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Wände sprechen
Wände sprechen
Das Problem mag sein, dass es früher mal anders war. Alles mal anders war.
Zurückgelehnt in seinen Stuhl beobachtet er sie. Mal hierhin und mal dort. Immer wieder versucht er, ihren Rhythmus zu erkennen. Alle tragen dasselbe und sie bewegen sich nach einer inneren Ordnung. Dieses Ballet hat keinen Namen. Er verfolgt es, still, und von ihnen unbemerkt. Aber es will sich keine Reihe einstellen. Kein Muster, an das er sich halten kann. Nicht in ihren Bewegungen.
Aber ein Muster im Tag. Aufstehen, das Waschen, die Mahlzeiten und das Zubettgehen. Ritualisiert. Weil das "gut für Sie" ist. Er kann nicht anders, als ihnen zu glauben. Hat ja ohnehin keine Wahl.
Sie tritt von hinten an ihn heran. Wortlos schiebt sie ihn ein paar Meter weiter. Damit sie mit der Wäschekarre durchkommen. Jetzt steht sein Stuhl vor der Wand, ziemlich dicht. Er vertieft sich in das Muster der Raufaser. Schon nach Minuten treten Landschaften hervor, bilden sich Gesichter und Bewegung. Nicht darüber nachdenken, was er früher getan hat. Wände nie wahrgenommen. Jetzt sind sie wichtiger, als die Menschen um ihn herum. Die Wände sprechen.
Zum Essen ziehen sie ihn weg, rücken ihn an den Tisch heran. Mechanisch schiebt er die kleinen Brocken auf den Löffel und führt sie zum Mund. Eine Weile lassen sie ihn. Sehen nicht einmal hin, wenn wieder ein Stück zurückfällt, der Löffel auf dem halben Weg zum Mund die Kraft verliert und umkehrt, um sich auszuruhen. Dann endlich kommt jemand, füttert ihn, spricht auch dabei. Aber mit einer anderen Frau, am Tisch nebenan. Sie unterhalten sich über das Draußen, das er seit langem nicht gesehen hat. Über Menschen, die niemals hereinkommen würden. Und darüber, dass heute ein öder Tag ist.
Jeder Tag ist öde. Dieses Haus ist dumpf. Morgen wird schlimmer, als heute. Und dann kommt übermorgen. Und letztendlich wird es so weitergehen, bis es zu Ende geht. Dann wird er herauskommen aus diesem Stuhl. Nicht mehr mit den Wänden sprechen. Aber davon reden sie nicht.
Der Saft rinnt an seinem Kinn hinunter. Aber sie sieht es nicht. Schiebt weiter Löffel für Löffel in seinen Mund. Obstsalat. Also ist heute Montag oder Mittwoch. Da gibt es Obstsalat. Und Sonntags Kuchen. Das ist die Woche. Gestern gab es wohl keinen Kuchen. Heute ist Mittwoch?
Jetzt hat sie den Saft doch gesehen. Sie wischt ihn mit einem Tuch ab. Füttert ihn weiter. Er ist satt, mag nichts mehr. Aber sie macht weiter, bis die Schale leer ist. Das tut sie immer.
Das Klappern aus der Küche wird eine Weile anhalten. Er weiß nicht, wie lange. Er wüsste gern, wie spät es ist. Abendessen gibt es immer um dieselbe Zeit. Aber sie sagen ihm nicht, um welche. Weil es ja auch nicht nötig ist. "Kann mich ja nicht verspäten", denkt er sarkastisch. In diesem Haus haben sie keine Uhr. Er hat sich schon oft gefragt, warum sie nicht einen Kalender und eine Uhr aufhängen können. Aber sie halten es wohl nicht für nötig. Er möchte es ihnen sagen, sieht sie an, aber sie verstehen nicht.
Auf dem Rückweg in sein Zimmer, denkt er daran, dass sie Musik einschalten werden. Für eine Weile. Dann kommen sie herein, schalten das Licht aus und mit ein wenig Glück sagt jemand "Gute Nacht". Selten.
Vor dem Stationszimmer stellt sie ihn nocheinmal ab. Früher konnte er die Räder noch selbst drehen. Aber das ist vorbei. Wieder starrt er auf eine Wand, während er sie drinnen sprechen hört. Miteinander.
"Was hast Du noch?" "Den Schulze." "Der ist gruselig!" "Naja, kann er ja auch nichts für, oder?" Die Wand schweigt ihn eisig an. Er möchte ein Gespräch führen, um nicht zuzuhören. Aber niemand spricht.
"Bleibst Du noch auf ne Tasse Kaffee?" "Ich muss ihn jetzt erstmal rüberbringen. Soll nicht so lange hier herumstehen." "Ach, kriegt der doch gar nicht mit." Die Stimmen sind kaum gedämpft durch die halbgeschlossene Tür. "Mitkriegen tut er tatsächlich nichts." "Nee, der starrt immer nur und sagen kann der eh nix." "Schon, aber manchmal möchte ich wissen, was in ihm vorgeht." Die Stimme verebbt mitten im Satz. Er will dankbar lächeln, wenigstens ein bisschen. "Der war mal Mathelehrer. Aber jetzt hat es sich was mit Denken." Die andere lacht halblaut. Und er will nicht hier sein. Hilfesuchend sieht er die Wand an. Er will aufstehen, will mit ihnen sprechen. Will erklären. Aber als sie herauskommt, kann er nicht einmal dankbar lächeln. Auch nicht, als sie seine Decke geradezieht. Sie sieht ihn fragend an. Dann löscht sie das Licht. Heute gibt es keine Musik. Er sucht nach Struktur im Dunkeln. Eine weitere dumpfe Nacht. Ein weiteres Gespräch, das er nicht geführt hat.