Was ist neu

Wüstenschiff

Mitglied
Beitritt
05.10.2015
Beiträge
25

Wüstenschiff

Das Schiff ist weder besonders gross, noch besonders schön. Es ist aus braunem, altem Holz, hat einen abgebrochenen Mast und liegt seitlich, weit nach rechts geneigt, als wäre es gerade erst erschöpft eingeschlafen. An heissen Tagen bietet sein Schatten Zuflucht. Man kann durch das Loch im Bug in das Innere hineinschlüpfen, oder aber auch auf das Deck klettern und sich vor das Steuerrad stellen. Das kleine Mädchen mag das Steuerrad, es mag aber auch das ganze Schiff, oft verbringt es Stunden dort. Es hat noch nie einen anderen Menschen gesehen, im Stillen denkt es, dass niemand sonst diesen Ort kennt. Es kommt meist am Morgen, um diese Zeit glänzt der Wüstenboden um das Schiff herum golden und es ist noch nicht zu heiss.

Das kleine Mädchen wohnt in einem Dorf, unweit von Schiff entfernt. Es gibt einen Brunnen und einen Hafen und viele Steinhäuser, aber nicht so viele Menschen. Der Brunnen ist ausgetrocknet, der Hafen auch. Die Steinhäuser sind fast alle kaputt, nur noch wenige sind bewohnbar. Alle anderen sind komplett leer. Das kleine Mädchen mag die Häuser nicht, sie machen ihm Angst, aber noch weniger mag es den Hafen. Es mag nur das Schiff.

Alle paar Wochen kommen fremde Männer mir dem Auto in das Dorf. Männer mit weisser Haut, ernsten Gesichtern und einer fremden Sprache. Einer von ihnen spricht die Landessprache, das ist der Herr Doktor. Der Herr Doktor sagt oft: „Wir werden euch helfen.“ Die Männer bringen Essen und Wasser und Kleidung, sie kümmern sich um die Kranken. Der Doktor sagt, dass sie keinen Durst mehr leiden müssen. Aber er sagt auch, dass die Menschen hier krank sind, Halluzinationen haben, sterben. „Früher war das nicht so“, sagt der Herr Doktor und zündet sich eine Pfeife an. „Früher hatten die Menschen Arbeit. Damals, als der See noch da war.“

Eine alte Frau sitzt auf dem Boden vor einem Steinhaus. Sie weint. Als das kleine Mädchen näher kommt, hört sie auf. Sie sagt:

„Siehst du den See?“

Das kleine Mädchen sieht sich um. Es sieht die weissen Zelte, die alten Steinhäuser, den Brunnen. Und die Wüste dahinter. „Ja“, sagt das kleine Mädchen, es könne den See sehen.

„Er glitzert so schön, der See. Siehst du ihn glitzern? Siehst du die Abendsonne und die weissen Fischerboote, die nach Hause kommen? Bestimmt waren sie erfolgreich.“

Die Frau wiegt sich hin und her, sie summt, schaut auf den Boden. Das kleine Mädchen steht auf, es will weg.

Auf dem Schiff stellt sie sich zunächst hinter das Steuerrad, dann legt sie sich auf den Boden und schliesst die Augen. Durch die geschlossenen Augen schaut sie in die Sonne. Alles um sie herum wird erst gelb, dann orange. Die Luft schmeckt salzig, kalte Gischt sprüht ihr ins Gesicht. Das Schiff beginnt, sich zu bewegen, erst nur schwach, dann immer stärker. Langsam richtet es sich auf, es dehnt sich aus, wird grösser. Rote Segel wachsen aus dem Mast, prachtvolle, rote Segel mit einem goldenen Wappen darauf. Das Loch im Bug schliesst sich, das Holz wird fest und hart un glänzend. Das Geschrei der Möwen schwimmt durch die Luft, Männer in blau-weisser Kleidung rufen wild durcheinander. Das kleine Mädchen steht vorne an der Reling, der Wind fährt ihm durch die Haare, liebkost sein Gesicht. Es sieht das Dorf, die Steinhäuser mit Blumen und bunten Tüchern geschmückt. Es sieht auch den Hafen und die weissen Fischerbotte. Die alte Frau steht am Hafen, sie winkt ihr zu. Sie ruft:

„Siehst du, wie der See glitzert?“

Das Mädchen schaut auf den See, das Rot und Golden der Segel verschwimmt mit dem Blau der Wellen, es bildet sich ein wilder Farbenstrudel, am Ende ist alles braun. Die Steinhäuser, der Hafen und die Fischerboote verschwinden. Zuletzt verschwindet das Schiff und das Mädchen liegt auf dem Wüstenboden.

 
Zuletzt bearbeitet:

Also ich finde, da ist dir ein wirklich schöner Text gelungen, lenk. Sehr schöne Bilder zeichnest du da, Bilder, in denen sich die grausame Wirklichkeit und die Fantasiewelt eines Kindes mischen. Und auch wenn du hier quasi einen auktorialen Erzähler hast, bleibt der Erzählduktus sehr nahe beim Mädchen. Also nicht, dass die Sprache kindlich wäre, aber sie vermittelt sehr schön die unbekümmerte Weltwahrnehmumg eines Kindes. Gefällt mir sehr gut, auch wie da zwischen den Zeilen ein wirklich großes Elend zu erahnen ist, der Untergang einer kleinen, einstmals heilen Welt sozusagen. Und auch wenn ich nicht weiß, wo die Geschichte spielt, denke ich unwillkürlich an ein Drittweltland, und beginne mich als privilegierter Mitteleuropäer sofort zu fragen, inwieweit auch ich Schuld trage an der Zerstörung unserer so wunderbaren Welt.
Sehr trauríg und sehr schön. Insbesondere der Absatz, in dem sich das Mädchen in seiner Fantasie das Schiff zum Leben erweckt. Ganz wunderbar geschrieben.

Ein paar Kleinigkeiten habe ich trotzdem gefunden, die mir nicht perfekt erschienen:

Das kleine Mädchen mag das Steuerrad, es mag aber auch das ganze Schiff, oft verbringt es Stunden dort. Es hat noch nie einen anderen Menschen gesehen, im Stillen denkt es, dass niemand sonst diesen Ort kennt.
Weil das ja noch ganz am Beginn der Geschichte steht, wo ich noch nicht weiß, um was es da geht, finde ich die Formulierung missverständlich. Sie klingt, als hätte das Mädchen überhaupt noch niemals andere Menschen gesehen.
Ich würde schreiben: Es hat noch nie einen anderen Menschen dort gesehen.
Nein, das geht auch nicht, dort kommt ja im Satz davor schon vor. Hm.
Vielleicht:
Es hat noch nie einen anderen Menschen beim Boot gesehen.
Na ja, denk einfach mal drüber nach.

Das kleine Mädchen wohnt in einem Dorf, unweit von [vom] Schiff entfernt.
So gefiele es mir besser:
…, unweit vom Schiff.

Die Steinhäuser sind fast alle kaputt, nur noch wenige sind bewohnbar. Alle anderen sind komplett leer.
Eventuell so: Alle anderen stehen leer.
(leer braucht kein zusätzliches Attribut.)

„Er glitzert so schön, der See. Siehst du ihn glitzern? Siehst du die Abendsonne und die weissen Fischerboote, die nach Hause kommen? Bestimmt waren sie erfolgreich.“
Auch wenn das direkte Rede der alten Frau ist, gefällt mir nicht recht, dass sich das Erfolgreichsein auf die Fischerboote bezieht.
Eventuell: Bestimmt waren die Männer erfolgreich.

das Holz wird fest und hart un[d] glänzend.

Hat mir sehr gut gefallen, lenk.

offshore


Was mir überhaupt nicht gefällt, sind die vielen Leerzeilen:

Die alte Frau steht am Hafen, sie winkt ihr zu. Sie ruft:

„Siehst du, wie der See glitzert?“

Das Mädchen schaut auf den See,

Das scheint mir so eine modische Unsitte speziell bei Internettexten zu sein. In keinem herkömmlichen Buch findet man so ein unattraktives Textlayout.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola Lenk,

eine gute Idee hast Du da umgesetzt. Ich musste gleich an den Aralsee denken, aber Deine KG spielt ja weiter südlich – das aktuelle Problem bleibt. Darüber werden noch böse Nachrichten reichlich Stoff für die Autoren dieser fragilen Welt liefern.
Ich hatte schon zu Deiner ersten Geschichte etwas gepostet, und auch hier gefällt mir Deine Art zu schreiben. Das wird schon mit der Uni!

Ein paar Winzigkeiten fielen mir auf:

Aber er sagt auch, dass die Menschen hier krank sind, Halluzinationen haben, sterben.
Vor ‚sterben’ fehlt mir ein Wort. Vielleicht ‚(zu) früh’, ‚daran’ o.ä., denn dass sie sterben, ist ja klar.

Auf dem Schiff stellt sie sich zunächst hinter das Steuerrad, dann legt sie sich auf den Boden ...
Gleich zu Beginn lese ich aber:
... und liegt seitlich, weit nach rechts geneigt, ...
Wie soll das gehen?

... Männer mir dem Auto ...


... weissen Fischerbotte.

Die Steinhäuser, der Hafen und die Fischerboote verschwinden. Zuletzt verschwindet das Schiff und das Mädchen liegt auf dem Wüstenboden.

Ein makelloser Satz, nur scheint er mir etwas lieb- und lustlos, ebenso:

..., am Ende ist alles braun.
Bei Deinen Fähigkeiten wäre sicherlich eine anspruchsvollere Beschreibung dieser an sich wundervollen Szene denkbar, zumindest für meinen Geschmack.
Vielleicht aber war es Dein Vorsatz, den Text klar und sachlich zu halten, denn das verstärkt oft die Wirkung.
Wie dem auch sei – ich fand Deine Geschichte prima.

Schöne Grüße!
José
PS:

Es gibt einen Brunnen und einen Hafen und viele Steinhäuser, ...

Dass am Ende die halluzinierten Fischerboote verschwinden, ist klar - aber der real existierende Hafen und die Häuser?

 

Hallo zusammen

Danke viel mal für das Lob :) Hab mir bei der Geschichte Mühe gegeben und freu mich, dass sie gut ankommt.
ernst offshore

Gefällt mir sehr gut, auch wie da zwischen den Zeilen ein wirklich großes Elend zu erahnen ist, der Untergang einer kleinen, einstmals heilen Welt sozusagen.

Es freut mich sehr, dass das beim Leser so ankommt, wie ich es mir vorgestellt habe.

Und auch wenn ich nicht weiß, wo die Geschichte spielt, denke ich unwillkürlich an ein Drittweltland

Die Geschichte spielt am Ufer (oder ehemaligen Ufer) des Aralsees. Also irgendwo bei Kasachstan oder Usbekistan.

Weil das ja noch ganz am Beginn der Geschichte steht, wo ich noch nicht weiß, um was es da geht, finde ich die Formulierung missverständlich. Sie klingt, als hätte das Mädchen überhaupt noch niemals andere Menschen gesehen.

Ja, da hast du wohl Recht. Man könnte vielleicht das dort aus dem vorherigen Satz rausnehmen und dann in diesen Satz einbauen.

Das kleine Mädchen wohnt in einem Dorf, unweit von [vom] Schiff entfernt.

Upps, da hab ich mich wohl vertippt.

Auch wenn das direkte Rede der alten Frau ist, gefällt mir nicht recht, dass sich das Erfolgreichsein auf die Fischerboote bezieht.
Eventuell: Bestimmt waren die Männer erfolgreich.

Danke für den Hinweis, ich werde das beim Überarbeiten noch ändern!

Was mir überhaupt nicht gefällt, sind die vielen Leerzeilen:

Mir selbst gefallen Leerzeilen ziemlich gut, weil sie den Text so schön strukturieren. Aber kann sein, dass ich es bei diesem Text etwas übertrieben habe :D
josefelipe

Ich musste gleich an den Aralsee denken, aber Deine KG spielt ja weiter südlich – das aktuelle Problem bleibt

Nein, mit dem Aralsee liegst du absolut richtig. Vermutlich schliesst du wegen der Wüste darauf, dass sich die Geschichte weiter südlich abspielt. Der Aralsee liegt aber auch schon in einer sehr wüstenähnlichen Landschaft.

Ich hatte schon zu Deiner ersten Geschichte etwas gepostet, und auch hier gefällt mir Deine Art zu schreiben. Das wird schon mit der Uni!

Vielen Dank, es ist natürlich immer sehr ermutigend, so etwas zu hören :) Danke auch für die Rechtschreibkorrekturen, mir sind beim Abtippen wohl ein paar Flüchtigkeitsfehler passiert.

Bei Deinen Fähigkeiten wäre sicherlich eine anspruchsvollere Beschreibung dieser an sich wundervollen Szene denkbar, zumindest für meinen Geschmack.
Vielleicht aber war es Dein Vorsatz, den Text klar und sachlich zu halten, denn das verstärkt oft die Wirkung.

Ja, ich wollte in dieser Geschichte absichtlich keine zu bildliche Sprache benutzen. Ich werd aber wohl trotzdem deinen Vorschlag berücksichtigen, es darf ja auf keinen Fall lustlos wirken.

Dass am Ende die halluzinierten Fischerboote verschwinden, ist klar - aber der real existierende Hafen und die Häuser?

Diese Unstimmigkeit ist mir gar nicht aufgefallen, ich werde das noch ändern.

Danke nochmal für eure Kommentare :)
Gruss, lenk

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom