Wärme
Wärme
Seit Stunden nun liegt das kleine Mädchen regungslos vor Lennart. Im blauen Zwielicht des Raumes verschwimmen ihre Konturen immer mehr. Seine Augen tränen und schmerzen. Er kann sich an diesen Anblick einfach nicht gewöhnen.
Seine Tochter ist jetzt vier Jahre alt und jeden gottverdammten Tag seit ihrer Geburt durchläuft sie dieses wahnsinnige Schulungsprogramm. Und jeden gottverdammten Tag sitzt er an ihrem Bett. Lennart reibt sich die Augen und sieht auf seine Uhr. Lange wird es nicht mehr dauern, bis Phiola erwacht.
Er schaut sie wieder an. Ihre groß aufgerissenen Augen starren zur Decke. Sie liegt dort in einem transparenten Folienanzug, der durchzogen ist von unzähligen Nanoleiterbahnen. Die Temperatur in dem Anzug ist auf 12 Grad heruntergeregelt. Sie trägt nur ein dünnes Höschen. In Höhe ihrer Augen hat die Kapuze des Anzuges einen Sehschlitz. Lennart erhebt sich, nimmt seufzend die Pipettenflasche aus dem Versorgungsschacht und träufelt vorsichtig das thermotrophe Gel in ihre weißgrauen Augen. Dieser Teil der Manipulation hatte erhebliche finanzielle Aufwendungen bedeutet, doch seine Frau hatte darauf bestanden. Phiola sollte bestmögliche Voraussetzungen für das spätere Leben mitbekommen.
„Ja, Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder“, Lennart schüttelt den Kopf.. Gerne hätte er Phiolas Hand genommen, doch jeder zu starke Impuls von außen könnte die Schulungsphase unterbrechen und sie wäre umsonst.
„Eigentlich ist Phiola ein hübsches Mädchen.“ Lennart stellt sich vor, wie sie wohl mit frechen Zöpfen aussähe. „Kleine Mädchen sollten doch lange Haare haben und keinen kahl geschorenen Kopf!“
Wieder reibt sich Lennart die schmerzenden Augen, als sich plötzlich ein eiskaltes Händchen auf seine Stirn legt.
„Hast du wieder Kopfschmerzen Lennart?“ Er zuckt zusammen. Phiola hat sich aufgerichtet und schaut ihn ausdruckslos an. „Du solltest die Filterlinsen einsetzen. Deine Kopfschmerzen begründen sich in den dreiphasigen Lichtwellen, die...“
„Ist schon gut Kleines. Ich weiß, dass deine Ausbildung zum Lichtingenieur abgeschlossen ist. Die Linsen werde ich morgen bestimmt einsetzten. Wie geht es dir? Frierst du?“ „Ich bin es gewohnt, dass meine Haut an die optimale Übertragungstempe...“ „Okay, okay! Ich hole jetzt deine Sachen und dann gehen wir. Wir haben gleich noch den Termin bei...“
„Du, Papa?“
Lennart erstarrt. Phiola hat ihn noch nie Papa zu ihm gesagt! Flüsternd zieht sie ihn mit der noch immer zu kalten Hand zu sich, „Magst du was für mich tun?“
Noch nie hatte sie ihn um etwas gebeten.
„Ja...ja...klar..., aber was kann ich für dich tun?“
Erzählst du mir eine Geschichte?
Noch nie hatte er ihr eine Geschichte erzählt.
„Ja...sicher, aber...“
„Bitte!“
Lennarts Hände verwringen sich. Traurig sagt er:“ Ich weiß aber keine Geschichte ... und ... du kennst sie ja auch alle ... da war vor zwei Jahren im Schulungsmodul 3 „Alle Märchen der Welt“... Was soll ich dir nur erzählen?“
Phiola lächelt ihn an. Noch nie hat sie ihn so angelächelt.
„Na zum Beispiel eine Geschichte von dem blauen Wal der einmal fliegen wollte...“
Lennart starrt verblüfft auf seine Tochter - diese Geschichte kennt er überhaupt nicht. Sie lächelt noch immer. Dann geht ein Ruck durch ihn und er holte eine Decke aus dem Schrank, hüllt sie sorgsam darin ein und wiegt sie vorsichtig in seinen Armen.
„Also, Phiola! Da war einmal ein kleiner blauer Wal und der wollte so gerne fliegen...“