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Wände sprechen

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08.11.2001
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Wände sprechen

Wände sprechen

Das Problem mag sein, dass es früher mal anders war. Alles mal anders war.
Zurückgelehnt in seinen Stuhl beobachtet er sie. Mal hierhin und mal dort. Immer wieder versucht er, ihren Rhythmus zu erkennen. Alle tragen dasselbe und sie bewegen sich nach einer inneren Ordnung. Dieses Ballet hat keinen Namen. Er verfolgt es, still, und von ihnen unbemerkt. Aber es will sich keine Reihe einstellen. Kein Muster, an das er sich halten kann. Nicht in ihren Bewegungen.
Aber ein Muster im Tag. Aufstehen, das Waschen, die Mahlzeiten und das Zubettgehen. Ritualisiert. Weil das "gut für Sie" ist. Er kann nicht anders, als ihnen zu glauben. Hat ja ohnehin keine Wahl.
Sie tritt von hinten an ihn heran. Wortlos schiebt sie ihn ein paar Meter weiter. Damit sie mit der Wäschekarre durchkommen. Jetzt steht sein Stuhl vor der Wand, ziemlich dicht. Er vertieft sich in das Muster der Raufaser. Schon nach Minuten treten Landschaften hervor, bilden sich Gesichter und Bewegung. Nicht darüber nachdenken, was er früher getan hat. Wände nie wahrgenommen. Jetzt sind sie wichtiger, als die Menschen um ihn herum. Die Wände sprechen.

Zum Essen ziehen sie ihn weg, rücken ihn an den Tisch heran. Mechanisch schiebt er die kleinen Brocken auf den Löffel und führt sie zum Mund. Eine Weile lassen sie ihn. Sehen nicht einmal hin, wenn wieder ein Stück zurückfällt, der Löffel auf dem halben Weg zum Mund die Kraft verliert und umkehrt, um sich auszuruhen. Dann endlich kommt jemand, füttert ihn, spricht auch dabei. Aber mit einer anderen Frau, am Tisch nebenan. Sie unterhalten sich über das Draußen, das er seit langem nicht gesehen hat. Über Menschen, die niemals hereinkommen würden. Und darüber, dass heute ein öder Tag ist.
Jeder Tag ist öde. Dieses Haus ist dumpf. Morgen wird schlimmer, als heute. Und dann kommt übermorgen. Und letztendlich wird es so weitergehen, bis es zu Ende geht. Dann wird er herauskommen aus diesem Stuhl. Nicht mehr mit den Wänden sprechen. Aber davon reden sie nicht.
Der Saft rinnt an seinem Kinn hinunter. Aber sie sieht es nicht. Schiebt weiter Löffel für Löffel in seinen Mund. Obstsalat. Also ist heute Montag oder Mittwoch. Da gibt es Obstsalat. Und Sonntags Kuchen. Das ist die Woche. Gestern gab es wohl keinen Kuchen. Heute ist Mittwoch?
Jetzt hat sie den Saft doch gesehen. Sie wischt ihn mit einem Tuch ab. Füttert ihn weiter. Er ist satt, mag nichts mehr. Aber sie macht weiter, bis die Schale leer ist. Das tut sie immer.

Das Klappern aus der Küche wird eine Weile anhalten. Er weiß nicht, wie lange. Er wüsste gern, wie spät es ist. Abendessen gibt es immer um dieselbe Zeit. Aber sie sagen ihm nicht, um welche. Weil es ja auch nicht nötig ist. "Kann mich ja nicht verspäten", denkt er sarkastisch. In diesem Haus haben sie keine Uhr. Er hat sich schon oft gefragt, warum sie nicht einen Kalender und eine Uhr aufhängen können. Aber sie halten es wohl nicht für nötig. Er möchte es ihnen sagen, sieht sie an, aber sie verstehen nicht.

Auf dem Rückweg in sein Zimmer, denkt er daran, dass sie Musik einschalten werden. Für eine Weile. Dann kommen sie herein, schalten das Licht aus und mit ein wenig Glück sagt jemand "Gute Nacht". Selten.
Vor dem Stationszimmer stellt sie ihn nocheinmal ab. Früher konnte er die Räder noch selbst drehen. Aber das ist vorbei. Wieder starrt er auf eine Wand, während er sie drinnen sprechen hört. Miteinander.
"Was hast Du noch?" "Den Schulze." "Der ist gruselig!" "Naja, kann er ja auch nichts für, oder?" Die Wand schweigt ihn eisig an. Er möchte ein Gespräch führen, um nicht zuzuhören. Aber niemand spricht.
"Bleibst Du noch auf ne Tasse Kaffee?" "Ich muss ihn jetzt erstmal rüberbringen. Soll nicht so lange hier herumstehen." "Ach, kriegt der doch gar nicht mit." Die Stimmen sind kaum gedämpft durch die halbgeschlossene Tür. "Mitkriegen tut er tatsächlich nichts." "Nee, der starrt immer nur und sagen kann der eh nix." "Schon, aber manchmal möchte ich wissen, was in ihm vorgeht." Die Stimme verebbt mitten im Satz. Er will dankbar lächeln, wenigstens ein bisschen. "Der war mal Mathelehrer. Aber jetzt hat es sich was mit Denken." Die andere lacht halblaut. Und er will nicht hier sein. Hilfesuchend sieht er die Wand an. Er will aufstehen, will mit ihnen sprechen. Will erklären. Aber als sie herauskommt, kann er nicht einmal dankbar lächeln. Auch nicht, als sie seine Decke geradezieht. Sie sieht ihn fragend an. Dann löscht sie das Licht. Heute gibt es keine Musik. Er sucht nach Struktur im Dunkeln. Eine weitere dumpfe Nacht. Ein weiteres Gespräch, das er nicht geführt hat.

 

hallo arc en ciel, sehr schön und einfühlsam, wie du diese momentaufnahme aus dem leben eines älteren rollstuhlfahrers im altenheim/klapsmühle/anstalt (wie auch immer) beschreibst. man spürt förmlich die isolation dieses menschen, obwohl er ja eigentlich von menchen umgeben ist, ja sogar in einem "system" lebt. und das muss den protagonisten, der ja früher gewohnt war mit menschen in kontakt zu sein (mathelehrer) besonders hart treffen.

Er verfolgt es, still, und von ihnen unbemerkt. Aber es will sich keine Reihe einstellen. Kein Muster, an das er sich halten kann.
- am anfang hatte ich mit desem satz etwas probleme; klar wurde es mir erst, als ich erfuhr, dass er mathelehrer war. dieser menschentypus braucht wahrscheinlich eine ordnung, ein system, in das er sich einfinden kann. aber: gibt es denn in einer anstalt nicht eher mehr ordnung/system als "draussen"??

Das Problem mag sein, dass es früher mal anders war.
- mit diesem einstiegssatz hatte ich meine probleme. ich denke er verwirrt, weil es ja selbstverständlich ist, dass früher (draussen) alles anders war.

Dann endlich kommt jemand, füttert ihn, spricht auch dabei. Aber mit einer anderen Frau, am Tisch nebenan.
- schön ist die spannung in diesem satz: zuerst die freude: endlich kommt jemand und kümmert sich um mich! - dann der hammerschlag: aber sie spricht nicht mit mir....

insgesamt eine schöne geschichte von dir. danke!
liebe grüße. ernst

 

Schöne traurige Geschichte, arc en ciel.

Du bist eine gute Beobachterin, wie mir scheint. Zumindest beschreibst du so gut, als ob du selbst dort gewesen bist.

Besonders schön finde ich:

Er vertieft sich in das Muster der Raufaser. Schon nach Minuten treten Landschaften hervor, bilden sich Gesichter und Bewegung. Nicht darüber nachdenken, was er früher getan hat. Wände nie wahrgenommen. Jetzt sind sie wichtiger, als die Menschen um ihn herum. Die Wände sprechen.

Jedoch ist mir auch aufgefallen, dass du später schreibst
Die Wand schweigt ihn eisig an.

Ist das nicht ein widerspruch?

Aber insgesamt sehr schön, wirklich.

LG

PeterPan

 

Hallo

arc en ciel, mal wieder etwas, was zum nachdenken bringt. Gefühlvoll, sensibel geschrieben. Tristes Leben in einem Heim?

Ich mag solche Szenenbeschreibungen, deswegen antworte ich auch, auch wenn ich mich mit dem Stil nicht ganz anfreunden kann.

Jedenfalls ist es alles andere als hingekleckst.

"Das Problem ist , daß es früher mal anders war"
Ich sehe es so, daß seine Erinnerungen an das Schöne, und auch Normale ihn quälen?

Jedenfalls: richtig gut

liebe grüsse Archetyp

 

@ernst:
Danke für Dein Lob. Ich freue mich, wenn man mit dem Protagonisten fühlt. Dann habe ich es richtig gemacht.
Meine persönliche Horrorvorstellung ist es irgendwie, daß das Hirn noch genauso funktioniert, wie früher, man es aber nicht mehr äußern oder danach handeln kann... und dann habe ich darüber nachgedacht, wie oft mit Menschen umgegangen wird, die sich nicht artikulieren... mit Kindern kriegen das noch fast alle vernünftig hin. Aber mit Behinderten, Alten, Kranken.. sieht das oft schon ganz anders aus...

aber: gibt es denn in einer anstalt nicht eher mehr ordnung/system als "draussen"??
damit hast Du sicher recht. Aber solange er das System nicht kennt und nicht bestimmen kann, hilft es ihm nicht. Er wird nach irgendeinem Plan verschoben, geparkt, behandelt. Aber man sagt ihm eben nicht: in 2 Stunden gibt es Essen, oder "Um 8 Uhr wecken wir sie." ... er will eine Art von Halt, die er nicht bekommt. so in der Art... Ich glaube, dafür muß man nicht unbedingt Mathelehrer sein, aber ich wollte deutlich machen, daß er früher sein Leben von logischem Denken bestimmen ließ...

@PeterPan:
Danke auch Dir. Das mit den Wänden finde ich nicht widersrpüchlich. Manchmal gelingt es ihm, die Ablenkung zu finden, die er sucht. Aber als er nichts lieber will, als nicht den beiden Frauen zuhören zu müssen, da funktioniert es nicht. Da kann er die Realität nicht ausblenden. Die Phantsie ist nicht stark genug.

@Archetyp:

Ich mag solche Szenenbeschreibungen, deswegen antworte ich auch, auch wenn ich mich mit dem Stil nicht ganz anfreunden kann.

Ich freue mich auch über Dein Lob. Aber mich interessiert, was genau an diesem Stil Dir nicht zusagt. Vielleicht kannst Du mich ja eines besseren belehren. :D

Ich habe den 1. Satz nicht auf die Erinnerungen bezogen, die ihm gut gefallen. Sondern auf die Erinnerungen daran, daß er fähig war, alles allein zu tun...

Lieben Dank an Euch alle,

Frauke

 

Hallo Frauke, eine tolle geschichte hast du geschrieben. gefällt mir wirklich gut. als zivi war ich ja oft in altenheimen, und ich finde du hast die gedanken des protagonisten wohl recht treffend beschrieben. obgleich ich mir vielleicht noch mehr depression wünsche.
ich stelle fest, du verwendest ziemlich viele Bilder:

Dieses Ballet hat keinen Namen
Er vertieft sich in das Muster der Raufaser. Schon nach Minuten treten Landschaften hervor
Die Wände sprechen.

Das finde ich sehr genau beobachtet und beschrieben. Möglich das sich ein Heimbewohner in eine solche Welt verliert. Erschreckend, dass er noch alles mitbekommt, sich selbst aber nicht äußern und bewegen kann. Interessant auch die Sache mit dem Kalender und der Uhr, die seine verlorene Situation ja noch unterstreicht.

Also ich habe die Geschichte jetzt ein paar mal gelesen und finde gar nichts zu kritisieren. wie gesagt, bis auf die sache, dass ich seine gedanken und gefühle vielleicht noch etwas deprimierter und verrückter beschrieben hätte. hmm, aber etwas genaues kann ich dazu auch nicht sagen.
doch hier, jetzt sehe ich doch noch was:

"Was hast Du noch?" "Den Schulze." "Der ist gruselig!"
usw.
In diesem Gespräch verletzten die beiden Schwestern ja ziemlich die Gefühle des alten Mannes. Er will dann aufstehen und erklären. Später ist er dann für die "Fürsorge" dankbar. Also, dass ist mir vielleicht nicht ganz plausibel. Sollte er nicht wütend werden auf die Schwestern, die wo über ihn reden? Die ihn zur Seite schieben, weil sie etwas durch den Gasng transportieren müssen. Ja, ich glaube jetzt kann ich es sagen, was ich meine. Wieso ist er bei allem was passiert so ruhig, gelassen. So kommt es mir vor. Hat er sich schon so mit seinem Schicksal abgefunden?

liebe grüße, sal

PS: ich habe mal ne ähnliche geschichte geschrieben. kannst du dir ja mal durchlesen
http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?s=&threadid=3950

 

hey Sal!
lieben Dank für so ein großes Lob!
ich hab die Gedanken des Mannes mit Absicht so "nicht verrückt" beschrieben, weil ich nich wollte, daß man ihn für bescheuert hält.. man soll ihn mögen, sich wie er fühlen... ein wenig.

Ich denke, er ist deshalb nicht wütend auf die Schwestern, weil er es 1. schon so kennt, 2. keine Chance hat, die Wut auszuleben, 3. ein zeitlicher und räumlicher Abstand dazwischentritt, 4. die, die ihn da hreumschiebt, weniger "schlimm" ist, als die andere, mit der sie spricht... ein WENIG verteidigt sie ihn ja... zumindest ist sie etwas vorsichtiger und bezeichnet ihn immerhin noch als "er" und nicht als "das"...

Ich denke, Deine Vermutung, daß er sich mit seinem Schicksal abgefunden hat, ist ziemlich richtig... man kann nicht ewig gegen Wände anrennen in der Gummizelle.... ich beschreibe ja nicht seinen 1. Tag dort, sondern den Alltag. Wenn man nicht irgendwann "kleinbei"gibt, dann geht man daran zugrunde ( nämlich etwas schneller, als am Kleinbeigeben )

Lieben Dank,

Frauke

 

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