Wächter der Stadt
Es ist Nacht. Ich gehe die einsame Hauptstraße entlang.
Niemand außer mir und ihnen ist zu dieser späten Stunde noch unterwegs.
Sie bewegen sich in der Dunkelheit an Orten, die das Licht des Mondes nicht erhellen kann.
Langsam gleiten ihre schattenhaften Formen aus den Verstecken, immer näher an die Fenster und Türen, hinter denen ihre schlafenden und ahnungslosen Opfer warten.
Ich weiß, dass du an einem dieser Fenster stehst und mich beobachtest. Du kannst sie nicht sehen.
Mit deinen Augen verfolgst du meinen Weg jede Nacht, seitdem du mich zum erstenmal entdeckt hast.
Bisher hast du es nicht gewagt, dein Haus zu verlassen und mir zu folgen, und ich hoffe, dass du niemals den Mut dazu finden wirst.
Ich trete zwischen die lauernden Schatten, und ihre Aufmerksamkeit fällt auf mich, die Beute in den Häusern augenblicklich vergessend.
Mit bedächtigen Schritten gehe ich die Straße hinab, die Schatten dicht hinter mir.
Wir verlassen die Stadt und betreten den finsteren Wald, in welchem du mich von deinem Fenster aus nicht mehr erblicken kannst.
Ich führe die Schatten auf eine tief im Unterholz verborgene Lichtung, die vom Mond in silbernen Glanz gehüllt ist.
Sie verstecken sich an ihrem Rand zwischen den Bäumen, um das reinigende Mondlicht zu vermeiden.
So verbringen wir diese Nacht wie schon unendlich viele zuvor, ich regungslos, im Schein des Mondes, sie in der Dunkelheit, ihre Blicke auf mir ruhend, unfähig mich zu erreichen.
Die ersten Sonnenstrahlen tauchen den Wald in sanftes Gold, und die Schatten ziehen sich zurück.
Während des Tages müssen sie an kalten und verfluchten Orten Zuflucht suchen, die weder Sonnen- noch Mondlicht je erreichen. Doch ich weiß, dass sie nächste Nacht wiederkommen werden, an den Häusern der Menschen lauernd.
Ich werde mit ihnen zurückkehren und sie auf die kleine Lichtung im Wald führen, so wie ich es schon immer getan habe, und auch du wirst wieder an deinem Fenster sitzen und mein Erscheinen erwarten, so wie du es jede Nacht tust.
Ich gehe die leere Hauptstraße entlang. Schattenhafte Formen gleiten langsam aus ihren Verstecken, immer näher an Türen und Fenster.
Ich trete zwischen sie, und ihre Aufmerksamkeit fällt auf mich, die wehrlose Beute in den Häusern augenblicklich vergessend.
Ich schreite durch das Stadttor, als ich höre, wie sich eine Tür hinter mir öffnet.
Du hast endlich den Mut gefunden, mir zu folgen.
Ich drehe mich nicht um zu dir sondern setzte meinen Weg fort.
Noch bemerken sie dich nicht, all ihre Augen sind auf mich gerichtet.
Am Eingang des Waldes zögerst du kurz, und in mir glimmt die Hoffnung, du würdest dein Vorhaben aufgeben und in die Sicherheit deines Hauses zurückkehren, doch du bist entschlossen und folgst mir in die tiefe Dunkelheit zwischen den Bäumen.
Ich kann dich ächzen und stöhnen hören, als knorrige Äste und Dornen deine Haut zerkratzen.
Ich bleibe in der Mitte der Lichtung stehen und drehe mich zu dir um.
Meine Augen sind voller Trauer, während deine vor Bewunderung und Faszination erstrahlen.
Du machst ein paar Schritte in meine Richtung, den Arm ausgestreckt, um mich zu berühren, als der Bann bricht.
Die Augen der Schatten richten sich auf dich, sie hören deinen Herzschlag und spüren das Leben, das so vital in deinem jungen Körper pulsiert.
Es ist vorüber bevor du erkennen könntest, in welche Gefahr dich deine Verwegenheit gebracht hat.
Ihre Klauen packen dich und reißen dich aus dem Mondlicht in die Dunkelheit des Waldes.
Das Licht verbrennt sie, aber Hunger und Zorn sind größer als der Schmerz, und dir bleibt nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen, ehe sie dich verschlingen.
Du erwachst in der dir so vertrauten Stadt und spürst meine Hand an deiner Wange.
Ich flüstere etwas in dein Ohr und hauche einen Kuss auf deine Lippen, bevor ich beginne, mich im Mondlicht aufzulösen.
Du siehst die Schatten aus ihren Verstecken gleiten und weißt, dass es nun deine Aufgabe ist, die Stadt Nacht für Nacht zu beschützen.
Du hoffst, dass niemand an seinem Fenster sitzt und dich auf deinem Weg die leere Straße entlang beobachtet.