Wüstenschiff
Das Schiff ist weder besonders gross, noch besonders schön. Es ist aus braunem, altem Holz, hat einen abgebrochenen Mast und liegt seitlich, weit nach rechts geneigt, als wäre es gerade erst erschöpft eingeschlafen. An heissen Tagen bietet sein Schatten Zuflucht. Man kann durch das Loch im Bug in das Innere hineinschlüpfen, oder aber auch auf das Deck klettern und sich vor das Steuerrad stellen. Das kleine Mädchen mag das Steuerrad, es mag aber auch das ganze Schiff, oft verbringt es Stunden dort. Es hat noch nie einen anderen Menschen gesehen, im Stillen denkt es, dass niemand sonst diesen Ort kennt. Es kommt meist am Morgen, um diese Zeit glänzt der Wüstenboden um das Schiff herum golden und es ist noch nicht zu heiss.
Das kleine Mädchen wohnt in einem Dorf, unweit von Schiff entfernt. Es gibt einen Brunnen und einen Hafen und viele Steinhäuser, aber nicht so viele Menschen. Der Brunnen ist ausgetrocknet, der Hafen auch. Die Steinhäuser sind fast alle kaputt, nur noch wenige sind bewohnbar. Alle anderen sind komplett leer. Das kleine Mädchen mag die Häuser nicht, sie machen ihm Angst, aber noch weniger mag es den Hafen. Es mag nur das Schiff.
Alle paar Wochen kommen fremde Männer mir dem Auto in das Dorf. Männer mit weisser Haut, ernsten Gesichtern und einer fremden Sprache. Einer von ihnen spricht die Landessprache, das ist der Herr Doktor. Der Herr Doktor sagt oft: „Wir werden euch helfen.“ Die Männer bringen Essen und Wasser und Kleidung, sie kümmern sich um die Kranken. Der Doktor sagt, dass sie keinen Durst mehr leiden müssen. Aber er sagt auch, dass die Menschen hier krank sind, Halluzinationen haben, sterben. „Früher war das nicht so“, sagt der Herr Doktor und zündet sich eine Pfeife an. „Früher hatten die Menschen Arbeit. Damals, als der See noch da war.“
Eine alte Frau sitzt auf dem Boden vor einem Steinhaus. Sie weint. Als das kleine Mädchen näher kommt, hört sie auf. Sie sagt:
„Siehst du den See?“
Das kleine Mädchen sieht sich um. Es sieht die weissen Zelte, die alten Steinhäuser, den Brunnen. Und die Wüste dahinter. „Ja“, sagt das kleine Mädchen, es könne den See sehen.
„Er glitzert so schön, der See. Siehst du ihn glitzern? Siehst du die Abendsonne und die weissen Fischerboote, die nach Hause kommen? Bestimmt waren sie erfolgreich.“
Die Frau wiegt sich hin und her, sie summt, schaut auf den Boden. Das kleine Mädchen steht auf, es will weg.
Auf dem Schiff stellt sie sich zunächst hinter das Steuerrad, dann legt sie sich auf den Boden und schliesst die Augen. Durch die geschlossenen Augen schaut sie in die Sonne. Alles um sie herum wird erst gelb, dann orange. Die Luft schmeckt salzig, kalte Gischt sprüht ihr ins Gesicht. Das Schiff beginnt, sich zu bewegen, erst nur schwach, dann immer stärker. Langsam richtet es sich auf, es dehnt sich aus, wird grösser. Rote Segel wachsen aus dem Mast, prachtvolle, rote Segel mit einem goldenen Wappen darauf. Das Loch im Bug schliesst sich, das Holz wird fest und hart un glänzend. Das Geschrei der Möwen schwimmt durch die Luft, Männer in blau-weisser Kleidung rufen wild durcheinander. Das kleine Mädchen steht vorne an der Reling, der Wind fährt ihm durch die Haare, liebkost sein Gesicht. Es sieht das Dorf, die Steinhäuser mit Blumen und bunten Tüchern geschmückt. Es sieht auch den Hafen und die weissen Fischerbotte. Die alte Frau steht am Hafen, sie winkt ihr zu. Sie ruft:
„Siehst du, wie der See glitzert?“
Das Mädchen schaut auf den See, das Rot und Golden der Segel verschwimmt mit dem Blau der Wellen, es bildet sich ein wilder Farbenstrudel, am Ende ist alles braun. Die Steinhäuser, der Hafen und die Fischerboote verschwinden. Zuletzt verschwindet das Schiff und das Mädchen liegt auf dem Wüstenboden.