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Wackelpuddingweich
Es ist kalt. Die warmen Tage sind nun endgültig vorbei. Die Blätter fallen von den Bäumen und die Tage werden grau und blass. Es passiert jedes Jahr wieder. Auf den Sommer folgt der Herbst und darauf der Winter. Und nach einer kleinen Ewigkeit wird es wieder Frühling. Man kann nichts dagegen tun, es passiert einfach. Wieder und wieder.
Ich sehe aus dem Fenster und beobachte, wie der Regen gegen die Fensterscheibe klatscht. Dann sehe ich mich im Klassenraum um und betrachte die mürrischen Gesichter meiner Mitschüler. Wahrscheinlich trauern sie den warmen Tagen hinterher.
Ich sehe auf mein Arbeitsblatt und stelle fest, dass ich keine Ahnung habe, wie ich die Aufgaben lösen soll. Ich sehe zu Herrn Dörrmann, aber auch er starrt aus dem Fenster und sieht so aus, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Meine Güte, gibt es nicht einen Menschen auf dieser Welt, der gute Laune hat? Selbst Nick, unser Klassenclown, hat heute kein Lächeln im Gesicht. Und auch Nina, die normalerweise immer mit einem Spiegel vor der Nase herumläuft, kann anscheinend ihr Gesicht ohne ein soo bezaubernd aussehendes Lächeln nicht ertragen.
Ich sehe zu Ben und ein lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Warum weiß ich auch nicht. Aber es tut gut. Plötzlich sieht er mich an und ich werde rot. Es ist normal, ich werde immer rot. Immer. Es ist nicht so, dass ich es okay finde, aber im Laufe der Jahre, habe ich mich damit abgefunden.
Ben sieht mir in die Augen, nein, eigentlich sieht er mir direkt ins Herz. Er runzelt kurz die Stirn und sieht wieder auf sein Arbeitsblatt. Kein freundlicher Blick, kein Lächeln. Nur ein rätselhaftes Stirnrunzeln. Ist es schon so weit gekommen?
Kann man nicht irgendwann wieder normal zueinander sein. Wir sind immerhin schon zwei Monate nicht mehr zusammen. Wir hatten uns nicht gestritten, keiner von uns war fremdgegangen. Wir hatten uns einfach irgendwann nicht mehr geliebt.
Wir saßen auf der Bank an der Elbe, auf der wir so oft gesessen hatten. Die Sonne schien. „Mia, was ist los?“, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich habe irgendwie das Gefühl das es zwischen uns nicht mehr so gut läuft.“, sagte er nach einer Weile Schweigen. Ich sah ihn nicht an, sondern weiterhin eine Möwe und dachte dabei über seine Worte nach.
„Mia?“; fragte er noch einmal, vielleicht um sich zu versichern, ob ich überhaupt zugehört hatte. Die Möwe flog weg, ich drehte mich zu ihm um, sah in seine dunklen Augen, und nickte.
„Das Gefühl habe ich auch.“, sagte ich.
„Es ist einfach so, dass ich nicht mehr so viel wie früher für dich empfinde, Ben. Wir haben uns zu sehr verändert. Wir haben nichts mehr gemeinsam, du hast deine Band, mit der du jede Sekunde verbringst. Ich bin jetzt endlich in die Basketball Mannschaft gekommen.“
„Ja, irgendwie ist das wohl so.“, sagte er und seine Stimme klang bedrückt. Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Vielleicht dachten wir über Worte nach, die unsere Gefühle zurückholen könnten. Aber es gab keine.
„Also ist das zwischen uns vorbei?“, fragte ich und war schon ein bisschen betrübt. So hatte ich mir das Ende unserer Beziehung nie vorgestellt. Ich hatte immer gedacht es hält wirklich ewig, naja, solange sich keiner anderweitig verliebt oder wir uns so doll streiten, dass man sich nicht mehr verzeihen kann. Und jetzt? Wie sah die Wirklichkeit aus? Wir redeten über das Ende unserer Beziehung, als wäre es nichts besonderes, etwas Alltägliches.
„Ja, ist vielleicht besser.“, sagte er. Wir saßen noch ein bisschen schweigend nebeneinander, wir sagten nichts, wir taten nichts, wir saßen einfach still da. Ich stand auf und wischte meine Hände an meiner Hose ab. Er erhob sich auch, dann sah er mich wehmütig an.
„Tut mir leid. Du hast jemanden besseren verdient als so einen Idioten wie mich.“, sagte er. „Tut mir leid das ich so eine Nervensäge war.“, sagte ich und lächelte schwach. Er küsste mich auf die Wange, drehte sich um und ging. Ich blieb stehen und fragte mich, wo mein Kampfgeist geblieben war.
Von da an redeten wir nicht mehr miteinander, kein Wort. Es war nicht so, dass wir es vermieden, es war einfach so. Vielleicht hatten wir auch nicht den Mut es zu versuchen.
Mir fehlen unsere Gespräche, sein Lächeln und seine Küsse und sogar unsere Streitereien. Aber nur weil ich das vermisse, sind da immer noch kein überschnelles Herzklopfen, keine Schmetterlinge im Bauch.
Das läuten der Schulglocke reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich sollte aufhören, so viel zu träumen und über die Vergangenheit nachzudenken. Früher hatte ich das auch nicht gemacht. Energisch packe ich meine Sachen und versuche nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Ich ziehe meine Jacke über und dränge mich an meinen Mitschülern vorbei in den Flur, wo ich mich mit meiner besten Freundin Franzi treffen will. Da sie Physik hat und ich Chemie, hatten wir nicht gemeinsam Unterricht. Ich lehne mich gegen die Wand und schließe ein paar Minuten die Augen, da jetzt alle nach draußen stürmen, rempeln mich ein paar Leute an, die ich aber einfach ignoriere. Was kann ich auch schon dagegen tun? Ihnen zu sagen, dass sie aufpassen sollen, würde sowieso nichts bringen, da konnte ich es auch getrost lassen. Früher hätte ich etwas gesagt, aber das war früher.
Als es wieder leiser wird, öffne ich die Augen. Nur noch Ben, ich und ein Mädchen das im nächsten Moment um die Ecke verschwindet, sind im Gang. Ich schlucke, das ist das erste Mal, dass ich mich mit ihm allein in einem Raum befinde.
Zumindest seit wir nicht mehr zusammen sind. Er kommt auf mich zu und lehnt sich neben mich an die Wand. Ich weiß nicht was ich davon halten soll und da er nichts sagt, sage ich auch nichts. Ich verfluche Franzi, sonst ist sie immer pünktlich. Immer! Warum heute nicht? Und warum geht Ben nicht einfach? Warum lehnt er hier neben mir an der Wand, als wäre das völlig normal? Okay, es ist normal. Zumindest sollte ich es als normal ansehen, denn eben hatte ich selbst noch darüber nachgedacht, dass es langsam Zeit war, wieder normal zueinander zu sein.
„Wartest du auf Franzi?“, fragt er, mit seiner rauen Stimme. Ich nicke.
„Aber anscheinend hat sie mich vergessen.“, füge ich hinzu. Plötzlich stellt Ben sich vor mich und sieht mir in die Augen, so dass meine Knie die Konsistenz von Wackelpudding bekommen und ich mich an der Wand festhalten muss.
Mein Herz macht einen Satz und schlägt zehnmal so schnell wie vorher. Er runzelt wieder die Stirn, sieht zu Boden, dann sieht es fast so aus als wolle er gehen und dann…küsst er mich. Erst ganz zaghaft, doch dann zieht er mich an sich und küsst mich stürmischer. Meine Knie werden noch ein bisschen weicher und ich schlinge meine Arme um seinen Hals. Ich vergrabe meine Hände in seinen dunklen Locken und er zieht mich auf die Zehenspitzen. Ich beiße ihm spielerisch in die Lippe und er seufzt. Ich vergesse die zwei Monate schweigen und die Zeit, den Raum. Ich vergesse was war, was ist und was sein wird. Nur jetzt und hier ist wichtig. Ich fahre ihm über die Brust und kralle mich in seinen Pulli. Ben stellt mich abrupt wieder auf die Füße, sieht mich noch einmal kurz an. Dann murmelt er:
„Wir sehen uns.“ Und geht. Er geht einfach! Und lässt mich verwirrt stehen, sagen kann ich nichts. Ich bin einfach nicht in der Lage dazu. Bevor ich überhaupt einen Satz formulieren kann, ist Ben schon verschwunden und der Flur ist leer. Zitternd rutsche ich an der Wand hinunter und sammle erstmal meine Gedanken, meine Gefühle und versuche nicht mehr zu zittern.
Was bitteschön war das?, frage ich mich als ich wieder einigermaßen klar denken kann. Mein Ex-Freund küsste mich nach Wochen, in denen wir nicht ein Wort gewechselt haben und geht dann einfach. Das war doch wohl nicht normal. Da Franzi nicht kommt und ich aufgehört habe zu zittern, nehme ich meine Tasche und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Zuhause rufe ich erstmal Franzi an. Sie geht aber nicht ran. Also schreibe ich ihr eine SMS, das sie sich dringend, wirklich ganz dringend melden soll. Ich muss jetzt unbedingt mit jemandem reden.
Dann mache ich meinen PC an, hauptsächlich um mich abzulenken. Da das allein höchstwahrscheinlich nicht helfen wird, hole ich mir eine Tafel Schokolade. Nervennahrung! Nichts hilft bei Verwirrtheit, Traurigkeit, Alleinsein und Überglücklichsein mehr. Ich logge mich bei Facebook ein. Ben ist online. Seine Statusnachricht: Es tut mir leid.
Meint er damit mich? Tut es ihm Leid das er mich geküsst hat? In dem Sinne, das er es bereut? Oder tut es ihm leid, dass er mich mit dem Kuss so überfallen hat? So ganz ohne Vorwarnung, ohne Kommentar, vielleicht ohne Grund. Eigentlich, war das für Ben eine ganz normale Aktion gewesen, typisch von ihm. Ich überlege ob ich ihn fragen soll, was das sollte. Nein, das würde komisch rüber kommen, allein schon, wegen meiner Reaktion. Ich kann ja nicht wirklich behaupten, ich hätte ihn weggestoßen oder etwas anderes gegen diesen Kuss getan. Es ist nicht so, dass ich mich nicht traue, aber ich schreibe ihm nicht.
Den ganzen Nachmittag tue ich nichts. Die Versuche, meine Hausaufgaben zu machen, zu lesen und Fernseher zu gucken scheitern kläglich. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Immer wieder wandern meine Gedanken in den Schulflur, zu dem Gefühl von Bens Lippen auf meinen. Ein Kribbeln geht durch meinen Körper. Es war fast wie bei unserem ersten Kuss gewesen. Zumindest die Gefühle, das Kribbeln, das Vergessen von Zeit und Raum.
Es ist wie, das erste Mal Fahrrad fahren, man hat Angst, man ist stolz auf sich, diesen Schritt im Leben geschafft zu haben und ein unglaubliches Glücksgefühl breitet sich im Körper aus. So war es auch bei Bens und meinem ersten Kuss gewesen. Zumindest ähnlich.
Wir saßen im Kino in der letzten Reihe. Ich war furchtbar nervös. Wenn er nervös war, ließ er es sich nicht anmerken. Als das Licht im Saal ausging legte sich die Nervosität ein bisschen und ich ließ es einfach auf mich zu kommen. Mir war klar, dass wir uns heute küssen würden und ich freute mich unheimlich, endlich seine Lippen auf meinen spüren zu können. Schon kurze Zeit später nahm Ben meine Hand und wir küssten uns das erste Mal. Es war wie Brausepulver auf der Zunge. Prickeln, sauer und süß gleichzeitig. Ich kann mich nicht mehr an den Film erinnern, denn wir konnten nicht mehr die Lippen von einander lassen. Wir küssten uns auch noch nach dem Film. Und auch noch mindestens eine halbe Stunde vor meiner Haustür, wobei meine Beine das erste mal die Konsistenz von Wackelpudding bekamen.
Als meine Mum nach Hause kommt, liege ich mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht, auf dem Bett. Ich denke über Küsse mit Ben nach.
„Hast du schon gegessen?“, fragt sie mich.
„Nö.“, antworte ich einsilbig.
„Soll ich für dich auch Nudeln machen?“, fragt sie.
„Nö.“ Sie sieht mich besorgt an, wahrscheinlich wundert sie sich, da ich sonst nie auf Nudeln verzichten kann. Sie sagt aber nichts. Nachdem sie in die Küche verschwunden ist, stehe ich auf und hole einen gelben Schuhkarton aus meinem Schrank.
Ich setze mich im Schneidersitz auf mein Bett und starre den Karton an. Es dauert eine Weile, bis ich ihn öffne.
Jeder Gegenstand in diesem Karton hat eine Geschichte. Auch die Mohnblume ganz oben auf. Ich nehme sie und lege sie neben den Karton. Sie hat eine Geschichte, aber erinnern möchte ich mich gerade nicht daran. Dann hole ich einen Stapel Fotos heraus.
Fotos von über einem Jahr Beziehung. Erinnerungen! Jedes einzelne eine Erinnerung. Ich sehe sie mir an, als können sie mir helfen zu verstehen.
Ben und ich beim Schlittschuhlaufen.
Ben und ich beim Zelten, mit ein paar Freunden.
Ben und ich am Strand.
Auf allen Bildern sehen wir verliebt aus, küssen uns. Ich sehe mir ein Foto genauer an, Franzi hatte es gemacht. Seine dunklen Locken fallen ihm wirr ins Gesicht seine braunen Augen strahlen in die Kamera. Meine Haare sind rot und unordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden, meine blauen Augen sind schwarz geschminkt.
Ich lege die Fotos neben mich aufs Bett. Die einzigen Sachen, die jetzt noch im Karton sind, sind: zwei Kinokarten, sie waren von unserem ersten gemeinsamen Kinobesuch. Die Erinnerung an unseren ersten Kuss. Ein kleiner Teddybär mit einem „I LOVE YOU“ Herz, den Ben auf dem Dom gewonnen hatte. Ein Liebesbrief, mit Worten, von denen ich nicht erwartet hatte, dass Ben sie kannte. Und zuletzt noch ein silberner Ring, den ich bekommen hatte als wir ein Jahr zusammen waren. Vielleicht war es keine Gute Idee gewesen, mir diese Sachen anzugucken. Es sind schöne Erinnerungen.
Natürlich! Aber gerade deswegen beeinflussen sie mich. Sie erinnern mich an eine schöne Zeit mit Ben. Natürlich stelle ich mir jetzt vor, wie es wäre wenn wir wieder zusammen kommen würden. Aber ich muss auch bedenken, dass der Kuss gar nichts mit einer Beziehung zu tun haben könnte, sondern einfach ein Kuss war.
Eine Laune von Ben.
Ich muss wissen was das ganze bedeutet. Ich werde ihn fragen. Ich setz mich wieder an den PC. Er ist offline. Ich will gerade schreien, als ich sehe dass er bei MSN noch online ist.
Mia Fock sagt: Hey!
Ben Peters sagt: Hey!?
Mia Fock sagt: Kann ich dich mal was fragen?
Ben Peters sagt: mhm…jep
Mia Fock sagt: Warum hast du mich vorhin geküsst?
Er antwortet nicht! Ich stehe auf, laufe nervös durch mein Zimmer, setze mich wieder an den PC und starre auf den Bildschirm. Doch er antwortet einfach nicht!
Ich stehe wieder auf, probiere noch einmal Franzi anzurufen, habe aber wieder kein Glück. Es ist nicht zum aushalten. Sie ist immer erreichbar. Warum heute nicht?
Ich fange an mein Zimmer aufzuräumen, nur um irgendetwas zu tun, ordentlicher sieht es danach nicht aus. Eher im Gegenteil. Erst als ich eine Seite von meinem Buch zwanzig Mal gelesen habe, aber immer noch nicht weiß worum es geht, antwortet er. Endlich!
Ben Peters sagt: Ich weiß es nicht.
Ich muss fast eine halbe Stunde auf eine Antwort warten und dann so etwas. „Ich weiß es nicht“. Eine sehr geistreiche Antwort. Er küsst mich und weiß nicht warum.
Wahrscheinlich weiß er warum, denke ich mir. Wahrscheinlich weiß er es ganz genau. Aber warum sagt er es mir dann nicht? Ich laufe unruhig durch unsere Wohnung und habe Lust zu schreien. Ich tue es natürlich nicht. Ich setze mich wieder an den PC und will Ben schreiben, dass es doch einen Grund geben muss. Aber Ben ist offline. Der Typ macht mich noch wahnsinnig.
„Meine Güte. Ich habe nun mal nicht 24 Stunden Zeit für dich.“, sagte Ben und sah mich genervt an. „Das will ich doch auch gar nicht. Aber ab und zu. So einmal in der Woche vielleicht. Ist das zu viel verlangt?“, fragte ich mit sarkastischem Unterton und trat gegen die Bank, ein stechender Schmerz durchfuhr mein Bein, ich ignorierte ihn. „Wir waren im Kino oder?“, fragte er.
„Ja. Vor zwei Wochen.“, antwortete ich genervt.
„Okay, vielleicht sollte ich mir ein bisschen öfter Zeit nehmen. Wenn du dann nicht mehr so eine Nervensäge bist und mir die letzten beiden Wochen verzeihst. Ich war im Stress, mit der Band und der Schule und dann hatte ich noch Zoff zu hause.“, sagte er, zog mich an sich und wollte mich küssen. Ich drückte ihn weg.
„Ich bin keine Nervensäge! Wie oft habe ich dir schon verziehen? So oft. Jeden einzelnen deiner tausend Fehltritte, für die jedes andere Mädchen schon Schluss gemacht hätte. Du hast zweimal fremd geknutscht, ich habe dir verziehen. Du hast meinen Geburtstag vergessen, ich habe dir verziehen. Jedes mal wenn du es wochenlang nicht nötig hattest dich zu melden, habe ich dir verziehen. Wenn die Band wieder mal wichtiger war als alles andere, habe ich dir verziehen. Wieder und wieder. Ich akzeptiere deine Fehler, sie gehören zu dir. Kein Mensch ist perfekt. Aber ich habe langsam echt keine Lust mehr drauf.“, sagte ich ganz ruhig, ich hatte keine Kraft dazu ihn anzuschreien. Er starrte auf den Boden. Mir stiegen Tränen in die Augen.
„Ich bin ein ziemlicher Idiot.“, sagte er. Tränen liefen mir die Wangen hinunter und ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Aber ich widersprach ihm nicht. Er kam auf mich zu und nahm mich in den Arm, legte den Kopf auf meinen.
„Hey, nicht weinen, Süße.“
„Ich weine nicht. Ich heule.“ „Warum denn?“
„Weil du mich wahnsinnig machst.“ Er lachte leise. Dann küsste er mich und meine Knie wurden ganz weich.
Ich schmeiße mich aufs Bett und schreie in mein Kissen. Helfen tut es nichts. Er war schon immer ein Mistkerl gewesen. Aber es hatte nie etwas an meinen Gefühlen geändert. Ich versuche zu heulen, klappt aber nicht, weinen auch nicht. Also lege ich mich hin und betrachte meine Decke. Es ist schon dunkel draußen, als mein Handy klingelt. Franzi, denke ich, springe auf, laufe gegen meinen Schreibtisch, schmeiße die hälfte runter. Es ist nicht Franzi, es ist Marcel. Der hat mir gerade noch gefehlt. Marcel ist der Junge auf den ich, zumindest glaubte ich das bis vorhin, stehe. Er ist das komplette Gegenteil von Ben. Er hat graue Augen und blonde Haare. Er spielt genau wie ich Basketball und wir haben insgesamt viel gemeinsam. Er ist super süß und nett, er ist charmant und einfühlsam. Er hört mir zu.
Ich atmete ruhig und entspannt. Marcel und ich liefen nebeneinanderher. Wir liefen nicht direkt zusammen, wir hatten jeder seinen eigenen Rhythmus. Bei Ben und mir, waren wir immer nach kurzer Zeit in einen gemeinsamen, angenehmen Rhythmus gefallen. Eine unserer wenigen Gemeinsamkeiten. Joggen. Marcel lächelte mich von der Seite an. Ich beobachtete fasziniert das Glitzern der Sonne in seinen Haaren.
„Sprinten wir ein Stück?“, fragte er. Ich nickte. Außer Atem lehnte ich mich kurze Zeit später gegen einen Baum. Er kam auf mich zu und zog mich in seine Arme. Ich war nicht überrascht, immerhin trafen wir uns jetzt schon ziemlich lange und ich hatte ihm schon mehr als deutlich gezeigt, dass ich an ihm interessiert war. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, aber ich schüttelte den Kopf. Er lächelte schüchtern. Ich legte ganz vorsichtig meine Lippen auf seine. Dann löse ich mich ganz vorsichtig von ihm. Er zieht mich wieder an sich und küsst mich noch einmal. Ich öffne ein wenig meinen Mund und der Moment kam, in dem eigentlich meine Knie hätten weich werden sollen. Wurden sie aber nicht. Mein Herz schlug ruhig und gleichmäßig, keine Sprünge und kein Herzrasen. Es fühlte sich an, als hätte er diesen Moment ganz genau geplant. Sein Atem roch nach Pfefferminzbonbon. Bens stürmische Art fehlte mir ein bisschen. Aber es war okay, es fühlt sich halt bei jedem anders an.
Jetzt weiß ich nicht ob ich noch auf Marcel stehe. Also gehe ich auch nicht an mein Handy. Er ist zwar nett und sieht gut aus, aber im Grunde genommen kommen seine durchschnittlich grauen Augen einfach nicht gegen Bens Schokoladenbraune an. STOP! Ben ist mein Ex-Freund. Ex-Freund! Und ein Kuss wird nichts daran ändern. Es war nur ein Kuss. Ein ziemlich guter Kuss, so ein perfekter Kuss, mit Wackelpuddingknien und Herzrasen. Aber das ändert nichts daran, wir haben uns getrennt, da gab es Gründe für! Ich will gerade doch noch an mein Handy gehen als Marcel auflegt. Dann eben nicht, denke ich. Ich nehme meine Jacke und gehe nach draußen. Ich brauche frische Luft.
Ich laufe durch die Straßen und atme die Hamburger-Schmuddelwetter-Luft ein. Mein Weg führt mich zum Elbstrand, wo ich immer wieder mit meinen hohen Absätzen im feuchten Sand versinke. Hätte ich bloß andere Schuhe angezogen! Mein Handy piept.
In der Hoffnung die SMS ist von Franzi, krame ich es aus der Tasche. Sie ist aber nicht von Franzi. Sie ist von Ben:
Vielleicht hätten wir um unsere Gefühle kämpfen sollen. Ben
Ich starre auf die Worte und stürze ins komplette Gefühlschaos. Ich achte nicht mehr darauf, wo ich hin gehe. Ich lasse einfach die Tränen über meine Wangen laufen und versuche nicht zu denken. Als ich das erste Mal wieder darauf achte, wo ich bin muss ich gleich noch ein bisschen mehr heulen.
Am Abend nachdem Ben und ich Schluss gemacht hatten, hatte ich auch hier gestanden und aufs Wasser gestarrt. Meine nackten Füße hatten sich in den warmen Sand gegraben. Plötzlich war mir bewusst geworden, dass ich ohne ihn allein war, dass das Gefühl von Wärme und Geborgenheit verschwunden war. Mir wurde in diesen Stunden erst später bewusst, wie allein ich ohne ihn war. Mir wurde erst in diesem Moment klar, dass ich noch etwas für ihn empfand. Aber es war zu spät gewesen. Oder?
Mein Handy klingelt und holt mich damit aus der Erinnerung, ich gehe aber nicht ran. Wer weiß wer es diesmal ist. Es fängt an zu Regnen, aber ich mache mir nicht mal die Mühe meine Kapuze aufzusetzen. Ich hoffe sogar, krank zu werden. Dann muss ich wenigstens nicht zur Schule! Dann muss ich wenigstens Ben nicht sehen! Langsam wird mir doch kalt und ich gehe nach Hause.
Meine Mum sieht mich komisch an, sagt aber wieder nichts. Das liebe ich an meiner Mum, sie wartet bis man zu ihr geht und von alleine redet. Sie bohrt nie nach. Und das ist gut so, denn jetzt gerade in diesem Moment habe ich gar keine Lust ihr zu erzählen in was für einem Durcheinander ich mich befinde. Also gehe ich nur an ihr vorbei in mein Zimmer. Dort nehme ich den Schuhkarton voller Erinnerungen und stelle ihn zurück in den Schrank. Mein Handy klingelt schon wieder. Ich will erst nicht rangehen, aber vielleicht ist es diesmal Franzi. Und sie ist es tatsächlich.
„Hey, Mia. Sorry, dass ich noch nicht angerufen habe und das ich vorhin nicht gekommen bin, aber du glaubst nicht was passiert ist. Steffen kam nach der Schule zu mir und hat mich gefragt ob ich mit ihm noch was trinken gehe. Und ich habe natürlich ja gesagt. Ich hoffe du verstehst das. Ach klar verstehst du das. Immerhin bist du die beste Freundin die es gibt.“, plaudert sie gleich munter drauf los.
„Klar ist in Ordnung.“, sage ich.
„Er ist soo süß! Du hättest das erleben müssen. Wir gehen so ins Cafe und setzen uns an einen Tisch. Wir bestellen so beide etwas zu trinken und reden über alles Mögliche. Und dann sieht er mir in die Augen und meint so ich sei voll nett und naja, dann hat er mich gefragt ob ich Freitag mit ihm ins Kino gehe.“, erzählt sie mir aufgeregt. Ich freu mich für sie. Vor allem, da Steffen und sie super zusammen passen würden. Sie haben die gleichen Hobbies, hören die gleiche Musik. So wie Ben und ich, denke ich.
„Das ist doch schön.“, schniefe ich.
„Oh Gott, Mia, was ist denn los.“, fragt sie beunruhigt.
„Kannst du noch vorbei kommen? Ich muss dir was erzählen.“, schniefe ich.
„Na klar. Ich bin gleich bei dir.“, sagt sie und legt auf. Ich muss leichtlächeln. Sie wird nicht erfreut sein, warum, viel mehr wegen wem es mir so beschissen geht.
„Wie konnte er sie küssen?“, fragte ich Franzi. Sie sah mich an und seufzte
„Weil er kein Typ ist, den es interessiert dass er eine Freundin hat. Mia wann verstehst du endlich das er ein Scheißkerl ist?", fragte Franzi. „Er ist kein Scheißkerl! Und er liebt mich, ich bin ihm nicht egal. Jeder macht Fehler.“, sagte ich. Franzi verdrehte die Augen
„Er betrügt dich, er vergisst Verabredungen. Sogar deinen Geburtstag hat er vergessen. Und du willst mir erzählen du liebst ihn immer noch? Mia, das ist jetzt nicht böse gemeint, aber du hast doch einen Schaden. Das…“
„Er betrügt mich nicht, er hat nur zweimal ein anderes Mädchen geküsst. Das passiert. Aber ich verzeihe ihm. Und ich habe keinen Schaden! Nur weil du kein Glück mit Typen hast.“, unterbrach ich sie. Sie kniff die Augen zusammen und sah mich wütend an.
„Zieh mich da nicht mit rein. Und außerdem hast du mich doch eben voll geheult: Wie kann er sie nur küssen? Wie kann er nur? Denkst du das ist Glück mit so einem Mistkerl wie Ben zusammen zu sein? Er raucht, er hat keine Zeit für dich, er hängt mit den falschen Leuten ab. Er ist schlecht für dich.“
„Du hörst dich an wie meine Mutter.“, sagte ich. Franzi schüttelte den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um und ging. Streit mit der besten Freundin, mit dem Freund, mit der Mutter. Mein Leben konnte gar nicht besser laufen.
Franzi sieht mich an, jetzt wo ich ihr alles erzählt habe, sieht sie mich besorgt an.
„Kann es sein, das ihr euch noch liebt?“, fragt Franzi nach einer Weile und ich bin wieder mal überrascht, von ihrer Fähigkeit die Dinge nüchtern, wie eine Außenstehende zu betrachten. Ich sehe sie an, wo blieb die schlechte Bemerkung über Ben? Verliebt? Ben und ich? Nein, das ist Vergangenheit. Oder?
„Nein, sonst hätten wir uns doch nicht getrennt.“, sage ich, nachdem ich darüber nachgedacht habe. Nein, es kann einfach nicht sein.
„Warum hat dich dieser eine Kuss dann so aus der Fassung gebracht?“, fragt Franzi und sieht mich zweifelnd an.
„Hat er gar nicht.“, erwidere ich. Sie sieht mich kopfschüttelnd an. Okay, sie hat Recht. Der Kuss hat mich aus der Fassung gebracht. Immerhin sitze ich hier und heule. Aber das kann natürlich auch an den Hormonen liegen.
„Vielleicht hättet ihr nicht einfach so schnell Schluss machen sollen. Vielleicht hattet ihr einfach ein Beziehungstief. „
„Ein Beziehungstief…“, murmel’ ich. Franzi nickt.
„Oder ihr brauchtet einfach mal eine Pause.“, sagt sie dann.
„Vielleicht hätten wir um unsere Gefühle kämpfen sollen…“, sage ich, als mir die Worte von Bens SMS wieder einfallen. Sie nickt nur.
„Liebst du ihn?“, fragt Franzi nach einiger Zeit und spricht damit das aus, was ich mich schon die ganze Zeit selber frage. Liebe ich ihn?
„Ich weiß nicht. Ist das nicht die gleiche Frage wie die, ob wir uns noch lieben?“
„Vielleicht, vielleicht ist es aber auch eine ganz andere.“, sagt Franzi. Ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn liebe. Auf der einen Seite sind da über ein Jahr Beziehung und ein wundervoller Kuss und auf der anderen Seite sind da zwei Monate Schweigen und Marcel.
„Kein blöder Kommentar, gegen Ben?“, frage ich. Sie schüttelt den Kopf.
„Anscheinend liebst du ihn wirklich.“, sagt sie nur.
Das Klingeln meines Weckers reißt mich aus einem unruhigen Schlaf. Nur langsam kommen die Erinnerungen an den gestrigen Tag. Müde steige ich aus dem Bett und gehe ins Bad. Als ich in den Spiegel schaue, bekomme ich einen Schreck.
Meine Augen sind rot und geschwollen, ich habe überdimensionale Augenringe und meine Haare hängen schlaff herunter. „Toller Start in den Tag“, denke ich und gehe duschen. Danach versuche ich zu retten was zu retten ist. Einigermaßen zufrieden mit meinem Äußeren, gehe ich zur Schule.
Ich betrete den Klassenraum und vermeide es Ben anzusehen. Warum hat er das ganze nur so kompliziert gemacht? Es war doch alles gut, so wie es war. Ich lasse mich auf den Platz neben Franzi sinken und krame mein Deutschbuch aus der Tasche. Da sie noch schnell ihre Hausaufgaben fertig macht, störe ich sie nicht.
Als Frau Schulz die Stunde beginnt, denke ich über Ben und mich und den Kuss nach. Außerdem über Beziehungstiefs. Als es zur Pause klingelt habe ich einen Entschluss gefasst. Ich bin jetzt, hier in diesem Moment, nicht in Ben verliebt. Aber ich bin auf dem besten Weg es wieder zu sein, das ist mir klar. Und irgendwie habe ich das Gefühl, gar nichts dagegen zu haben.
Das einzige, worüber ich mir Gedanken mache ist, was meine Freunde sagen würden wenn ich jetzt wieder mit Ben zusammen kommen würde. Wäre ja schon irgendwie komisch. Aber, wenn man jemanden liebt, sollte man sich darüber keine Gedanken machen, was andere denken. Es ist die Entscheidung von einem ganz allein. Einfacher macht es die ganze Sache natürlich auch nicht.
Franzi will zur Cafeteria gehen und da ich keine Lust habe, bleibe ich in der Klasse. Ich versuche noch ein bisschen meine Mathehausaufgaben zu machen, da ich es gestern nicht geschafft habe.
„Wir müssen Mathe machen.“, hatte Ben gemurmelt, von meinen Lippen lösen konnte er sich trotzdem nicht. Und da ich gar keine Lust auf Mathe gehabt hatte, machte ich mir gar nicht erst die Mühe, es zu versuchen. Unser Kuss war immer inniger geworden und irgendwann hatte keiner von uns an Mathe gedacht. Ich schnappte nach Luft und atmete zitternd ein. Er grinste mich schelmisch an und küsste mich wieder. Ich hatte das Kribbeln, jeder Faser meines Körpers genossen. Mein Herz schlug so schnell wie noch nie. Langsam wanderte seine Hand unter mein T-Shirt und seine Finger hinterließen eine heiße Spur auf meiner Haut. Seine Küsse wanderten meinen Hals hinunter, seine Hand zum Knopf meiner Hose. Ich saugte scharf die Luft ein und schloss die Augen. Diese Situation hatte es so oft gegeben in den letzten Wochen. Ich merkte wie er mich ansah und sich nicht bewegte. Er hatte mein zögern bemerkt. Ich wusste, dass es ihm nicht nur darum ging, sondern, dass er warten würde. Ich konzentrierte mich wieder auf die wärme seiner Hand auf meiner Haut, atmete entschlossen ein und küsste ihn. Es sprach nichts dagegen. Gar nichts. Besonders, die Tatsache, das ich ihn liebte.
Als ich hoch schaue, kommt es mir plötzlich unheimlich ruhig vor. Ich gucke mich um und stelle fest, dass nur noch Ben und ich hier sind. Ich schlucke.
„Ben?“, sage ich, ohne überhaupt zu überlegen, was ich sagen will.
„Was?“, fragt er ohne mich anzugucken.
„Kannst du mir in Mathe helfen?“, frage ich. Er sieht mich an und plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn liebe.
„Klar.“, sagt er, wenig begeistert, steht auf und kommt zu mir. Er setzt sich auf Franzis Platz und beugt sich über mein Matheheft und muss feststellen, dass ich schonfertig bin. Okay, ich hätte mir was Besseres ausdenken sollen. Aber manchmal fällt mir das denken in solchen Situationen nicht so leicht. Er sieht mich an, sagt aber nichts. Also muss ich mir schnell was ausdenken.
„Du bist schon fertig, Mia.“, sagt er dann, als niemand von uns etwas sagt. Er steht auf. Ich springe auf, nehme seine Hand. Er dreht sich um und sieht mir in die Augen. Was tue ich da nur? Bin ich jetzt völlig verrückt geworden?
Ich kann jetzt alles nur noch schlimmer machen, oder…alles auf eine Karte setzen. Ich entscheide mich für zweites und küsse ihn. Ganz kurz nur. Dann sehe ich ihn an und es sieht fast so aus als wäre das eine schlechte Idee gewesen. Doch dann zieht er mich so plötzlich an sich, dass ich gegen ihn stolpere, direkt in seine Arme. Er lächelt mich an.
„Es ist nie zu spät zu kämpfen.“, sage ich. Unsere Lippen berühren sich und meine Knie werden wie bei jedem seiner Küsse, wackelpuddingweich.