierten Schlafsack kriechen zu können, tauchte doch tatsächlich eine weitere Gestalt auf dem Feld auf. Entnervt griff Dimitri zu seinem Nachtsichtgerät.
Schon auf den ersten Blick erkannte er, daß es sich unmöglich um einen feindlichen Boten handeln konnte. Denn der Mann, der mehr durch die Nacht stolperte als lief, war nackt. Und ihm fehlte ein Arm. Über Funk:
„Posten 1 an Posten 2. Verdächtige Person nähert sich der Stellung. Ich übernehme die Bekämpfung. Bereit halten zum Nachschuß! Granaten verboten!“
Das glaube ich nicht! schrie es in Dimitri auf. Der Typ hat nur noch einen Arm! Er ist nackt! Wo zu Teufel soll der eine Karte versteckt haben? So ein Irrsinn! Er würde Tom stoppen müssen.
Ronny arbeitete sich nach vorn. Siebzehn Kilometer lagen bereits hinter ihm. Bis zu den ersten eigenen Truppenstellungen waren es nur drei Kilometer gewesen. Doch die Posten hatten bei seinem Auftauchen jedes Mal auf Teufel-komm-raus das Feuer eröffnet. Also hatte er sich an der Front entlangschleichen müssen. Endlich schien er eine geeignete Stelle gefunden zu haben, an der er auf die andere Seite überwechseln konnte. Er hatte das Feld eine Weile beobachtet. Ihm war der feindliche Bote aufgefallen, welcher in relativ guter Deckung versucht hatte durchzukommen. Er war mit einem präzisen Schuß ausgeschaltet worden. Der Einsatz von Granatmunition sollte offensichtlich andere Feind demoralisieren und klarstellen, daß es an dieser Stelle kein Durchkommen gab. Daß der Soldat entdeckt worden war und gezielt ausgeschaltet worden ist, war ein relativ sicheres Indiz dafür, daß die Wachposten mit guten Nachtsichtgeräten ausgestattet waren. Auch hatte es kein hektisches MG-Feuer gegeben. Und anhand der Ruhe aus dem Waldstück gegenüber konnte Ronny schließen, daß die Wachposten den Rest der Truppe nicht aus Panik in ihre Schützenstellung gejagt hatten. Offensichtlich handelte es sich um abgebrühte Veteranen. Dies würde seine beste Chance sein. Nie und nimmer würden sie auf einen schwerverletzten, nackten Mann schießen. Darauf mußte er vertrauen.
Er holte noch einmal tief Luft, dann richtete er sich auf und lief auf die Stellung auf der anderen Seite des Feldes zu.
„...Tom, auch ich will gerne mal wieder nach Hause. Tut mir leid, daß ich vorhin – aus Versehen – mit einem Granatgeschoß rumgeballert habe. Ich war halt nervös. Aber schau dir den da vorne doch mal an. Den hat es doch schon übel erwischt. Da kauft uns doch keiner ab, daß es sich dabei um einen Spion handelt. Die riechen doch den Braten und unterstellen uns gleich, wir hätten beschissen!“
„Dimitri, altes Haus!“ meinte Tom seelenruhig. „Wieso sollten die das denn? Offiziell können wir von der Prämie doch gar nichts wissen. Das ist dir doch auch klar, oder? Der Typ ist deshalb nackt, weil er sich erst eine Uniform bei uns erbeuten wollte. Und den Arm haben wir wohl offensichtlich beim Abschuß weggepustet. Notfalls ziehe ich ihm sogar meine Unterhosen über, falls dich das ruhig stimmt. Und die Karte wollte er wahrscheinlich erst wegwerfen, sobald er unsere Reihen durchbrochen hat. Ist doch alles ganz logisch!“
„Ja zum Henker! Aber beantworte mal eines: was ist das für ein komischer Vogel da vorne? Wieso stürzt der unbekleidet mitten über das Feld – ohne Deckung, schau hin! – auf uns zu?“
„Hmm, steht wohl unter Schock wegen der schweren Verletzung... hmm...“ Tom schien nachdenklich zu werden.
Noch knapp 250 Meter. Sollte er stehenbleiben? Oder noch ein Stück näher herangehen? Die Wachen konnten ihn aus dieser Distanz mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit schon mit dem bloßen Auge wahrnehmen. Wenn sie gewollt hätten, hätten sie schon längst geschossen. Erleichterung machte sich in Ronny breit. Die größte Gefahr lag nun hinter ihm. Mann, das alles glaubt mir keiner! dachte er. Vor seinem inneren Auge konnte er schon die überraschten Gesichter seiner Kameraden sehen. Und seiner Familie und seinen Freunden würde er in gemütlicher Runde von seiner abenteuerlichen Flucht erzählen können. Mit Zuversicht schritt er weiter auf die Posten zu.
„Soldaten stillgestanden! Augen gerade aus!“
Es war ein sonniger Tag. Die Sonne brannte gerade im Zenit. Das gesamte Regiment war angetreten. Dimitri stand steif wie ein Brett neben Tom vor den angetretenen Reihen. Schweiß lief ihm in Sturzbächen über die Stirn. Sein Magen rumorte, seine Knie zitterten.
Gleich ist es gelaufen! Kipp jetzt bloß nicht aus den Latschen! Nervös versuchte er Blickkontakt mit einem der Soldaten in der ersten Reihe aufzunehmen. Doch die blickten stur geradeaus. Also wandte er seinen Blick wieder nach vorn und starrte in Richtung Horizont.
Der Regimentskommandeur trat nach vorn. Er schritt an den beiden Soldaten vorbei und musterte ihre Gesichter. Er blieb vor Dimitri stehen und kniff ein wenig die Augen zusammen. Dann nickte er und drehte sich zu dem versammelten Regiment um.
„Kameraden! Seit drei Jahren kommandiere ich dieses Regiment und führe es durch den Kampf. Ich habe Glanzleistungen erlebt, ich habe desaströse Niederlagen erlebt. Manchmal habe ich das Gefühl, daß mich das ständige Gemetzel vor meinen Augen abstumpfen läßt. Aber eine Sache bringt heute noch mein Blut in Wallung wie am ersten Tag: Verrat!“
Der Kommandeur hielt inne und ließ seine Blicke über die Reihen der Soldaten schweifen.
„Und es trifft mich besonders hart, daß dies nach so langer Zeit, die wir nun schon zusammen durch das Feuer gehen, in MEINEM Regiment noch vorkommen konnte! Verrätern wird ein kurzer Prozeß gemacht! Aber das ist nichts gegen das, was ihren Familien widerfahren wird! Jeder, der sich als Kollaborateur mit dem Feind an unserer Heimat versündigt, kann sich gewiß sein, daß wir seine ganze Bande in das tiefste und dunkelste Loch werfen werden, das wir finden können! So wie die Sippschaft dieses Verräters!“
Der Kommandeur schritt nach vorn. Auf dem Boden des Exerzierplatzes lag eine Plane. Der Kommandeur ergriff diese und zerrte sie beiseite. Auf dem Asphalt des Platzes, unter der sengenden Sonne des Planeten, lag Ronnys Leichnam.
Der Kommandeur schaute auf seine Soldaten. Gemurmel kam auf. Er konnte Wut und Ekel in den Gesichtern seiner Soldaten sehen. Zufrieden ließ er die Plane neben Ronnys Körper auf den Boden fallen. Demonstrativ wischte er sich seine Hände an seinen Hosen ab.
„Vor einiger Zeit wurde dieses Mitglied unseres Regimentes als vermißt gemeldet. Und während wir dachten, dieser Soldat sei eventuell heldenhaft gefallen, oder er sei in Gefangenschaft geraten, kollaborierte er statt dessen mit dem Feind! Wer weiß, ob es Zufall oder ein Teil seines perfiden Planes war, daß er in dem von uns kontrollierten Frontabschnitt überwechseln wollte. Aber es erfüllt mich mit hämischer Genugtuung, daß dieser Bastard nun tot in dem Staub vor mir liegt!“ Der Kommandeur verschränkt die Arme auf dem Rücken und blickt mit Verachtung auf den Leichnam. Er schüttelt den Kopf und wendet sich sodann den beiden vor der Truppe stehenden Soldaten zu.
„Dies sind die Männer, die den Verräter zur Strecke brachten! Sie sind Vorbilder für uns alle! Merken Sie sich ihre Gesichter! Merken Sie sich ihre Namen! Das sind WAHRE HELDEN!!!“
Ende