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Ist schon ein paar Jahre alt, freue mich aber dennoch über Feedback
Wachsen
Es war gewollt, dass der Junge auf eine Sicht verzichten könne. So zog er, vertrauend auf seine verbliebenen Sinne, in den Wald.
Von der Neugier ergriffen, horchte er dem Wind. Eben jener Wind schmiegte sich um die Bäume und fand sich im Säuseln der Blätter wieder.
Das Kind versuchte selber keine Geräusche zu verursachen, sodass er uneingeschränkt seine Umgebung wahrnehmen konnte.
Sein Gehör lag im Rausch, als er zu seiner Verwunderung Gesänge wahrnahm. Zierlich, unschuldig und mit Leben erfüllt.
Er erfuhr nie etwas erhellenderes, nie etwas schöneres und nie erfuhr er auch nur im entferntesten Sinne dieses Gefühl, welches in ihm zu wachsen schien.
Der Knabe wurde von der Melodie so erfasst, er konnte nicht anders als ihr entgegen zu laufen. Seine vollständige Aufmerksamkeit auf die Akustik gerichtet, war es unausweichlich, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Auf der Erde liegend, ergriff ihn die nächste Verwunderung. Durch seine Nase strömte wunderbare Luft durch den Körper. Diese Luft fühlte sich natürlich an. So als gab es nie andere Luft. Sie war für mehr bestimmt, als für eine Gewohnheit.
Das Wachstum seiner Erfüllung stieg ins Unermessliche und es hörte nicht auf. Er fing an seine Hände zu benutzen, legte sie auf die Erde und fühlte. Er legte sie auf Bäume. Er legte sie auf Tiere. Er legte sie in die wunderbare Luft. Eine Unzahl an neuen Empfindungen machte sich in seinem Kopf breit und diese hatten ihn komplett unter Kontrolle. Diese Vielfalt machte ihn auf eine schöne Art und Weise verrückt. Das Kind riss sich die Kleider vom Leib, da er begriff, dass seine Hände nicht alleiniger Herrscher seines Fühlens waren. Seine Gedanken fixierten sich rein auf das Fühlen. Alles was er fühlte war lebendig. Er konnte Leben spüren und alles was er anfasste war glücklich. Es schien, als sei alles gewollt. Der Junge besaß zwar keine Augen, konnte aber ohne Zweifel Licht erkennen.
Und dann kam ein Mann auf ihn zu und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Vom gestörten Frieden leicht enttäuscht, lauschte das Kind dem Mann.
"Nun...", fing er an, "Ich spüre und sehe das Glück in dir. Ich sah es schon vom Weiten. Dein Erfreuen am Leben ist wahrlich schön."
Des Jungen Aufmerksamkeit zwiegespalten, versuchte er das nervende Geräusch auszuschalten. Und versagte.
"Trotz deiner Freude, empfinde ich großes Mitleid. Das wahre Leben ist dir verborgen."
Das Misstrauen des Kindes wich einer neuen wachsenden Neugier. Es war ihm unbegreiflich. Es gab etwas, was sich wahres Leben nannte. Und das war ihm nicht zugänglich? Wie schön mag sich dieses wahre Leben nur anfühlen?
So erzählte der Mann dem Jungen von dem Schlüssel, das das Tor zum wahren Leben öffnen sollte. Die Augen. Nun fasste er sich in das Gesicht und spürte, dass tatsächlich etwas fehle. Er verspürte zum ersten Mal Trauer.
Also machte der Mann ihm einen Vorschlag. Er war bereit ihm seine Augen zu schenken. Dem Jüngling war es unbegreiflich, wie gütig dieser Mann sei. Es war also abgemacht.
Der Mann nahm sich nun das Augenlicht und reichte es dem Kind. Einer noch neuen Empfindung der Begierde besessen, nahm er den Schlüssel an sich. Der Mann verabschiedete und verschwand, was jedoch unbemerkt blieb. Er hielt sie fest, aber dennoch vorsichtig in den Händen. Er vergrub sein Gesicht in ihnen und es war vollbracht. Der Junge ohne Augen konnte nun sehen.
Die Zeit war kaum vergangen, als es den Jungen mit den Augen in den Abgrund zog.