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- 03.09.2001
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Vorurteile
Wie ich Tim kennenlernte? Er war der Freund, von dem Freund, von der Schwester, von meiner Freundin. Irgendwann, auf irgendeiner Party kam ich irgendwie mit ihm ins Gespräch. Er war wirklich nett und das wunderte mich, denn er hatte eine Glatze, Springerstiefel an und als wir uns unterhielten, erfuhr ich, dass er "Böse Onkelz" hörte.
Es war wirklich nicht so, dass ich dachte: Oh, verdammt! Ein Skin Head. Nichts wie weg.
Aber wenn ich ehrlich bin, kam das meinen Gedanken in diesem Moment ziemlich nahe. Eigentlich dachte ich das schon, als er mich ansprach. Er sah halt aus wie ein Skin Head.
Zwei Tage später las ich in der Zeitung, dass ein paar Skin Heads ein älteres Ehepaar im Schwimmbad so zusammengeschlagen hatten, dass die Frau später im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag und starb.
Ich konnte mir nicht, aber ich hatte die ganze Zeit dieses schreckliche Bild vor Augen :Tim, wie er mit seinem Springerstiefel in eine, am Boden liegene Frau, trat. Es passte zwar so gar nicht zu dem Tim, den ich flüchtig auf dieser Party kennen gelernt hatte, aber diese "Idee" hatte sich in meinem Kopf festgesetzt.
Am Abend klingelte das Telefon. Ich nahm ab. Es war Tim. Er fragte, ob wir uns nicht mal teffen könnten. Er hätte mich sehr nett gefunden undwollte mich gerne mal näher kennen lernen. Mir schoss durch den Kopf wie ich vergewaltigt und erstochen im einem Straßengraben lag, mit einem dicken Hakenkreuz auf der Stirn.
Vielleicht habe ich eine blühende Fantasie. Aber so bin ich nun mal. Ich sah die ganze Zeit nur die Springerstiefel, die Glatze und hörte in meinem Kopf die Musik der "Bösen Onkelz".
Ich wimmelte ihn ab; sagte ihm, im Moment hätte ich wahnsinnig viel zu tun, usw..
Er rief noch ein paar Mal an, aber ich glaube ich hatte ihm klar gemacht, dass ich mich nicht für ihn interessierte.
Manchmal flüsterte eine Stimme in mir: Vielleicht wäre er ganz nett gewesen und gar nicht so schlimm wie du denkst? Es war doch sehr mutig von ihm, bei dir anzurufen, obwohl er dich gar nicht kannte? Du wünscht dir doch sonst auch Spontaneität und Mut bei einem Jungen?
Aber ich würgte mein Gewissen gnadenlos ab.
Ich hatte Tim schon fast wieder vergessen, als ich eines Morgens die Zeitung aufschlug. Bei den Todesanzeigen war ein Bild von Tim.
Daneben stand:
Wir trauern um unseren Sohn, Enkelsohn, Bruder und Freund Tim.
Seine 19 Lebensjahre waren vom Krebs gezeichnet."
Diese Geschichte hat mich gelehrt, immer den Menschen an sich zu beurteilen und niemals seine Hülle.