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Wölkchen am provenzalischen Himmel
Die Sonnenstrahlen knistern, gleich wird Feuer ausbrechen, und geschmolzene Dachrinnen tropfen auf die Blasen des Asphalts. Diesen Nachmittag würde ich am liebsten im Kühlschrank verbringen, nur sind meine Maße dem im Wege.
Bleiben die Eisbrocken im Pastis. Viel Flüssigkeit muss man zu sich nehmen, um zu überleben.
Gewohnte Dinge verändern sich. Trockenes wird feucht, gar nass – es schwitzt und trieft. Und umgekehrt: Alles Nasse, Feuchte trocknet aus, verdarrt.
Ich brüte, so kurios das bei dieser Hitze klingen mag, über einem alten Likörrezept.
Ich habe eine Vision. Eine ziemlich deutliche sogar, zumindest, was die äußere Erscheinung betrifft.
Es muss eine gedrungene braune Flasche sein. Sehr dickes Glas, vertrauenserweckend, wie ein Handschmeichler muss es die Hand magisch anziehen. In Klosterapotheken kann man so etwas finden.
Auch das Etikett ist enorm wichtig. In Sansousson lebt ein Künstler, verschroben und genial, den ich um Rat bitten werde. Es muss ein Kontrast sein zum dunklen Glas. Auf hellem Ocker soll es die Provence zeigen – eine quittegelbe Sonne, umkränzt mit Zitrusblättern, Lavendel, Ginster, Orangen, Kräutern, Grillen und Bienen.
Und wie die Provence soll mein Likör schmecken!
Bin schon ganz durchgedreht, stelle mir die Weltkarriere meines ‚La Cigale d’Or – Liqueur de Provence’ vor, toure durch die Feinkosthäuser von Vancouver, Melbourne und London, stecke Millionen an mit meiner Begeisterung, stecke Millionen ein durch den Verkauf.
Gut sind die Servietten des Hauses, weil als Schweißtuch brauchbar. Das Kaninchen ist weniger gut. Lieblos in die Casserole geworfen mit einer Handvoll Unkraut aus dem Garten, unter dem sich zufällig etwas Thymian und Oregano befinden. Und Knofi! Viel zu viel. Das soll bei Touristen Begeisterung auslösen?
Emile gibt noch ein paar schwarze Oliven in seine Création und obenauf einen dicken Rosmarinzweig – fertig ist das Folklore-Gericht.
Leider ist auch das dazu gereichte Baguette weich und hinfällig. Der Dorfbäcker hat schon vor langer Zeit zugemacht, jetzt kommen die Baguettes aus der Brotfabrik.
Ich bitte Emile um frisches Eis, den Pastis bringt er selbstverständlich mit.
Schnaufend stellt er das Bestellte ab, schwitzt noch mehr als ich und riecht gar nicht gut. Es ist ein ‚Odeur’ von Küchenmief, Nikotin und Deo-Spray, mir wird ganz schlecht. Mein Gott, bei ihm hab ich vor Jahren geräucherten Oktopus und Spanferkel-Confit auf weißen Auberginen gegessen!
Er ist einer jener Leute, die viel zu früh im Leben alles aus der Hand geben, die resignieren. Er spräche noch viel öfter über sein vermeintliches Alter und die damit zusammenhängenden Krankheiten, wenn ich mich nicht auffällig laut räuspern würde. Er klagt, dass er auf vieles verzichten muss, stöhnt unter der Last des Berufs. Dabei ist er gerade mal fünfzig. Rosanne, seine Frau, teilt seine Einstellung zum Leben: Es lohnt alles nicht, die ganze Mühe, der lange Arbeitstag – dazu der Undank der Gäste. Was haben sie geschuftet – und wofür?
Auch figürlich gibt es bei den beiden keinen Unterschied. Sie haben sich gehen lassen, nicht aufgepasst. Sind jetzt schon auf dem Abstellgleis. Schwerfällig geworden, lustlos, uninspiriert.
Ich weiß nicht, ob sie noch Sex haben. Jedenfalls nicht von der Art, die Gesichter zum Leuchten bringt, sie schöner macht und zufrieden.
Das Mittagsgeschäft, wenn man es so nennen will, ist fast vorbei. Sieben Touristen, der algerische Taxifahrer und ich. Die Touristen sind Alleinreisende. Weil Emile nur sieben Tische hat, von denen ich einen okkupiere, gibt es ein Problem. Aber einer der Reisenden erklärt sich bereit, seine Mahlzeit am Tresen zu sich zu nehmen.
Den zuletzt ankommenden Mahmoud winke ich zu mir. Wir kennen uns vom Ansehen.
Er stellt seine mitgebrachten Gewürze vor sich hin und nimmt das Tagesmenü, Pièce de boeuf au Vin rouge. Der Schuss Rotwein macht ihm nichts; Allah weiß, dass Alkohol bei siebzig Grad verfliegt.
Emile bereitet das „Tagesgericht“ der Rentabilität halber für die ganze Woche. Es sieht nicht besonders gut aus; etwas Mangold liegt dabei und mir glitschig erscheinende Gnocchi, auf keinen Fall hausgemacht.
Mahmoud würzt nach. Zwischen seinen Fingern zerreibt er graue Blättchen, streut ein rötliches Pulver über das ermüdete Fleisch, vermischt die Glibbersauce mir roter Paste – ein Duft steigt auf, kitzelt meine Nase, lockt eine Träne hervor und macht mich fast lüstern, von seinem Essen zu kosten. Es schmeckt ihm und er isst sogar die Gnocchi, nachdem er sie in der roten Sauce gebadet hat.
Schade, dass ich mein Kaninchen zur Hälfte zurückgeschickt habe – mit Mahmouds Tricks hätte ich es wohl aufgegessen.
Emile hat das Prozedere missbilligend von der Theke her betrachtet und behauptet undeutlich, Mahmoud würde sein schönes Essen ‚verwürzen’. Glaubt Emile allen Ernstes, dass sein Essen noch etwas tauge? Es muss die Routine sein, der Trott des Alltags, eine Ermüdung, die im Kopf beginnt. Und die sogar seine Rede einfärbt: ‚schönes Essen’!
Vor zwölf Jahren übernahmen er und Rosanne das Lokal. Die zwei sprühten vor Elan und Enthusiasmus. Emile zauberte im wahrsten Sinne des Wortes aus täglich frisch gekauften Waren gewagte, aber meist köstliche Gerichte – seine Frau schwirrte durchs Lokal und war allgegenwärtig mit Freundlichkeit und Charme.
Zur Sommerzeit hatten sie noch eine Küchenhilfe und ein junges Mädchen im Service. Die Leute liefen ihnen die Bude ein – wie man so sagt. Teils kamen sie von weither. „Chez Rosanne & Emile“ wurde bekannt und stand auch bald in den Reiseführern.
Stressige Zeiten waren das für die beiden, doch sie hatten Schulden und kämpften. Über die Jahre dann waren ihre Energien abgefackelt, sie konnten den hohen Standard nicht halten.
Ich weiß, es ist ein Hochleistungssport. Und es strapaziert nicht nur den Körper, auch der Kopf ist oft überfordert. Es folgte ein Verriss im „Le Monde d’Aix“, es gab Ärger mit unzufriedenen Gästen.
Emile verlor die Lust am hektischen Küchenbetrieb, er fuhr nicht mehr zum Markt, sondern ließ sich beliefern. Rosanne trank zu viel.
Der Gast wurde nicht mehr mit Liebenswürdigkeit behandelt, Rosannes Augen wurden glanzlos und uninteressiert. Ihr Esprit verflüchtigte sich, ihre Haltung verlor die Spannung, ihr Gang wurde zum Schlurfen.
Emile verwendete zunehmend Vorgefertigtes, wärmte Tiefgefrorenes wieder auf – seine lieblos angerichteten Teller verrieten das Debakel, in dem er sich befand.
In unserem Dorf gibt es nur dieses Lokal. Ich war schon bei den Vorgängern der beiden Stammgast, weil ich allein lebe. Für Freunde zu kochen macht mir Spaß, aber das nur für mich zu tun, halte ich für verrückt. Allerdings bedeutet Stammgast zu sein eine Liaison mit Lokal, Wirt und Wirtin, mit Aufschwung oder Niedergang. Ich muss gewissermaßen essen, was auf den Tisch kommt. Und das tue ich oft mit gespaltenem Herzen: In der ersten, der triumphalen Zeit wegen der hohen Preise, danach wegen nachlassender Qualität. Dazu kommen noch die Unlust, die zunehmende Niedergeschlagenheit der beiden. Ein Stammgast leidet mit, bei jeder Mahlzeit.
Vor einiger Zeit hatten Emile und ich kräftig gebechert. Was sonst als die missliche Lage seines Lokals hätte unser Thema sein können? Doch um ehrlich zu sein, war es Emiles Thema und nicht meines. Ich hab ihm nur zugehört, ach was – noch nicht einmal das! Ich kannte ja sein Dauer-Lamento, mir ging es lediglich um weiteren Wein (den selbstverständlich ich bezahlte), um möglichst spät ins ungeliebte ‚Zuhause’ zurück zu müssen. Und dann – ich hätte es wissen müssen – waren wir wieder beim Fall Francois Guerin.
Ja, ja, ich weiß: Der hat geschuftet und sich nicht geschont – und eines schönen Tages hat er ihn bekommen, den begehrten Stern von Michelin. Da hatte er Blut geleckt, nahm Kredite auf, um sein Restaurant mit jeglichem Komfort auszustatten, damit es dem verehrten Gast an nichts fehlte. Die Zinsen waren hoch, doch er hat gerackert und sich auch den zweiten Stern verdient. Die Leute kamen sogar aus Paris, um bei ihm zu essen.
Grund genug, ein Hotel der allerfeinsten Art zu errichten, mit einem Zweitrestaurant und Hubschrauberlandeplatz. Und eines Morgens fand ihn sein Stellvertreter tot im Kühlhaus. Das Herz – mit vierundfünfzig Jahren!
Im Nachbardorf hat ein junger Koch in der verwaisten Auberge sein erstes Restaurant eröffnet. Vom Geld seines Vaters beeindruckend und stilsicher gestaltet, mit einem uralten Olivenbaum im Innenhof, sprudelndem Wasser und Hibiskus. Sein Essen soll genial sein.
Rosanne und Emile winken ab: „Neue Besen kehren gut. Das war bei uns nicht anders.“
Ich weiß darauf nichts zu sagen. Ja, so ist es eben. Oder ist das zu fatalistisch? Fast höre ich Emile sagen: ’Der kocht auch nur mit Wasser.’
Jedenfalls werde ich da mal hingehen. Nur um mitreden zu können; die Preise sollen enorm sein.
Am nächsten Tag werde ich wieder bei Emile essen müssen – das ist nicht eine bessere Option als selbst zu kochen, doch die bequemere.
Wenn auch das tägliche Essen eine große Rolle spielt, so habe ich doch nur noch meinen Likör im Kopf.
Tag und Nacht denke ich daran. Oben in Orleans gibt es eine Glasfabrik, die beinahe jede gewünschte Flasche herstellen kann, leider ab hoher Stückzahl.
Und wegen des Etiketts fahre ich zu Hyazinth Cornouailles.
Eine Palisade aus verwitterten Knüppeln trennt sein Anwesen von der Straße. Die hat er verziert mit gebleichten Tierschädeln, gesprungenen Amphoren und ähnlichem Klimbim. Anders zu sein ist anstrengend.
Ich nehme den angeketteten Klöppel und schlage kräftig auf den Eisentopf. Eine Öko-Klingel, oder eine aus der Eisenzeit.
„Sie wünschen?“, fragt eine Stimme über mir. Ah, da oben schaut er heraus, der Künstlerkopf.
Ich denke an die Kissen von Frau Holle. Ein weißer Wuschel mit Hakennase und schwarzen Augen.
„Ehm, guten Tag, Monsieur. Ich komme wegen künstlerisch gestalteter Etiketten.“
„Ja, da sind Sie bei mir richtig. Warten Sie einen Moment, ich komm runter.“
Sein feines künstlerisches Gehör scheint die Möglichkeit eines Auftrags herausgehört zu haben.
Der Fensterladen schlägt zu, und bald öffnet sich die Tür.
„Etiketten“, grummelt er und bittet mich herein.
Ich darf Platz nehmen. Ferner Osten und Magreb, alles ist versammelt wie im Forum der Kulturen; ich weiß gar nicht, was ich zuerst anschauen soll. Na, am besten ihn.
„Etiketten“, sagt er schon wieder. „Und wofür, wenn ich fragen darf?“
Er fixiert mich wie beim Verhör. „Für eine Likörflasche“, erwidere ich; gleich darauf verbessere ich: „Also, für viele. Für sehr viele, wie ich hoffe.“
„Und welcher Likör soll da hinein, wenn ich Sie das auch noch fragen darf?“
Ich erzähle ihm von meiner Vision und er hört mir aufmerksam zu. „Oh“, sagt er unvermittelt, „ich glaube, da habe ich etwas für Sie. Ich mach’ uns nur schnell einen Kaffee.“
Wie er dann in seinem Kaftan, mit den marokkanischen Pantoffeln und dem Kaffeetablett hereinschwebt, erinnert er mich mit seiner zarten Figur an einen Knaben, der das Nachtgespenst spielt und durch Zauberei zum Greis wird.
Er macht beim Eingießen eine kleine Schau, in dem er die Kanne hoch über meine Tasse hält. Ich wähne mich im Beduinenzelt. Doch sehr abendländisch fragt er, unerwartet aufgeräumt: „’n kleines Likörchen dazu, der Herr?“, und ich bejahe.
Wie er das Glas mit Goldrand vor mir abstellt, bemerkt er beiläufig: „Den mach’ ich übrigens selbst. Bin gespannt, ob er Ihnen zusagt.“
Doch zuerst trinke ich Kaffee. Das Kitschgläschen nehme ich mir danach vor.
Der Duft überwältigt mich, ich gerate in die Schwerelosigkeit und gleich darauf fällt mir die Kinnlade herunter. Ein Elixier zum Einatmen!?
Ich bin fassungslos. Ich kapiere das nicht.
Konzentration! Orangeade, Pomeranze, Myrrhe, Feige, etwas Nuss. Nein, wohl eher Mandel, der weiße Nougat der Provence. Und Datteln – ein Hauch von Arabien. Liegt ja gleich gegenüber. Auch Süßholz, Lakritz, nur ein allerfeinster Hauch davon. Ich schaue dem weißen Wuschel in die Augen und sage mit Bestimmtheit: „Und Salz ist auch drin.“
Er bekommt einen verschmitzten Gesichtsausdruck und meint: „Schon, schon – aber nur drei Gramm auf zehn Liter. Bestes Meersalz allerdings. Kommt von unseren Salinen.“
Was für ein Kontrast zu dieser Wucht und Fülle orientalischer Aromatik! Dennoch ein echter Provenzale.
Ich kann nicht sagen, ob ich dieses Schlückchen noch auf der Zunge habe oder schon runtergeschluckt habe. Der überwältigende Geschmack, der Geschmack der Wunder, des Wunderlands, aller bekannten und geheimen Früchte und Gewürze, die im Himmel und auf Erden wachsen, in der Erde der Provence, in dieser unbeschreiblichen Luft, in diesem verzaubernden Licht – ich stehe kurz vor dem Kollaps.
Verständnislos schaue ich Monsieur Cornouailles an. Ich habe nichts im Kopf, aber viel auf der Zunge. „Wie ist das möglich?“, frage ich ihn.
„Wie das möglich ist“, wiederholt er, „das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Cirka fünfundzwanzig Jahre hab’ ich herumexperimentiert.“ Dabei zündet er sich ein schwarzes Zigarillo an und betrachtet mich wach und interessiert.
Ich erwidere seinen Blick. Schätze ihn auf fünfzig Kilo, auf meinen Knien könnte ich mit ihm Hoppe-Hoppe-Reiter spielen. Aber sein Liqueur ist mehr als beeindruckend.
Ich studiere und probiere, denke an die Alchimisten. Meine Werkstatt wird deren Labors immer ähnlicher; alles habe ich zusammengetragen, was für meine Arbeit nützlich scheint. Ich habe keine Ausgabe gescheut. Auch ist einiges dabei, das nur dekorativen Wert hat, doch an einem Ort mit einer besonderen Atmosphäre wird die Kreativität geweckt. Und so wird auch die nüchterne Zweckmäßigkeit der Edelstahltanks gedämpft.
Meine größte Angst ist, dass mich meine Sinne im Stich lassen. Ohne feine Nase und Zunge müsste ich mein Brot weiterhin als Keramiker verdienen.
Meinem Verstand hingegen traue ich weiterhin Zuverlässigkeit zu. Ich will mir gerade einreden, dass besonders Leute, die täglich Umgang mit Alkohol haben, dieser Versuchung nicht erliegen, doch fällt mir ein, dass es auch viele gegenteilige Beispiele gibt. Also sollte ich auf der Hut sein.
Jeder kennt das Bild, wie Teilnehmer von Weinverkostungen die jeweilige Probe ausspucken, statt sie hinunterzuschlucken. Daran sollte ich selbstverständlich auch denken, obwohl ich von meinem Destillat ja nur einen Fingerhut voll probiere. Die Gefahr liegt in der Häufigkeit.
Gestern war ich etwas unbeherrscht. Nachdem ich meine Notizen geordnet hatte, stellte ich mir vor, dass ein wildfremder Mensch meinen Likör im Glas hätte – so übernahm ich dessen Rolle, hielt die goldene Flüssigkeit gegen das Licht, roch und schnüffelte am Bukett und nahm ein winziges Schlückchen. Auf diese unparteiische Art geprüft machte mein Erzeugnis eine glänzende Figur. Der wildfremde Mensch lobte und nahm noch einige kleine Schlucke, war entzückt und wurde müde.
Der nächste Morgen ist weder glockenklar noch sonnenhell. Erst gegen Mittag werde ich wach, mit Brummschädel. Aber was – von meinem eigenen Erzeugnis? Das ist peinlich, in jeder Hinsicht. Sogar die erhoffte Wiederbelebung durch schwarzen Kaffee bleibt aus.
Doch bevor ich mir mit Selbstvorwürfen den Tag verderbe, trinke ich meine miese Befindlichkeit mit Bier und einem Cigale nieder.
Das Telefon klimpert. Hyazinth. Er hat eine Idee.
Oh, die ist sehr gut, gern folge ich seiner Einladung.
Wir treffen uns im Foyer. Er erzählt mir etwas vom Programm, vom Komponisten und dass dieses Laien-Orchester viele Symphoniker übertrumpfe.
Vor uns blinken und glänzen die Instrumente, Hyazinth hat zwei Plätze in der zweiten Reihe ergattert. Eine fast unüberschaubare Menge an festlich gekleideten Musikern spielt ein ergreifendes Stück; es beginnt mich aufzuwühlen, wie schwere Brandung formiert sich der Klang und donnert gegen mich. Die Wucht von hundert Instrumenten gleichzeitig, das ist zu viel für mich. Ich fühle mich bedrängt, eine neue Welle schwappt, drückt massiv gegen mich. Besonders die Bläser setzen mir zu, ich greife zum Flachmann und reiche ihn auch Hyazinth, der Höflichkeit halber. Der ist ebenso höflich und lehnt ab, also trinke ich. Die Flut zieht sich zurück, doch ich fühle mich unbehaglich. Ich nehme noch einen kleinen Schluck.
Der Paukist ist mein Feind. Er trägt keine weißen Handschuhe, doch ich stelle es mir vor. Die passten so schön zu diesen zwei Klöppeln mit den großen Wattekugeln. Der schlägt die ganze Zeit beunruhigende Wirbel, und es ist nicht so, dass mich die heftigen nerven, sondern es sind die leisen, unterschwelligen, stets präsent, ein Unheil, gar den Untergang ankündigend.
Wenn Menschen so mit mir sprächen, wie eine stete Bedrohung, würde ich sie anschreien – oder ich würde gehen. Das darf nicht sein. Was geschieht im Kopf des Komponisten? Wie kann er diese Klangfülle von hundert Instrumenten überblicken, auseinanderhalten und trotzdem vereinen? Ein solch kolossales Werk aufzuschreiben mit tausend Bläsern, Streichern und Trommlern – von einem einzigen Menschen?
Wie ein Autor, der einen Roman schreibt, der die Gedanken, Taten, Gefühle, Verfehlungen, Sehnsüchte und Höhepunkte von hundert Personen kennt und zu einer unfassbar ausgedehnten Geschichte verwebt, aber nicht auf zwölfhundert Seiten ausbreitet, sondern in einer einzigen Stunde vorträgt. Meine Hand fährt automatisch zum Flachmann. Hyazinth hüstelt. Er hat ja Recht.
Leichte Trunkenheit überkommt mich, das Zeug ist stark. Die Gezeiten finden im Konzertsaal statt, es ist Flut. Der Dirigent verliert sein Stöckchen; kein Vasall reicht es ihm. Er muss es selbst aufheben und steigt vom Pult. Da stehen die Musiker auf – und schauen nun wegen seines kleinen Wuchses auf ihn herab. Plötzlich spielen sie forte fortissimo. Oder ist das Applaus? Mir dreht sich alles.
Sie sind die Übermacht. Er ist jetzt ihre Marionette, muss sich nach dem Diktat seiner Musiker bewegen, die seit hundert Jahren beweisen wollen, dass sie ihn nicht brauchen.
Also bewegt er sich, rudert und kreist mit den Armen wie immer, nur dass sie es sind, die ihn mit ihrem Spiel dirigieren.
Und es gibt einen Augenblick, wirklich nur einen Augenblick, der allein es wert ist, hier zu sein. Das ist, als mich die brünette Geigerin anlächelt.
Ein solches Lächeln ist mir noch nie zugedacht worden. Mir ist, als ob ich von diesem wunderbaren Moment ein Foto gemacht hätte; das prägt sich ein für’s ganze Leben.
‚Schön’ im großartigen Sinn dieses Wortes ist sie nicht, nicht auffällig, gar umwerfend schön. Doch sie hat eine außergewöhnliche Ausstrahlung.
Welche Hingabe beim Spiel – wie ihr Gesicht die Musik widerspiegelt, wie sie wiegt und schwingt, unvermittelt innehält, voller Konzentration ihren Teil zum großen Gelingen beiträgt – das beeindruckt mich sehr.
Ich weiß, dass ich sie nicht darstellen sollte in einer Art, wie man ein Rennpferd beschreiben würde – deshalb tue ich es nicht. Aber ich weiß auch, dass mir ihr Geigenspiel gleichgültig wäre, wenn sie mir dafür ihre Figur, den strammen Hals, die blitzenden Zähne, die strahlenden Augen, ihre unglaublich schönen Arme, die Hände mit dem leicht abgespreizten kleinen Finger – und das einmalig dichte, kupferbraunschwarze Haar schenken würde. Diese Frau würde ich verehren und mich ihr zu Füßen werfen.
Ihren Duft stelle ich mir fein und herb vor. Es wäre mir eine Freude, für sie ein spezielles Parfüm zu kreieren – da würde sogar mein Likör in der Rangfolge der Wichtigkeiten auf Platz zwei rutschen.
Nach dem Konzert gehen wir noch ins „Aux Armes de France“, politisieren bis Mitternacht, trinken Brüderschaft und landen dann beim Thema Likör.
Selbstverständlich übernimmt Hyazinth die Rolle des Meisters. Die steht ihm zu – ich sage das neidlos, denn sein Elixier ist nicht zu übertreffen.
„Weißt du“, frotzle ich, „eigentlich sind wir Rivalen. Stell dir mal vor, mein Likör würde besser als deiner.“
„Dann würde ich mich in eine tiefe Schlucht stürzen!“, droht Hyazinth.
„Aber nein, mein Lieber, so weit wird es nicht kommen. Schon als ich deinen Likör auf der Zunge hatte, war mir klar, dass ich dagegen keine Chance habe – egal, wie sehr ich mich anstrenge.“
Der große Destillateur bestellt noch etwas und sagt: „Dann sollten wir das Kind gemeinsam schaukeln: Du hast die Technik und ich habe das Know-how.“
Als der Wirt das Licht dimmt, ist unser Pakt besiegelt.
Ich habe meine bösen drei Tage. Passiert immer seltener, aber ich muss es zur Kenntnis nehmen. Bin gern allein, doch wenn ich so aufgedreht bin, brauche ich Gesellschaft.
Schon vor dem Mittagessen bin ich in Champagnerlaune. Zu Emile werde ich heute nicht gehen – ich muss in die Stadt, mal andere Leute sehen. Ich rufe Hyazinth an, sage so nebenbei, dass ich einen Happen essen möchte und ihn dazu einlade. „Als Revanche für die Konzertkarten“, fällt mir noch ein.
Mahmoud fährt vor und Hyazinth nimmt wieselflink neben mir Platz.
Prüfend schaut er mich an; er kann den Grad meiner Trunkenheit einschätzen.
„Ja“, sagt er, „etwas Essbares könnte nicht schaden. Fahren wie ins ‚Rouge-Bleu’; die anderen Läden sind ja unbezahlbar.“
Ich sage jovial zu Mahmoud: „Ja, dann mal los. Auf ins Städtchen!“
Hyazinths Idee gefällt mir. Bin nicht der ‚Restaurant-Typ’, gehe viel lieber in eine Brasserie – oder, wie ich in einem Anflug von guter Laune zu sagen pflege, in eine Prasserei.
Nach Prassen ist mir zumute. Ich stelle mir vor, diese bezaubernde Geigerin wäre an meiner Seite – unvorstellbar glücklich wäre ich.
Was, zum Teufel, ist ein Mann wert, der nicht die richtige Frau hat?
Ich nehme die Speisekarte in Empfang und stelle dem Ober genau diese Frage.
Was, verdammt, wäre ein Mann, so wie er oder ich, wert, wenn er ohne ...
Der Ober schaut pikiert, Hyazinth versucht, durch seine Bestellung die Situation zu retten.
Ohne mich zu fragen, ordert er einen Fleurie, obwohl mir heute nach Stärkerem zumute ist, und ein großes Mineralwasser.
Vielleicht hat er hinter meinem Rücken auch schon das Essen bestellt? Ich hasse es, wenn Leute denken, ich wäre betrunken und mich nicht für voll nehmen. Säure steigt in mir auf.
„Hyazinth“, sage ich, „ich hoffe nicht, dass du auch schon das Essen bestellt hast.“
Er schaut mich verständnislos an.
„Ich meine, ohne mich zu fragen“, grantle ich.
„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst“, spielt er die Unschuld vom Lande.
Dieser Wein ist mir zu leicht. Kinderwasser. Den soll Hyazinth alleine trinken, ich bestelle mir korsischen Roten. Ein Bauernrüpel von einem Wein mit Ecken und Kanten, brutal und gewaltig, aber der Stunde angemessen.
„Worauf ich hinaus will?“, wiederhole ich provokant. „Na, auf deine ewigen Bevormundungen will ich hinaus.“
Hyazinth schaut mich erschrocken an: „Gilbert, wir kennen uns erst seit drei Tagen! Was soll denn das mit ‚ewigen Bevormundungen’?“
Jessas, natürlich hat er Recht.
„Ach, Mensch“, sage ich, „ich bin auf dem falschen Dampfer. Entschuldige bitte.“ Ich muss die Trinkstärke herabsetzen. 52% sind wohl doch zu viel.
Der Ober ist zurück: „Die Spezialität des Tages ist Hammelragout mit weißen Rüben.“
Nein, auf keinen Fall. Lieber zwei Desserts. Doch vorher die Frage: „Wir könnten auch etwas anderes bestellen?“
Aber Hyazinth muss wieder querschießen: „Ich würde das Hammelragout schon nehmen, aber bitte mit Gratin.“
„Sehr wohl, Monsieur. Und Sie?“
Wie spricht der denn mit mir? Was heißt: ’Und Sie?’ Ich weise ihn zurecht:
“Sie meinen, was ich zu essen wünsche?“
„Pardon, Monsieur – exakt das meine ich. Was wünschen Sie zu speisen?“
Vor meinen Augen verschwimmen die Buchstaben, ich muss improvisieren:
„Seezunge haben Sie doch, oder?“
„Seezunge haben wir heute leider nicht. Da wir nur frische Ware verarbeiten, sind wir sehr abhängig von der Marktlage. Statt dessen kann ich Ihnen Loup oder Dorade empfehlen – taufrisch heute angekommen. Wirklich ganz ausgezeichnet.“
„Wirklich ganz ausgezeichnet“, äffe ich ihn nach. „Na, wenn Sie das sagen“, hänge ich noch hintenan, weiß nicht mehr so recht, ob er nun Seezunge hat oder nicht und rette mich, indem ich Steak Frites bestelle.
„Und welche Garstufe preferieren Sie, Monsieur? Medium?“ Er spielt mit mir, will mich wohl auf den Arm nehmen. Aber nicht mit mir! Ich raunze ihn an:
„Medium? Das ist was für die Weiber! Ich esse mein Steak stets ‚bleu’!“
„Ganz wie belieben“, katzbuckelt er und verarscht mich jetzt richtig. Das soll er mir büßen.
Es herrscht ein Trubel, dass mir der Kopf dröhnt. Schöne, aufregende Frauen und belanglose Männer mit Alltagsgesichtern. Hier entfleucht mir ein Bäuerchen, will mich vielleicht auf meine eigene Visage aufmerksam machen.
Ja, da fehlt etwas Profil. Komisch, die Orientalen haben das. Markante Gesichter, kantig geschnitten, durch schwarze Bärte noch wuchtiger erscheinend. Und deren Frauen sind echte Schönheiten, rassig und ungemein sexy. Eigentlich verstehe ich, dass die sich verschleiern müssen. Das Steak kommt.
Hyazinth schöpft sein Ragout bis zum letzten Saucenrest aus der Kokotte und ist sehr zufrieden. Mein Steak ist, wie ich teils befürchtet, teils erhofft hatte: zäh, ganz schrecklich zäh – mit einer durchlaufenden Sehne, aus einem drittklassigen Stück Fleisch geschnitten. Wie maßgeschneidert als Grund für eine handfeste Reklamation!
Von wegen prassen – dieser halbrohe Fleischlappen ist höchstens Hundefutter. Ich esse die Frites und winke dem Ober. Nachdem er mich ein paar Mal übersehen hat, kommt er erkennbar unwillig an unseren Tisch.
„Ja, Monsieur? Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Etwas nicht in Ordnung? Ober, Sie scherzen – dieses sogenannte Steak ist ein Skandal.
Die Kuh war dreißig Jahre alt!“ Währenddessen schnipple ich für ihn ein Häppchen mit ziemlichem Kraftaufwand ab, erhebe mich und will es ihm in den Mund schieben.
Er weicht zurück, ich folge ihm: „Essen Sie, genießen Sie! Ein wunderbares Steak zu diesem Wahnsinnspreis, köstlich, einmalig!“ Es kommen zwei Kellner hinzu und der Restaurantdirektor.
Ich stürze mich auf sie und halte Ihnen den Steakzipfel unter die Nase: „Das soll traditionelle Küche, Brasserie-Küche sein? Ein Steak, dass kein Mensch beißen kann – schließlich bin ich nicht mein Hund!“
Der Direktor will mich besänftigen und legt seine Hände auf meine Schultern. Das fehlt gerade noch! Ich wische sie weg und stoße ihn von mir. Hyazinth kommt wie der Friedensengel auf mich zu, doch ich schiebe ihn beiseite: „Weg, weg, mein Freund, hinfort! Das ist nichts für dich!“ Dann packen mich zwei Kellner von hinten und ringen mich nieder.
In dieser Lage bleibt mir nur zu treten, und das tue ich ziemlich geschickt. Schienenbeine sind empfindlich. Nur schlimm, dass ich nicht wieder hochkomme.
So habe ich die Welt noch nie gesehen – nur Hosen und Männerschuhe. Plötzlich sind Damenbeine im Bild! Lang und schlank, wunderbar. Mein Blick folgt ihrem Verlauf bis zum Rocksaum und dann höher, bis zur Polizeiuniform.
Mit ‚Frau Kommissarin’ wird sie angesprochen, Donnerwetter. Sie kommandiert meinen Abtransport. Ich staune, dass sich eine wirklich gutaussehende Frau für diesen Beruf hergibt – und über ihre verblüffende Ähnlichkeit mit der schönen Geigerin.
Aber nein, das ist sie! Und ich liege ihr zu Füßen, nur in einer anderen Pose, als ich mir gewünscht hätte.