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Wählt Ilham!

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15.04.2002
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Wählt Ilham!

Die folgende Geschichte beruht auf Tatsachen.

Baku, 15. Oktober

Hinauf. Noch ein paar Stufen. Ahmed nahm die letzten zwei auf einmal. War außer Atem. Die Metro-Station Sahil entließ ihn in die Aserbaidschan-Allee. Vom kaspischen Meer her miefte kalter Ölgestank. Er füllte Ahmeds Lungen in kurzen, schnellen Atemzügen, während er lief. Weiter unten, vor der Zentrale der Musavat-Partei, hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Die Leute schwenkten blaue Fahnen und riefen den Namen des Vorsitzenden – Gambar, Gambar!
Schwere Schritte von der Seite. Ahmed fuhr herum. Polizei. Helme, Schutzschilde. Fünfzig. Hundert. Ahmed blieb stehen, schob sich an einem parkenden Wagen vorbei. Dann waren sie bei ihm.
Ein Schlag. Schmerz donnerte in seinem Rücken.
»Halt! Ich bin Reporter!«, rief er, fuhr herum. Stierende Augen unter einem Polizeihelm durchbohrten ihn, weiter hinten standen Männer in schwarzen Uniformen. Ohne Polizei-Abzeichen. Unvermittelt traf ihn der nächste Schlag. Er hielt sein Diktiergerät hoch, tastete nach seinem Presseausweis. »Ich bin Rep ...« Der folgende Schlag brach seine Hand. Der nächste eine Rippe. Ahmed suchte nach Halt, rang nach Luft. Ging zu Boden. Dann wurde es dunkel.
Als er aufwachte, war es immer noch dunkel. Er lag auf eiskaltem Steinboden. Nackt. Er tastete umher, fühlte nur den Schmerz in seiner Hand und in seinem Leib.
Irgendwann betete er.
Irgendwann wurde die Kälte schlimmer als die Schmerzen in seiner Hand.
Irgendwann schlief er ein.

Rückblende: 2. Oktober

»Schau dir das an, ist gerade rein gekommen.« Ahmeds Kollege Georgi drückte ihm den Ausdruck einer Pressemitteilung in die Hand.
»Präsident Alijev bestimmt seinen Sohn zum Nachfolger als Parteichef«, las Ahmed. Er ließ das Papier sinken und verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen: »Wir sind eine Erbmonarchie, es ist nicht zu fassen.«
»Aber es wundert dich nicht.«
»Natürlich nicht. Mich wundert auch nicht«, fuhr er fort, während er die Meldung weiter überflog, »dass Ilham Vizepräsident der nationalen Ölgesellschaft wird. Ach ja, und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. Natürlich. Er ist sicher der richtige Mann dafür. Kein anderer könnte es besser.« Achtlos ließ Ahmed das Blatt auf seinen Schreibtisch fallen. »Wir haben damit gerechnet, dass der alte Mann seine Nachfolge regelt, bevor er von der Bühne des Lebens abtritt.«
»Er ist also wirklich so krank?«
»Sicher. Auch in Amerika können sie ihm nicht helfen.«
Georgi zuckte die Schultern. »Ich hänge mich mal ans Telefon.«
Ahmed begann, seine Kolumne für die Zeitung zu formulieren. Die Regierung, schrieb er, wolle bei der Wahl am 15._Oktober Stärke zeigen. Schwäche und Instabilität würden in- und ausländische Investoren abschrecken und wichtige Geschäfte gefährden. Das Öl war der Lebenssaft der Nation – nein, der Regierung. Das Schwarze Gold aus dem Kaspischen Meer hatte Baku zu einem inoffiziellen ökologischen Katastrophengebiet gemacht, aber das interessierte kaum einen der 1,8 Millionen Bewohner. Viele schienen sich auch nicht dafür zu interessieren, was mit der jungen Demokratie geschah. Die Opposition war zerstritten und offen gesagt chancenlos bei der Wahl. Daher war es gar nicht nötig, Sympathisanten der Musavat-Partei von ihren Arbeitsplätzen zu verjagen, ihre Demonstrationen zu verbieten und ihre Anführer mit rechtlichem Geplänkel in Atem zu halten. Trotzdem würden Isa Gambar und die anderen Gegner des Alijev-Clans eine Menge Stimmen sammeln – Stimmen gegen ein Machtmonopol, für das Anhören einer zweiten Meinung. Zum Beispiel in Bezug auf die 17_Prozent Kinder-Unterernährung im Land. Der Achtungserfolg, den man sich bei der Wahl am 15. Oktober erhoffte, würde ein Zeichen setzen – ein Zeichen für Demokratie und Bürgerrechte.
Ahmeds Artikel wurde nicht gedruckt. Die Druckerei – ein staatliches Unternehmen – behauptete, sie hätten nicht genug Papier. Während der Chefredakteur die Beherrschung verlor und seinen unschuldigen Assistenten anschrie, der ihm diese Nachricht überbrachte, suchte Ahmed nach einer anderen Druckerei. Aber das Papier war überall knapp. Vermutlich, dachte Ahmed, hatte man es aufgebraucht, um jede einzelne Hauswand in Baku großflächig mit Postern von Ilham Alijev zu bekleben.

16. Oktober

Irgendwann holten sie Ahmed aus seiner Zelle. Sie drückten ihm Häftlingskleidung in die Hand und ließen ihm einige Minuten, um sich zu waschen und anzuziehen. Jemand, vielleicht ein Arzt, legte ihm einen provisorischen Verband an. Ohne viele Worte brachte man ihn dann in einen anderen Trakt des Gebäudes, um ihn in eine neue Zelle zu schieben. Hier gab es eine Neonröhre, dank der Ahmed sehen konnte, wie schmutzig der Raum war. Auf dem einen der beiden schmalen Betten saß ein anderer Mann. Erst, als die Beamten verschwunden waren, kam es zu einem Gespräch.
»Haben sie dich auch heute festgenommen?«
Ahmed entgegnete: »Nein. Gestern. Was ist seitdem draußen passiert?«
Der andere – hager, ordentlich frisiert – zuckte mit den Schultern. »Was schon. Alijev hat sich zum Wahlsieger erklärt, bevor alle Bezirke ausgezählt wurden, und zwar mit 77 Prozent.«
»77! Das ist nicht mit rechten Dingen zugegangen.« Ahmed kauerte sich auf sein Bett. Die Wolldecke kratzte. Seine verletzte Hand pochte.
»Die Amerikaner haben ihm jedenfalls schon zu diesem klaren Sieg gratuliert.«
»Die Amerikaner?«
Der andere zuckte erneut mit den Schultern. »Eine offzielle Stellungnahme vom Weißen Haus.«
Der Mann, mit dem er die Zelle teilte, war Taxifahrer, und er hatte offenbar eine Straßensperre umfahren. Ahmed erfuhr, dass es immer noch Demonstrationen gab, und dass die Polizei sie gewaltsam auflöste. Isa Gambar hatte als bester Kandidat der Opposition zwölf Prozent der Stimmen erhalten. Ihm wurde vorgeworfen, zu verbotenen Protesten aufgerufen zu haben, und er befand sich nun unter Hausarrest.
Irgendwann gab es nichts mehr zu sagen.
Irgendwann beteten sie.
Irgendwann ging das Licht aus. Dann erzählte Ahmed vom Wahltag.

Rückblende: 15. Oktober

Das Wahllokal lag in der Mamed-Ragim-Straße. Am Morgen, als Ahmed dort ankam, hatte sich vor dem Lokal eine Schlange gebildet. Wenige Leute unterhielten sich, bis auf einen Anzugträger, der einen Wähler nach dem anderen ansprach und Ahmed sofort auffiel. Unauffällig machte er Fotos aus einiger Entfernung, dabei sah er genauer hin. Der Mann steckte einem Wähler etwas zu. Sicher keine offiziellen Wahlpapiere. Sondern Geld. Wieviel mochte eine Stimme für Alijev wert sein? 1000 Manat? 2000?
Ahmed sprach einige Sätze in sein Diktiergerät. Er nahm sich zusammen. Er war hier, um zu beobachten. Er durfte nicht eingreifen. Schließlich betrat er das Wahllokal. Er zeigt einem Beamten seinen Presseausweis. Der Mann sah ihn daraufhin unfreundlich an, ließ ihn aber in Ruhe.
An einem Tisch saßen zwei Wahlhelfer mit den Listen. Ein älterer Mann redete auf einen Wahlhelfer ein. Offenbar sprach der Mann nur Russisch, und der Wahlhelfer tat so, als verstehe er ihn nicht. Er versuchte verständlich zu machen, dass er sich auch nicht erklären könne, warum der Name des Mannes nicht auf der Liste stand. Und ohne Eintrag in der Liste dürfe er nun einmal nicht wählen. So einfach sei das.
Ahmed zückte die Kamera, und eine Sekunde später stand ein Beamter vor ihm und drohte, sie zu beschlagnahmen, wenn er sie benutze. Er verwies auf eine neue Verordnung, von der Ahmed noch nie etwas gehört hatte.
Die Diskussion wurde unterbrochen, als ein OSZE-Beobachter auftauchte. Der Beamte kümmerte sich fortan rührend um den Mann, der offenbar aus Spanien stammte und seinen Dolmetscher vergessen hatte. Der Beobachter machte fleißig Notizen, die er energisch in seinen tragbaren Computer tippte. Er protokollierte 41 Fälle von Wählern, deren Namen nicht auf der offiziellen Liste standen und wieder abziehen mussten, ohne eine Stimme abzugeben.
Um 18 Uhr schloss das Wahllokal. Der Beamte führte den spanischen Wahlbeobachter freundlich zu einem Auto, um ihn zur Auszählung zu fahren. Als nur noch die Rücklichter des Wagens im abendlichen Dunst von Baku zu sehen waren, tauchten die beiden Wahlhelfer mit der Urne auf und schleppten sie zu einem anderen parkenden Auto. Ahmed beobachtete, wie die Männer zuerst versuchten, die sperrige Urne im Wagen zu verstauen. Schließlich gaben sie es auf, öffneten die Urne und kippten die Wahlzettel in den Kofferraum.
Als der Wagen sich in den abendlichen Verkehrskollaps von Baku einreihte, war Ahmed hinter ihm. Es ging quer durch die Stadt, in eine völlig andere Richtung als jene, in die der OSZE-Beobachter gebracht worden war.
Irgendwann verlor Ahmed den Wagen mit den Stimmzetteln aus den Augen.
Irgendwann brach der Verkehr endgültig zusammen.
Irgendwann sagten sie im Radio, dass es einen Aufruhr vor der Zentrale der Musavat-Partei gab. Ahmed stellte den Wagen ab und rannte zur Metro. Kurz darauf saß er in einem der klapprigen Triebwagen. An der Station Sahil stieg er eilig aus.

17. Oktober

Am Morgen wurde Ahmed vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Noch bevor er zu einem Arzt ging, meldete er sich in der Redaktion.
»Wie lange haben sie wohl gebraucht, um sich dieses Wahlergebnis auszudenken?«
Ahmed schüttelte den Kopf. »Georgi, warum haben wir uns so sehr geirrt?«
»79,5 Prozent«, ignorierte der andere ihn, »keine 80. Wäre zu auffällig gewesen. Zu nah an Saddam, mit seinen 99,9.« Georgi lachte heiser. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
»Er hätte auch gewonnen, wenn er nicht betrogen hätte«, sagte Ahmed, »nur nicht so deutlich. Ein bisschen mehr Demokratie hätte er uns doch gönnen können, oder?«
Georgi nahm einen langen Zug von seiner Kippe. »Ja, und Ali Kaham wäre noch am Leben.«
Ahmed sah seinen Kollegen verständnislos an.
»Ja, das weißt du noch nicht. Bei den Zusammenstößen mit der Polizei gab es nicht nur Verletzte. Sondern auch einen Toten. Aber weißt du, was mich völlig fertig gemacht hat?«
»Was?«
Georgi zog an seiner Zigarette, als könne er ihr Kraft abgewinnen, um die Erinnerung zu ertragen. »Nachdem die Polizisten die Demonstranten zusammengeschlagen hatten, reckten sie ihre Schilde in den Himmel und jubelten.«
Ahmed hielt sich die schmerzende Hand. Er stand am Fenster und sah hinunter auf die Straße.
Irgendwann hatte Georgi zuende geraucht und ließ Ahmed allein.
Irgendwann machte sich Ahmed auf den Weg zum Krankenhaus.
Irgendwann brach mal wieder der Verkehr zusammen.

 

Hallo Uwe,
Die Unterzeile "beruht auf wahren Begebenheiten" würde ich mir schenken. Der Leser sollte intelligent genug sein, zu wissen, dass es ein Land wie "Aserbaitschan" und Dinge wie "Wahbetrug" wirklich gibt und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
Mutig, sich an aktuelle Begebenheiten heranzuwagen. Das ist sehr schwer, das geht zumeist ins Auge.
Mir fehlt ein wenig der Lokalkolorit. Sieht man vom Ölgeruch und den Ortsbezeichnungen bzw. Namen ab, könnte man die Geschichte auch mühelos z.B. nach Venezuela verfrachten. Da hilft es nicht, einen Blick in den Alamanach zu werfen und Daten wie "17_Prozent Kinder-Unterernährung", "1,8 Millionen Bewohner" einzubauen, zumal die Figur des Ahmed blass wirkt (und wie das Pendant zu dem literarischen westlichen Standard-Journalisten). Hier könntest du aushelfen, in dem du Ahmed zum Beispiel eine Erinnerung schenkst, eine Motivation, warum er gerade Journalist und für Demokratie ist, z.B. durch ein Erlebnis während des Krieges gegen Armenien.
Und wer ist eigentlich dieser Ali Kaham? Das er namentlich erwähnt wird und Ahmed nicht nachfragt, wer er ist, lässt mich vermuten, dass er für die Handlung mehr ist, als "nur" ein totgeprügelter Passant, aber Pustekuchen.

Alles in allem fehlt Atmosphäre, die Geschichte wirkt auf mich zwar ambitioniert, aber noch ziemlich roh, könnte aber mit ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen - besonders des sterilen Protagonisten - was werden.

Liebe Grüße,
...para

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Weitere Anmerkungen:

Ahmed blieb stehen, schob sich an einem parkenden Wagen vorbei.
Was jetzt? Stehen bleiben und vorbeischieben geht nicht.

Dann waren sie bei ihm.
Ein Schlag. Schmerz donnerte in seinem Rücken.
Wenn sie ihm entgegenkommen und er sie dabei ansieht, wie können sie ihn in den Rücken schlagen? Oder schleichen sich weitere Unholde von hinten an? Das wäre etwas zuviel Aufwand, oder?

Die Regierung, schrieb er, wolle bei der Wahl am 15._Oktober Stärke zeigen.
Beachte den Unterstrich, auch bei "17_Prozent"

Die Opposition war zerstritten und offen gesagt chancenlos bei der Wahl.
Ich würd das "offen gesagt" eher als Einschub kenntlich machen, durch Kommata oder Gedankenstriche.

Ahmed entgegnete: »Nein. Gestern. Was ist seitdem draußen passiert?«
Fällt auf: Er kann nicht wissen, ob seit gestern, heute oder vorgestern, denn er war entweder ohnmächtig oder in einer "dunklen Zelle"

Er zeigt einem Beamten seinen Presseausweis.
Tempusfehler.

Der Beamte führte den spanischen Wahlbeobachter freundlich zu einem Auto,
"freundlich" kannste streichen, "rührend um ihn kümmern" sagte ja bereits alles.

 

Hi Para,

ich halte die meisten Deiner Anmerkungen für zutreffend.
Den Mangel an Lokalkolorit habe ich nicht beheben können. Liegt wohl daran, dass ich nicht selbst vor Ort war und nicht Karl May heiße (der auch nicht vor Ort war, das aber ziemlich gut kaschieren konnte).

Die Vorbemerkung bleibt stehen. Ich halte es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Story nicht rein fiktiv ist. Und ich fürchte, dass sehr viele Leser nicht Bescheid wissen. Deshalb habe ich den Text geschrieben, um darauf aufmerksam zu machen.

Um die von Dir genannten Fehler werde ich mich kümmern, danke dafür. Ob ich der Geschichte irgendwie noch "Fleisch auf die Knochen" machen kann, weiß ich nicht. Wenn nicht, bleibt es bei dem Experiment, eine politische Geschichte vor wahrem Hintergrund zu schreiben. Ist das erste Mal, weißt Du.

 

Wie wäre es, wenn du dir z.B. Fotos von Baku anschaust, und dann Kleinigkeiten einbaust, z.B. über etwas architektonisch Auffallendes (historisches Gebäube, häßliche, alte Betonfronten aus Sovietzeiten, Läden, Moscheen, Hotels?), das er passiert?

 

Hab ich schon, hat mich aber nicht wirklich inspiriert.
Aber ich denke, es ist wichtig für die Geschichte, daher werde ich mich nochmal daran geben.

 

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