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Wahlkampf
Der Herausforderer für das Amt des Bürgermeisters ritt auf zwei Löwen auf die Bühne und jonglierte mit einigen Fackeln. Sein bunter Anzug, der wie ein Flickwerk aus verschiedenen Teppichen aussah, machte nicht unbedingt den seriösesten Eindruck, aber er war ein Blickfang und zog die Aufmerksamkeit der Wahlberechtigten von Musical Dumpster immerhin für einige Sekunden auf sich. Fässer mit Schießpulver explodierten, als der Mann mit einem Rückwärtssalto von seinen Reittieren sprang, die Tiere mit Stuhl und Peitsche auf Abstand hielt und sich zum Rednerpult vorkämpfte. Er erntete für seinen Auftritt verhaltenen Applaus, denn die Menschen der Hauptstadt waren Besseres gewohnt.
Spannung lag in der Luft, denn alle wartete auf die Ankunft der Titelverteidigerin. Mickey Ace regierte Musical Dumpster seit 21 Jahren und obwohl ihr Amt immer mehr zum Sprachrohr der Regulation verkommen war, schätzten die Leute ihre Präsenz. Auch dieses Mal enttäuschte die Amtsinhaberin nicht. Der letzte bekannte Drache donnerte durch die Luft und trug einen Zeppelin auf dem Rücken. Als er über die Wahlveranstaltung flog, nahm er das Luftschiff, steckte es mit einem Schnaufen in Brand und warf es wie einen Dartpfeil in Richtung Erde. Feuerwerksraketen schossen aus dem Fluggerät, dessen Hülle sich recht schnell auflöste.
Der Moderator der Bürgermeisterdebatte kommentierte das Schauspiel wie folgt: »Er ist in Flammen aufgegangen, er ist in Flammen aufgegangen und er fällt, er stürzt ab! Kommt herbei! Kommt Herbei, Leute. Seht euch dieses Spektakel an! Nimm das auf, Charlie, nimm es auf! Er stürzt ... Hurra, er stürzt ab! Er stürzt ab, wundervoll! Oh, Klögnar! Kommt alle herbei, bitte! Er brennt, schlägt Flammen und ... und fällt auf den Ankermast und alle Leute sind sich einig: Das ist wundervoll. Das ist einer der großartigsten Wahlauftritte der Welt. Oh, vier- oder fünfhundert Fuß in den Himmel, es ist ein glorreicher Absturz, meine Damen und Herren. Da sind Rauch und Flammen und Feuerwerk, jetzt stürzt das Gerüst zu Boden. Oh, die Menschheit und all die Besucher jubeln um mich herum!«
Noch während der Zeppelin fiel, sprang die Titelverteidigerin aus dem Luftschiff und landete Kopfüber in einem Badezuber, der an ihrem Rednerpult stand.
Ein paar Leute applaudierten.
»Wie wir alle wissen«, setzte der Moderator an, »stehen demnächst die Bürgermeisterwahlen in unserer großartigen Hauptstadt an. Damit legen wir für die nächsten sieben Jahre fest, wem wir die Schuld an jeder Kleinigkeit geben können, ob die Person nun etwas dafür kann oder nicht.«
»Hurra!«, riefen die anwesenden Bürger.
»Dabei wollen wir nicht vergessen, dass in unserem schönen Land jeder die Möglichkeit hat, zum Bürgermeister gewählt zu werden. Sollte es also noch Amtsanwärter geben, die an der Debatte teilnehmen möchten, so bitte ich darum, dass sie jetzt nach vorne treten.«
»Also, ich würde gern«, sagte ein Mann, der in einem heruntergekommenen Zelt neben der Bühne saß. Ein leerer Pappkarton stellte seinen Schreibtisch dar und sein Wahlplakat war von Hand gezeichnet.
»Ich kann Sie hier kaum verstehen«, sagte der Moderator.
»Ich würde gern!«, rief der Mann, doch seine Worte gingen unter, denn hinter ihm hatte ein ganzes Orchester angefangen, auf leere Töpfe zu schlagen.
»Tut mir leid, mein Herr. Hier kommt nichts von dem an, was sie sagen.«
Das Orchester pausierte und starrte dem dritten Anwärter in den Nacken. Als er Luft holte, um etwas zu sagen, zimmerten sie wieder auf ihre Töpfe ein, bis er abwinkte und sich an seinen Karton setzte.
»Demnach gibt es keine weiteren Freiwilligen?«, fragte der Moderator und sah - zusammen mit dem äußerst aufmerksamen Orchester - in die Menge. »Schade! Nun, dann bleibt es bei unseren zwei Teilnehmern, die sich jetzt Ihren Fragen stellen werden.«
Sofort gingen überall im Publikum die Hände nach oben und der Moderator blickte sich um. »Immer mit der Ruhe, meine Damen und Herren. Jeder von Ihnen bekommt die Möglichkeit, die Kandidaten etwas zu fragen.« Er zeigte auf zwei beliebige Passanten. »Du da. Und danach du noch. Das reicht dann.«
»Wie siehdn des mit dor Orbeid aus?«, fragte Du da.
Die zwei Kandidaten sahen erst den Mann und dann einander fragend an.
»Gut. Mit der Arbeit sieht es gut aus«, sagte der Herausforderer.
Frenetischer Jubel brach aus. Ballons stiegen in den Himmel auf. Du da nickte zufrieden.
»Weil, weeste, schbin seit dreisch Johrn orbeidslos und Klögnar bewahre, dess sich des ännort.«
»Oh. Ah.« Der Herausforderer trat unbehaglich von einen Fuß auf den anderen.
Mickey lächelte siegessicher. Ihr junger Konkurrent mochte zwar Charisma haben, aber es fehlte ihm an Erfahrung. Pass gut auf, Jungspund, dachte sie. Jetzt lernst du was.
»Seit ewiglangen dreißig Jahren, sagen Sie? Nun, dann wäre es doch extrem verächtlich, wenn wir Sie aus ihrem Bau herauszerren, finden Sie nicht? Ich setze mich derbst dafür ein, dass alle Arbeit bekommen, die Arbeit wollen - und die, die nicht arbeiten wollen, gehen einfach nicht!«
Die Menschenmenge starrte gebannt zur amtierenden Bürgermeisterin auf. Die Luft war zum zerreißen gespannt.
»Supersüße Zuckerwatte für alle!«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu und damit brachen alle Dämme. Die Menschen tanzten auf der Straße, als Wagenladungen voller Süßigkeiten die Menge flankierten, deren Besitzer erst dann Ruhe gaben, als alle mit Köstlichkeiten versorgt waren.
Der Herausforderer tupfte sich den Schweiß von der Stirn und blickte über seine Schulter. Hinter der Bühne warteten die Gratismohrrüben darauf, verteilt zu werden. Möglicherweise hatte er auf das falsche Pferd gesetzt, aber noch waren Hopfen und Malz nicht verloren.
»Die nächste Frage!«, rief der Moderator in die feiernde Menge.
»Wie sieht es mit den Geistern aus?«, rief Und danach du noch.
»Nun, ich bin für eine Integration der Geister in unsere Gesellsch ...«
»Weil ich die alle hasse!«
»Oh. Äh.« Der Herausforderer rückte seine Krawatte zurecht. »Haben Sie mein Wahlprogramm gelesen?«
»Sind Sie verrückt? Das waren bestimmt fünf Seiten!«
»Klögnar sei dank, äh, ja, ich hasse die Geister auch. Alle weg!«
Er lernt schnell, dachte Mickey. Aber er hat seine Rechnung ohne die Bevölkerung gemacht.
»Was? Sie hassen alle Geister? Der Kerl hasst alle Geister! Der Kerl hasst alle Geister!«, schrie Und danach du noch. Die Menge schwieg sofort und stierte dem Herausforderer ein Loch in den Kopf.
Sprechchöre setzten ein: »Schützt die Geister, die sind unsere Freunde! Schützt die Geister, die sind unsere Freunde!«
»Na, dann können sie ja bleiben!«, sagte der Herausforderer.
»Was? Wo sollen wir die denn alle hin tun? Das sind doch viel zu viele! Die können hier nicht bleiben! Die sollen ins Reich der Toten zurück, wo sie hergekommen sind!«
»Aber ihr wollt sie doch beschützen!«
»Ja!«, rief Und danach du noch. »Wir können sie auch beschützen, wenn sie weit, weit weg von uns sind! Mit Spenden oder so was. Spenden wir für die Geister!«
»Ja!«, rief die Menge.
Pass auf und lerne, Bübchen, dachte Mickey. »Ich habe sein sehr langes Wahlprogramm gelesen. Er möchte eine hohe Steuer einführen, deren riesiger Erlös direkt an die Totenlande geht.«
»WAS«, rief die Menge.
»Dem kleinen Mann wird alles weggenommen, was er hat!«, rief ein alter Mann, dem die Zornesröte ins Gesicht stieg.
»Und wofür? Für diese Geister! Natürlich! Würden sich die da oben um ihre Bürger genau so viel Sorgen machen wie um die Geister, gäbs die ganze Armut nicht!«
»Risch!«, rief Du da. »Schab seit dreisch Johrn zu dun, um über de Rundn zu gomm, geene Ohnung worüm. Denn Geisdorn schiemse alles inne Gimme.«
»Meine Kinder dürfen in der Schule nicht mehr zu Klögnar beten, weil es einen Geist exorzieren könnte!«, rief eine besorgte Mutter, die ihre Kinder als Argumentationsverstärker in den Armen hielt. »So weit ist es inzwischen gekommen! Und das wollen Sie unterstützen, indem Sie uns das Geld aus der Tasche ziehen?«
»Ja, meine Güte, dann schieben wir die Geister halt wieder in die Totenwelt ab!«, blökte der Herausforderer, während Mickey seelenruhig an ihrem Pult stand und die Menge für sich arbeiten ließ.
»BUUUH!«, rief die Menge. »Das geht doch auch nicht! Hast du was gegen wandelnde Tote, du engstirniger Arsch?«
»Wisst ihr was? Keine Steuer ... und die Geister karren wir ... keine Ahnung, vor die Stadt? Das kostet auch was.«
Die Wähler sagten keinen Ton. Es war wie der Moment im Zirkus, bei dem der Turmspringer zum Absprung in ein erschreckend kleines Gefäß ansetzte. Alle Köpfe neigten sich nach vorne, während das Schlagwerk lauter und lauter wurde.
»Ach, was solls. Wenn es sein muss, bezahle ich das aus der eigenen Tasche.« Der Herausforderer seufzte und das Publikum riss die Arme hoch. Leider hatte der junge Mann nicht mit Mickey gerechnet, die nur kurz ihre Haltung straffte und Folgendes ins Mikrofon flüsterte:
»Er verdient schließlich genug.«
Sofort herrschte Grabesstille. Blicke, die Zorn, Neid und Hass transportierten, trafen den Herausforderer wie die Messer des blinden Messerwerfers von Snowbrooks, der aus unerfindlichen Gründen seine Zulassung verloren hatte.
»Der kutschiert die Geister rum und wir haben nichts zu fressen!«, rief die besorgte Mutter.
»Ja! Schwees och net, worüm!«, stimmte Du da zu.
Der Herausforderer hämmerte seinen Kopf auf das Pult. Er hatte sich die ganze Debatte schon ein wenig anders vorgestellt und war nicht davon ausgegangen, dass er in einem Rettungsboot ohne Ruder durch einen Sturm segeln musste. Hinter ihm wurden die Möhrenwagen von Aufständischen umgeschmissen und als die Stadtwache dazwischen ging, setzte Geschrei über beliebige Polizeigewalt ein.
»Nun, ich glaube, die Wahl kann ich vergessen«, sagte er und blickte Mickey geschlagen an.
»Du bist noch jung«, sagte Mickey und lächelte erhaben. »Versuche es in sieben Jahren einfach noch mal.«
»Woran hat es denn gelegen?«, fragte der junge Mann.
Mickey lächelte und wandte sich einem Aufständler zu. »Hey. Sie da. Ja, Sie mit der Melone! Möchten Sie einen Beutel voller Angst für fünf Crowns kaufen?«
»Einen Beutel voller Angst, sagen Sie?«, fragte der ältere Mann und stellte das geplünderte Radio beiseite, um sich durch den Bart zu fahren. »Ich weiß nicht. Das klingt nicht nach einer guten Wertanlage.«
»Aber guter Mann, das ist doch nur ein Name. Ich weiß, dass er nicht besonders gut gewählt ist, aber der junge Herr neben mir ist noch recht unerfahren. Ich verspreche Ihnen, dass dieser Beutel nichts Besorgniserregendes enthält.«
»Na, wenn das so ist«, sagte der Mann, kramte das nötige Kleingeld heraus und hielt es nach oben.
»Da müssen Sie sich an meinen Kollegen wenden, mein Herr«, sagte Mickey. »Ihm gehören die Beutel.«
»Ich habe keine Beutel voller Angst«, sagte der Herausforderer.
»Das hab ich ja gerne!«, schimpfte der ältere Mann. »Erst bekommt man einen Beutel voller Angst versprochen und dann steht man mit leeren Händen da. Kein Wunder, dass Sie in den Umfragen so schlecht abgeschnitten haben!«
Der alte Mann nahm sein Diebesgut und zog sich wetternd zurück. Ein Sack voller Möhren flog auf die Bühne. Die Leute zeigten darauf, buhten das Gemüse aus und zogen ihn in die Menge. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte der Löwendompteur aus Leidenschaft. »Hast du noch einen Tipp für mich?«
Mickey blinzelte ihrem Konkurrenten wohlwollend zu. »Die Leute wollen Adjektive. Je wertender die sind, umso besser. Dann müssen sie sich weniger Gedanken darüber machen, wie sie etwas zu finden haben.«
»Und jetzt?«
»Tun wir noch ein bisschen so, als ob wir uns nicht leiden könnten und gehen im Anschluss essen.«
»Das ist ein Wort.«
Die beiden Bürgermeisterkandidaten blieben an ihren Pulten stehen und beobachteten die Ausschreitungen, die sich immer weiter hochschaukelten.
Der oberste Regulator Vincent Abernathy betrat die Bühne, um die zwei Strohpuppen abzuholen, von denen einer für die nächsten sieben Jahren in sein Puppenhaus ziehen würde. Gemeinsam stiegen sie in seine Kutsche, die sich trotz der Randale zügig vorwärts bewegen konnte. Sie schaukelte zwar ein wenig, aber das war eher entspannend als bedrohlich. Vincent lauschte den Ausführungen seiner zwei Marionetten geduldig und beobachtete das Treiben um die Kutsche herum.
»Die große Frage ist nicht, ob, wann und warum das Rad stehen bleiben wird«, sagte Vincent und sah auf die Leute, die sich mit Möhren bewarfen. »Mich beschäftigt eher, wie schnell ich es wechseln kann.«