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Wachen/Erwachen
Fühle mich zu schwach. Spüre meinen Körper nicht. Zu schwach, die Augen zu öffnen. Falle zurück in den Schlaf. Darf nicht länger schlafen. Weis nicht wo ich bin. Muss die Augen öffnen. Irgendjemand ist im Raum. Höre das Geräusch eines Stiftes auf Papier. Irgendwo piept es. Hinter einer Tür Stimmen. Höre nicht was sie sagen. Versuche noch einmal die Augen zu öffnen. Grelles Licht. An der Decke eine helle Halogenlampe. Zu schwach den Kopf zu drehen. Augen zu. Schlaf.
Seit neun Tagen liegt sie schon nun so da. Ich komme ein bis zwei Mal am Tag herein um nach ihr zu schauen, doch die Schwestern sagen es gäbe keine Verbesserung in ihrem Zustand. Sie wird immer noch durch Schläuche ernährt, denn sie schwebt in einem ständigen Delirium. Ihr Körper ist noch zu schwach, auch wenn ihr Geist unbedingt wach werden will. Manchmal schafft sie es die Augen für einen Moment zu öffnen um dann direkt wieder in einen tiefen und allem Anschein nach traumlosen Schlaf zu fallen. Gerade liegt sie ruhig und blass da und wenn man nicht an den Apparaten ablesen könnte, dass sie lebt würde man denken sie wäre tot. Ich mache in paar Notizen und will gerade den Raum verlassen da höre ich ihr leises Stöhnen. Sie ist aufgewacht. Ich drehe mich um und sehe, dass sich ihre verquollenen Augen ein Stück geöffnet haben. Ich gehe zu ihr, doch ihre Augen haben sich bereits wieder geschlossen.
Darf nicht einschlafen. Versuche mich zu konzentrieren. Habe Schritte gehört. Der Klang des Schuhabsatzes hat mich zurück gerufen. Versuche noch einmal die Augen zu öffnen. Spüre eine warme Hand an meinem Gesicht. „Schlaf Anna. Du musst dich erholen. Ich passe auf dich auf während du schläfst“. Diese warme Stimme. Lasse meinen Kopf gegen die Hand sinken und falle zurück ins Nichts.
Doch was ist da? Ich sehe verschwommene Schemen die näher kommen. Etwas bewegt sich. Kann es nicht erkennen. Kommt es auf mich zu? Entfernt es sich?
Ich fühle ihre dünne Haut an meiner Hand. Die Wärme scheint sie zu beruhigen und als ich ein paar Worte des Trosts murmle lässt sie sich gegen meine Hand sinken und schläft ein. Ich beschließe etwas länger als üblich bei ihr zu bleiben und lasse mich auf einen Stuhl neben ihrem Bett nieder. Ich betrachte ihr kleines Gesicht. Gerade einmal sechzehn Jahre alt wirkt sie doch wie eine Puppe. Ihre weiße Haut wirkt fast schon transparent. Ihre Kieferknochen verleihen ihr ein leicht slawisches Aussehen. Unter anderen Umständen hätte ich gesagt sie sei schön. Aber von diesem zarten Wesen geht eine Härte, eine Traurigkeit und eine Melancholie aus, die ich selten bei einem Menschen gesehen hab und nie bei jemandem ihres Alters. Zwischen all dem Mitleid für sie, dass ich fühle, merkte ich ab und zu auch ein Verlangen danach ihre Geschichte zu hören. Nachfühlen zu können, was einen Menschen so machen kann. Ich verdränge diesen Gedanken wie jedes Mal und konzentriere mich wieder auf die Gegenwart. Anna bewegt sich mehr als sonst. Ihre Hände verkrampfen sich und ich spüre ihren kalten Schweiß an meiner Hand. Anna träumt. Wie gerne wäre ich dabei.
Die Formen werden langsam klarer und ich sehe verschiedene Dinge an mir vorbei rauschen. Häuser, Bäume, Menschen. Alle diese Menschen sehen mich traurig an und schütteln den Kopf. Dann wenden sie sich von mir ab. Da ich mich nicht bewegen kann und einfach vorbeifliege kann ich nicht anhalten um zu fragen warum. Wenn ich schreien will kommt kein Ton aus meinem Rachen und obwohl ich weine kommen keine Tränen. Ich blicke nach vorne und werde immer schneller, bis die Menschen, Bäume und Häuser wieder zu Schemen werden. Dann bleiben sie zurück und ich sehe vor mir nur vollkommene Schwärze.
Anna reißt die Augen auf und schreit.