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Vorsicht, bissig!
Mark Andersons Stimmung war auf dem Tiefpunkt, als er seinen Streifenwagen in die Baker Street lenkte. Nicht genug, daß er sich heute morgen mit Lydia wegen eines Kratzers auf dem Glastisch unangemessen heftig gestritten hatte. Obendrein mußte natürlich ausgerechnet der alte Harding im Revier anrufen und um Hilfe bitten. Mal wieder.
Dank des streitbaren Rentners schwitzte Mark nun in der nichtklimatisierten Blechschüssel sturzbachartig Körperflüssigkeiten aus. Für Lustausflüge der Ratsmitglieder, die als dem Gemeinwohl dienende Kulturreisen getarnt wurden, hatte die Stadt Geld. Die Anschaffung von absurd teuren Skulpturen, die ganz offensichtlich das Ergebnis eines Wettbewerbs im Lehmklumpenschichten unter Drogen gesetzter Affen waren – kein Problem. Die Ausbesserung einer Nebenstraße, die so überflüssig war wie die Morgenlatte des Papstes – klar, diente dem Stadtbild. Aber eine hübsche kleine Klimaanlage für die Streifenwagen? Nein, da verwiesen die Fettärsche aus dem Stadtrat dann plötzlich auf die ach so leeren Kassen. Midwinter war schließlich nur eine unbedeutende Kleinstadt an der Westküste Englands.
Verstehen Sie doch, Mr. Anderson, das Geld fließt in die Metropolen. Da können wir nichts dran ändern.
Mark stoppte den Wagen vor dem Haus Nummer 13 und stieg aus. Paul Harding erwartete ihn bereits vor dem Tor zu seinem beachtlichen Grundstück, das sich im übrigen durch eine lange, zwei Meter hohe Mauer den Blicken Neugieriger entzog.
„Officer, da sind Sie ja endlich.“
Mark Anderson wischte sich die verschwitzten blonden Haarsträhnen aus der Stirn und wünschte sich die Macht, nervtötende Rentner mittels seiner Gedanken auf den Mond teleportieren zu können.
„Tut mir leid, Mr. Harding, schneller ging es nicht“, sagte er und reichte dem Alten die Hand. „Was gibt es denn?“
„Was schon!“ fauchte Harding. „Die verdammten Kinder schon wieder. Eines Tages dreh ich denen einzeln den Hals um. Vor allem den beiden Satansbraten der Parkers.“
Paul Harding hielt eine kleine Plastiktüte in der Hand.
„Da, sehen Sie nur. Die Schweinerei habe ich eben aufgesammelt. Können die ihren Müll nicht woanders entsorgen? He?!“
Mark warf einen Blick in die Tüte. Kaugummiverklebte Papierfetzen, drei leere Kakaoflaschen, zwei Coladosen und drei eingeschweißte Kondome.
„Und Sie haben gesehen, wer es war?“
„Klar, Officer. Die ganze Meute, aber geworfen haben die Parker-Brüder und die kleine Bestie, Nadine oder Joeline oder so ähnlich – na, ist ja auch egal, wie die Göre heißt. Die sollte man alle an den Haaren in eine Besserungsanstalt schleifen, ohne Freigang. Am besten auch ohne Essen. Sollen sie doch krepieren. Sind eine Gefahr für jeden anständigen Bürger in dieser Stadt. Drecksbande!“
„Na, na... Mr. Harding, jetzt lassen Sie die Kirche aber mal im Dorf, ja?“
„Hören Sie mir doch auf mit der Kirche. Und übertreiben? Ich? Sie müssen ja nicht alle paar Tage den Müll wegschaffen. Unternehmen Sie gefälligst endlich etwas. Sonst muß ich mir selbst helfen.“
„Ich versteh ja Ihren Ärger. Aber kommen Sie bloß nicht auf die Idee, so etwas wie Selbstjustiz auszuüben. Wenn Sie die Kinder auch nur einmal anfassen, bekommen Sie eine Menge Ärger. Auch mit mir! Haben wir uns da verstanden?“
Paul Harding kniff die Augen zusammen.
„Ist das Ihr Ernst?“
„Mein voller Ernst“, nickte Mark. „Ich verspreche Ihnen, daß ich nochmal mit den Parkers und Ihren Söhnen rede. Das werden wir schon irgendwie geregelt bekommen. Meine Güte, es sind doch noch Kinder. Wir waren alle mal jung.“
„Kleine Teufel sind das, jawohl, kleine Dämonen. Tun Sie Ihren Job, dafür werden Sie schließlich bezahlt. Und da Sie mir nicht garantieren können, daß das aufhört, werde ich mir schon zu helfen wissen. Da können Sie Gift drauf nehmen.“
„Mr. Harding, ich kann Sie nur eindringlich...“
„Paul!“ kreischte eine Stimme, die selbst das sonnigste Gemüt in eine tiefe Sinnkrise stürzen konnte. „Pauhauuul! Mittagessen, Liebling!“
„Meine Alte ruft.“
„Unüberhörbar“, lächelte Mark, während er über die Schulter des Rentners hinweg einen Gruß zu der auf der Veranda des doppelstöckigen Flachdachgebäudes stehenden bulligen Stimmgewalt winkte.
Paul Harding warf ihm einen giftigen Blick zu.
„Also, Officer, werden Sie...“
„Pauhauuulll!“
„Ja, verdammt, Wanda, ich komm ja schon!“ Harding kochte. „Hören Sie das, Officer? Ich hab genug Probleme, da brauch ich nicht noch die Kinder dazu. Tun Sie was.“
„Mein Möglichstes“, erwiderte Mark knapp.
„Wiedersehen... Officer!“ knurrte Harding und trottete die knapp zwanzig Meter über die Wiese zum Haus.
Während Mark Anderson ins Revier zurückfuhr, um einen Termin mit den Parkers zu vereinbaren, suchte Paul Harding in seinem Haus fluchend nach einem Werbeblättchen, das mit der letzten Postwurfsendung ins Haus gekommen war. Als er es gefunden hatte, griff er nach dem Telefonhörer und tätigte einen Anruf. Danach erst setzte er sich an den Küchentisch und schlürfte Wandas Erbsensuppe.
In den knapp zwei Wochen, die zwischen diesem Gespräch und den Ereignissen der Nacht zum fünfzehnten September lagen, entwickelte sich die Lage unaufhaltsam ihrem Höhepunkt entgegen.
Am fünften September stattete Mark Anderson der Familie Parker einen Besuch ab. Der vierzehnjährige Leroy und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Anthony saßen wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden, auf der Couch und ließen das Unwetter ihres Vaters über sich ergehen. Nachdem auch Mark einige deutliche Worte gesprochen hatte, versprachen beide reumütig, das Grundstück der Hardings in Zukunft unbehelligt zu lassen.
Am siebten September erhielt Paul Harding einen Anruf mit der Bitte, seine Wünsche genauer zu spezifizieren. Nach intensiver Beratung entschied er sich für das Beste, was unser Haus zu bieten hat – effizient und absolut zuverlässig.
Am achten September waren die geröteten Stellen ihrer Kehrseiten soweit abgeschwollen, daß Leroy und Anthony wieder ohne Schmerzen aufrecht sitzen konnten. Sie schworen Paul Harding, daß er für jeden Schlag, den sie von ihrem Vater erhalten hatten, teuer werde bezahlen müssen.
Am Vormittag des neunten Septembers öffnete Paul Harding das schmiedeeiserne Tor zu seinem Grundstück und ließ den Lieferwagen von Sherman Security, Inc. vor sein Haus fahren. Zwei Männer in dunkelblauen Overalls schafften eine sargähnliche Kiste mit Hilfe einer Sackkarre hinter das Haus. Nachdem sich Paul Harding von der korrekten Lieferung überzeugt hatte, unterschrieb er mit blassem Gesicht den Lieferschein und übergab einem der Männer ein dickes Geldbündel – die Firma akzeptierte nur Barzahlung. Paul erhielt noch einen großen Umschlag.
„Da sind alle Verhaltensmaßregeln drin. Halten Sie sich daran, und Sie werden viel Freude mit unserem Produkt haben. Ach, und in dem Umschlag ist auch ein Warnschild. Sie müssen die Leute darauf hinweisen, ist Vorschrift. Der kleine Kerl versteht nicht viel Spaß, wenn es darum geht, ihr Eigentum zu beschützen. Wir wollen doch beide nicht, daß jemand ernsthaft zu Schaden kommt, oder?“ Bei diesen Worten hatte der Mann gelacht. „Jedenfalls, Gratulation zu dieser ausgezeichneten Wahl. Sie werden zufrieden sein. Schönen Tag noch.“
Am Nachmittag des neunten Septembers warf Leroy Parker einen mit roter Farbe gefüllten Beutel über die Mauer des Grundstücks Baker Street 13. Sein Freund Marvin pinkelte gegen die Mauer, und die kleine Joeline hielt sich kichernd die Hand vor den Mund, weil sie Marvins Ding sehen konnte. Anthony Parker stand etwas abseits und fühlte sich gar nicht mehr wohl.
„He, Kinder, was macht ihr denn da?“ rief ihnen jemand von der anderen Straßenseite zu.
Für einen Moment ihrer Aufmerksamkeit beraubt, bemerkten sie nicht, daß Paul Harding das Tor aufriß und auf sie zustürmte. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie der kleine Anthony auf, als Harding ihn heftig am Ohr zog. Sein Bruder Leroy sprang auf die beiden zu, fing sich aber eine saftige Ohrfeige ein und taumelte zurück. Marvin war es schließlich, der dem alten Harding gegen das Schienbein trat und Anthony befreien konnte. Während sich die vier aus dem Staub machten, rief Leroy noch: „Das wird dir noch leid tun, alter Sack. Wart nur ab.“
Die Nachbarn, die den Vorfall beobachtet hatten, verschwanden wieder in ihren Häusern und beschäftigten sich mit ihren eigenen Angelegenheiten. Paul Harding selbst verzichtete auf eine Anzeige. Vielmehr wartete er, bis es später Abend geworden war; im Schutz der Dunkelheit gewöhnte er seinen seltsamen Neuerwerb an das Territorium, das dieser fortan zu bewachen hatte.
Am Morgen des zehnten Septembers hing dann das Schild an Hardings Tor.
Vorsicht, bissig!
Die Leute wunderten sich über das Schild. Es war nichts darauf abgebildet, es stand auch nicht da, was genau denn nun bissig sein sollte.
Neugierige Nachbarn, die den alten Harding darauf ansprachen, bekamen nur ein schiefes Grinsen zur Antwort. Leroy streifte mit seinem Bruder und anderen Kindern ein ums andere Mal an dem Grundstück vorbei, zunächst noch mit einer gehörigen Portion Respekt vor dem bissigen Etwas hinter der Mauer, aber bald schon davon überzeugt, daß es sich nur um einen albernen Bluff handelte. Probeweise über die Mauer geworfene Gegenstände blieben folgenlos. Kein Bellen. Kein Hecheln. Nichts.
Niemand sah Paul Harding oder seine Frau mit einem Hund spazieren gehen, niemand sah durch die Gitterstäbe des Tores hindurch einen bissigen Vierbeiner auf dem Grundstück.
Am frühen Abend des dreizehnten Septembers erhielt Leroy Parker die Erlaubnis, die übernächste Nacht bei Marvin schlafen zu dürfen. Auch wenn sein Vater es nicht aussprach, Leroy war sicher, daß es sich um eine Art Wiedergutmachung für die bezogene Tracht Prügel handelte. Nun, ihm konnte das nur sehr recht sein.
Zur ungefähr gleichen Zeit unterlief Wanda Harding ein übler Fehler. Euphorisch in einen Streit mit ihrem Göttergatten versunken, warf sie die verhaßte Fernbedienung der Glotze so kraftvoll an die Wand, daß ein Stück Putz zu Boden bröselte. Damit verstieß sie gegen Verhaltensmaßregel Nummer 8:
Wir gewährleisten hundertprozentigen Objektschutz. Achten Sie daher darauf, daß Sie Ihr eigenes Eigentum nicht schuldhaft beschädigen.
Die Folgen dieser Regelmißachtung waren verheerend.
Schließlich brach der Morgen des vierzehnten Septembers an. Es wurde ein sonniger und ruhiger Tag, der nicht enden wollte. Aber natürlich war es dann doch wie immer: auch der längste Tag geht irgendwann vorbei, und nach ihm folgt die Nacht.
„Willst du da wirklich rüber?“ flüsterte Marvin und sah sich argwöhnisch um.
„Ja, warum? Machst du dir jetzt etwa in die Hose deswegen?“
Leroy und Marvin standen vor dem Tor des Hardinggrundstücks. Das Licht der Straßenlaternen wurde von den ausladenden Ästen der Bäume gedämpft.
„Ich weiß nicht. Oh Mann, Leroy, was ist, wenn uns jemand sieht?“
„Um diese Zeit? Glaub ich nicht. Ist fast ein Uhr. Und selbst wenn... wäre mir auch egal. Der alte Knacker hat mich nicht umsonst geschlagen.“
„Wenn dein Dad erfährt, daß du schon wieder...“
„Ach, hör doch auf. Er wird es nicht erfahren. Kein Schwein sieht uns. Die schlafen doch schon alle.“ Leroy deutete in die Runde.
„Und was ist damit?“
Marvin zeigte auf das Schild.
Vorsicht, bissig!
„Was soll damit sein?“ fragte Leroy achselzuckend.
„Jetzt tu nicht so cool. Wenn der Alte wirklich einen Hund hat, was dann?“
„Hat er aber nicht. Hast du einen gesehen? Oder gehört? Ich nicht, die ganzen Tage schon nicht. Nur so´n blöder Trick von dem Knacker.“
„Ich weiß nicht...“
„Scheiße, Marvin. Was bist du? Freund oder Memme?“
„Komm schon, Leroy, was soll der Quatsch jetzt? Ich bin dein Freund. Aber irgendwie... ich... ich hab einfach Angst.“
„Hätte ich mir ja gleich denken können. Große Klappe, aber wenn´s drauf ankommt, nichts dahinter. Klasse, dann kann ich das ja wohl alleine durchziehen, oder?“
Marvin wich Leroys Blick aus. Er stand nicht gerne als Feigling da.
„Gut, schon klar, Marvin. Paß auf... ich geh da jetzt alleine rüber. Bleib wenigstens hier, und wenn jemand kommt, dann sag mir Bescheid.“ Bei diesen Worten zog Leroy sein Handy aus der Tasche und hielt es Marvin vor die Nase.
Marvin wäre zwar am liebsten ganz verduftet, aber dieser Vorschlag war immer noch besser als über die Mauer zu klettern.
„Ok, Leroy, mach ich. Keine Angst, kannst dich auf mich verlassen.“
„Ich habe keine Angst“, sagte Leroy und lächelte dabei so triumphierend, daß Marvin vor Scham rot anlief. „Du hältst die Stellung. Versprochen?“
„Versprochen!“
„Gut. Wir sehen uns.“
Leroy kletterte an dem Tor hoch und schwang sich auf die Mauer. Nach einem kurzen Kontrollblick winkte er Marvin noch einmal lässig zu und sprang auf der anderen Seite hinunter.
Marvin blickte sich um. Die Gegend war wie ausgestorben. Hoffentlich blieb das auch so. Er lief geduckt auf einen hochgewachsenen Busch am Ende der Mauer zu und hockte sich im Schatten des dichten Grüns auf den Boden. Sein Herz klopfte wild. Was sie hier taten, konnte Ärger geben. Nicht einfach nur irgendwelche Ungemütlichkeiten, sondern richtigen Ärger. Das war kein Kinderstreich mehr; es war eine irritierend erwachsene Scheiße, die sie da fabrizierten. Die Sache mit dem verstopften Schulklo vor einem Jahr war dagegen der reinste Hühnerfurz gewesen.
Marvin zog sein Handy aus der Gürteltasche und hielt es für alle Fälle bereit. Aber er war kein guter Beobachter, sonst hätte er die dunkle Gestalt, die sich in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Straße hinter einem Baum versteckt gehalten hatte und nun wie ein Schatten davonhuschte, vielleicht bemerkt.
Mark Anderson schmökerte gerade in Bret Easton Ellis´ American Psycho, als der Anruf zu ihm durchgestellt wurde.
„Anderson...“
„Hallo, Mr. Ander... hm, hallo Mark. Ich bin´s, Sarah.“
Die Stimme klang verschwörerisch.
„Sarah?“
Mark wußte im ersten Moment nicht...
„Sarah Duncan. Sie... ähm, du hast mir voriges Jahr mal aus der Patsche geholfen.“
„Ach, die Sarah!“ rief Mark erfreut aus. „Was gibt es denn?“
„Na ja, ich weiß ja nicht, ob es von Bedeutung ist, aber da sind gerade zwei Jungs in der Baker Street rumgeschlichen. Einer von denen ist über eine Mauer geklettert, der andere schiebt wohl Wache davor.“
Mark krauste seine Stirn ahnungsvoll.
„Wo genau war das?“
„Bei dem giftigen Alten... wie heißt er noch gleich?“
„Harding?“
„Ja, genau, der alte Harding. Keine Ahnung, was da los ist, aber ich dachte, du solltest es wissen.“
„Sarah, gut, daß du mich angerufen hast. Ich werde mir die Sache mal ansehen. Wo bist du jetzt?“
„Nur eine Straße weiter... Downhill Street, direkt an der Ecke Baker Street.“
„Ok, Sarah, warte da auf mich. Ich fahr sofort los. Zehn Minuten, höchstens ´ne Viertelstunde, dann bin ich da.“
Mark Anderson knallte den Hörer wutentbrannt auf die Gabel. Er hatte eine Ahnung, wer da über die Mauer geklettert war. Und wegen diesem Kinderkram mußte er jetzt auf seine spannende Nachtlektüre verzichten.
„Verdammter Rotzbengel!“ fluchte er so laut, daß seine Kollegen Herb und Jim zusammenzuckten. Er griff nach seiner Jacke und stürmte aus dem Revier.
Marvin lehnte mit dem Rücken an der Mauer und kaute an seinen Fingernägeln. So eine blöde Aktion würde er nie wieder mitmachen, das stand mal fest. Hoffentlich merkte bloß sein Vater nicht, daß die beiden Jungen gar nicht in Marvins Zimmer lagen und schliefen. Wenn Leroy meinte, er müsse sich mit dem alten Harding anlegen, dann konnte er das in Zukunft gefälligst alleine tun.
Unter dem Busch lockerte sich ein winziger Fleck Erde auf und sackte geräuschlos nach innen weg.
Marvin blickte auf seine Armbanduhr. Keine zehn Minuten hockte er jetzt hier, und doch kam es ihm bereits wie Stunden vor. Meine Güte, wenn Leroy dem Alten geradewegs in die Hände lief – nicht auszudenken. Oder noch viel schlimmer: wenn Harding nun doch einen Hund hatte? So ein zähnefletschendes Riesenvieh, das im Dunkel des Grundstücks um das Haus schlich. Leroy mußte von allen guten Geistern verlassen sein, daß er davor keine Angst hatte. Dieser Idiot!
Der Durchmesser des kleinen Lochs im Erdreich unter dem Busch wuchs schnell auf Handtellergröße an. In dem entstandenen Trichter verschwanden die Erdkrumen wie der feine Sand in einer Eieruhr. Ein absonderliches Ding, das wie eine Mischung aus Raubtiertatze und menschlicher Hand aussah, zwängte sich durch die Öffnung, bohrte seine kurzen Krallen in den Lochrand und riß ein großes Stück in die Tiefe. Dann kamen die Klauen zu zweit. Was auch immer sich da seinen Weg freigrub, es war schnell und so gut wie unhörbar. Hätte Marvin die Zweige zur Seite gebogen, hätte er nur einen einzigen Blick in den Busch geworfen, dann wäre er vielleicht noch davongekommen. Vielleicht hätte er dann später Alpträume von matt glänzenden Augen in der Schwärze eines Kraters gehabt, vielleicht hätten diese Alpträume sein weiteres Leben zu einer unerträglichen psychischen Qual werden lassen. Vielleicht hätte er sich später gewünscht, tot zu sein. Aber in jenem Augenblick an der Mauer wäre seine Wahl unzweifelhaft auf das Überleben gefallen.
Wenn man in Marvins Fall überhaupt von Glück sprechen konnte, dann allenfalls deshalb, weil er kaum etwas von seinem Tod mitbekam. Die Zweige neben ihm peitschten auseinander und spieen förmlich einen massigen Schatten aus, der Marvin gegen die Steine quetschte. Eine Klaue legte sich über sein Gesicht und preßte seinen Hinterkopf gegen die Mauer, Krallen bohrten sich in seine Schulter und seinen Unterleib. Er war viel zu überrascht, als daß er Schmerz hätte empfinden können. Etwas, das ihn an einen nassen Lederlappen erinnerte, klatschte gegen seinen Arm. Dann gab es ein Geräusch wie beim Schälen einer Erdnuß.
Der unaufmerksame Wachtposten jugendlichen Alters war bereits vollständig in das Erdloch gezerrt worden, als der mit Knochensplittern garnierte Brei aus Gehirn und Blut noch die Mauerwand hinunterrann.
Mark Anderson erkannte die im Lichtkegel einer Straßenlaterne stehende Sarah Duncan schon von weitem. Sie war wie immer ganz in Schwarz gekleidet. Es gab wohl nicht viele Leute, die sie jemals anders gesehen hatten.
Er lenkte den Streifenwagen an den Straßenrand und stieg aus.
„Hallo, Sarah“, begrüßte er sie und schüttelte ihr die Hand.
„Hallo, Mark. Schön, dich mal wiederzusehen.“
Mark lächelte sie kurz an. Mochten die konservativen Spießer der Stadt doch denken, was sie wollten. Er fand die Mittzwanzigerin mit den hochtoupierten schwarzen Haaren und den kahlrasierten Schläfen klasse. Sie war weiß Gott nicht angepaßt, hatte mächtig was auf dem Kasten und sah richtig hübsch aus. Alles andere als eine Punkerhexe, wie man sie schimpfte. Das verdammte Volk maßte sich immer an, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Würden sie doch nur irgendwann einmal in der Kloake ihrer Gedankenfäkalien qualvoll ersaufen, der Welt ginge es von Stund an besser.
„Was machst du um die Zeit hier?“
„Wie immer, bißchen an die Luft gehen. Ich mag die Nacht.“
„Komische Angewohnheit. Na ja, bist ja alt genug. Ganz sicher, daß da einer über die Mauer gesprungen ist?“
Bei diesen Worten deutete Mark die Straße hinunter zur Ecke Backer Street.
„Ja, vor einer Viertelstunde ungefähr. Ziemlich junger Typ. Und da war noch ein anderer, der schiebt wohl Wache.“
„Ok, bleib du hier. Vielleicht brauche ich dich gleich noch als Zeugin im Revier.“
Mark eilte die wenigen Meter bis zur Kreuzung, überquerte die Straße und näherte sich vorsichtig dem Anwesen der Hardings. Es war niemand zu sehen. Er schritt die Mauer entlang bis zum Tor und wollte gerade die Klingel betätigen, als ihm das Schild auffiel.
Vorsichtig, bissig!
„Ach du Scheiße!“ zischte er leise.
Harding hatte damit gedroht, daß er sich selbst helfen würde. Scheinbar war es ihm damit ernster gewesen, als Mark angenommen hatte.
Vielleicht war der Junge, der über die Mauer gestiegen war, in Gefahr geraten. Mark zögerte nicht länger. Er legte den Finger auf den Klingelknopf.
Nichts regte sich. Er schellte nochmal. Kein Licht ging an. Niemand öffnete die Tür. Die Sprechanlage blieb stumm.
Mark rüttelte an dem Tor. Verschlossen, natürlich. Ein unbestimmtes Gefühl trieb ihn zur Eile an. Das dämliche Funkgerät hatte er im Wagen liegen lassen. Aber warum sollte er sich auch lächerlich machen wegen eines vierzehnjährigen Jungen? Nein, das würde er ganz alleine klären. Entgegen jeder Dienstvorschrift setzte er einen Fuß auf eine Querstrebe des Tors und kletterte hinüber auf das Grundstück.
Vorsichtig blickte er sich um. Die Nachbargrundstücke links und rechts wurden von hohen Bäumen verdeckt, zwischen denen dichtes Buschwerk wuchs. An dem Haus vorbei konnte Mark die weiten Getreidefelder erahnen, die dem schrägen Bauern Ed McKensey gehörten.
Der Kiesweg knirschte unter seinen Sohlen, als er sich Schritt für Schritt dem Haus näherte. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Wußte der Teufel, warum die Hardings nicht wenigstens für ein Mindestmaß an Beleuchtung gesorgt hatten.
Seine rechte Hand umfaßte den Griff seiner Dienstwaffe. Sollte sich wirklich eine bissige Töle auf dem Gelände aufhalten, würde er sie notfalls erschießen.
Ein kühler Septemberwind rauschte durch die Baumkronen. Mark sah sich immer wieder um. Einmal glaubte er, eine zusammengekauerte Gestalt zwischen den Bäumen zu erkennen. Aber es waren nur die Schatten des Grünwuchses.
Als er die drei Stufen zur Veranda hinaufstieg, schaltete sich plötzlich ein heller Deckenfluter ein. Schlagartig fühlte sich Mark wie auf einem Präsentierteller. Wenn es jemand auf ihn abgesehen hatte, dann war jetzt der beste Zeitpunkt dafür gekommen. Er blickte zurück in den Garten, konnte aber außer der beleuchteten Straße und dem dunklen Schatten der Mauer nun gar nichts mehr erkennen.
Und der ganze nervenaufreibende Hickhack nur wegen diesem pubertierenden Bengel. Mark verspürte große Lust, dem Jungen das Sitzfleisch zu gerben. Aber dazu mußte er ihn erst einmal finden.
Mark drückte auf den Klingelknopf und trat erschrocken einen Schritt zurück. Der schrille Ton konnte Tote zum Leben erwecken. Wenn jemand zuhause war, dann mußte er spätestens jetzt aufmerksam werden. Aber es blieb alles ruhig. Nach viermaligem Schellen gab Mark schließlich entnervt auf.
Die ganze Sache stank zum Himmel – mindestens!
Er trat von der Veranda herunter und schlich auf die rechte Hausecke zu. Der Deckenfluter erlosch wieder. An der seitlichen Hauswand war ein kleiner Holzverschlag angebracht worden. Nicht viel größer als eine Hundehütte.
Mark zog die Pistole und atmete einigemale tief durch. Seine Lippen fühlte sich rauh an.
Er näherte sich dem Verschlag so vorsichtig wie ein barfüßiger Fakir, der über glühende Kohle schreitet. Die Lattentür war nur angelehnt. Mark klopfte vorsichtig gegen das Holz und trat schnell drei Schritte zurück, die Pistole im Anschlag. Nichts geschah. Jedenfalls nicht vor ihm.
Hinter ihm raschelte es in den Büschen. Etwas Großes brach daraus hervor und stürzte hechelnd auf ihn zu. Mark würgte einen erstickten Laut hervor, wirbelte herum, sein Finger krümmte sich um den Abzug. Jeden Moment muß das Vieh aus dem diffusen Dunkel in sein Blickfeld geraten – ein Rottweiler vielleicht, oder ein Dobermann. War da nicht ein Körper? Da vorne auf der Wiese? Geduckt, so daß er ihn kaum auf dem dunklen Untergrund erkennen konnte? Jesus, das Biest mußte riesig sein.
Mark hob die Waffe, zielte – und ließ die Hand wieder sinken. Nur ein Schatten, nur ein elender harmloser Schatten eines Baumes. Da war gar kein Hund. Kein Hecheln, nur das Rascheln der Büsche im Wind.
Mann, verlier jetzt bloß nicht die Nerven!
Es war offensichtlich nicht die Zeit, den Helden zu spielen. Okay, den Verschlag noch, nur den noch, dann würde er die Kollegen rufen. Sollten sie doch über ihn lachen.
Nervös nestelte er mit der freien Hand die Bleistiftleuchte aus der Jacke, griff nach der kleinen Tür und riß sie auf. Die Mündung seiner Waffe auf das Dunkel des Verschlags gerichtet, leuchtete er mit dem fingerdicken Lichstrahl der kleinen Lampe hinein.
Der alte Harding hatte einen Haufen feuchter Erde hineingeschaufelt. Der Matsch glänzte in dem kleinen Lichtstrahl. Es war nur Erde. Gott sei Dank.
Mark leuchtete etwas weiter rechts. Das Stöhnen aus seiner Brust hatte nichts Menschliches mehr an sich.
Ein Auge glotzte ihm aus dem Haufen entgegen. Das war keine feuchte Erde. Unwillkürlich bewegte Mark die Hand. Der Lichstrahl wanderte über die verunstalteten Reste von Leroy Parkers Gesicht. Der Junge war tot. Und er war nicht allein in seinem Unglück. Drei Arme hatte Leroy nie gehabt. Da war noch ein zweiter Toter in den Klumpen vermengt.
„Heilige Scheiße!“ stammelte Mark.
Dann gab er Fersengeld. Verstärkung – er mußte verdammt noch mal Verstärkung rufen.
Als er um die Hausecke bog, blieb er wie angewurzelt stehen. Soeben kletterte Sarah über das Tor und rannte schreiend auf das Haus zu. Auf der Mauer erschien ein Wesen, daß Mark den erlebten Schrecken vollständig vergessen ließ. Wie eine altägyptische Katzenstatue hockte sich die Kreatur auf die Hinterläufe. Selbst auf die Entfernung konnte Mark erkennen, daß sie ihm mindestens bis zur Hüfte reichte. Dunkel zeichnete sich die Silhouette des Wesens gegen die beleuchtete Straße ab.
Sarah hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, da breitete die Kreatur ihre mächtigen Flügel aus, schwang sich gleich einer bizarren Gottheit in die Luft und jagte auf die Frau zu.
„Sarah!“ schrie Mark. „Auf den Boden. Los, auf den...“
Die Pistole in seiner Hand wurde ihm erst jetzt wieder bewußt. Er riß die Waffe hoch, zielte auf den dunklen Schatten, der sich gegen das dämmrige Licht der Laternen in der Luft abzeichnete und drückte ab – einmal, zweimal.
Die Kreatur erhielt einen Schlag wie mit einer mächtigen Faust und wirbelte taumelnd durch die Luft. In der Nähe der Büsche schlug sie mit einem dumpfen Laut auf der Wiese auf und verschmolz mit der Dunkelheit.
Sarah stolperte indessen auf Mark zu und fiel ihm förmlich in die Arme.
„Sarah, was um alles...“
„Weg hier!“ keuchte sie, wobei ihr Speichel von den Lippen sprühte.
„Was hast du hier zu suchen?“
„Wollte nur nachsehen, nur an die Mauer... mehr nicht... da lag ein Handy... und plötzlich... laß uns abhauen, bloß weg!“
Mark löste sich von der jungen Frau und spähte in die Richtung, in der das Wesen zu Boden gestürzt war. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können.
Umso deutlicher war der Flügelschlag zu vernehmen. Ein Schatten huschte über sie hinweg und verschwand auf dem Dach des Hardinghauses.
„Was ist das?“ schrie Mark, als könne ihm nur Sarah diese Frage beantworten.
„Gargoyle...“
„Was?“
„Nicht jetzt... müssen weg... schnell!“
Auf der anderen Straßenseite gingen erste Lichter hinter den Fenstern an, Stimmen wurden laut. Eine Schießerei in dem beschaulichen Midwinter lockte sie dann doch aus ihren Träumen hervor. Hoffentlich dachte wenigstens einer der Musterbürger diesmal daran, die Polizei zu rufen. Das konnte doch nicht zuviel verlangt sein.
Ein Schaben hoch über ihnen. Mark riß den Kopf nach hinten und starrte hinauf. Klauenbewehrte Pranken hatten sich um den Dachrand gebogen, aus einem abgrundtief häßlichen Fratzengesicht funkelten ihn die lidlosen Augen der Kreatur böse an.
Mechanisch riß Mark die Pistole nach oben und feuerte blindlings einen Schuß ab. Zu einer überlegten Handlung war er nicht mehr fähig. Zu tief nistete das Bild des abstoßenden Antlitzes in seinem Gehirn. Die Sicherungen drohten ihm durchzuknallen.
Sarah packte seinen Arm und riß ihn mit sich, vorbei an dem Verschlag mit seinem grausigen Inhalt, vorbei an den Gartengerätschaften an der Wand, um die nächste Ecke herum...
Die Tür zur Terasse stand sperrangelweit offen. Schweratmend stolperten sie in das Haus. Verzweifelt tastete Sarah an der Wand nach einem Schalter, fand ihn, machte das Licht an.
Das Chaos im Wohnzimmer war perfekt. Ausgeweidete Möbel, ein umgeworfener Tisch, zersprungene Bilderrahmen, der beinahe bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Perserteppich... und Scherben, überall waren Scherben.
Auf der Schwelle zum Flur lag ein Unterarm. Ob von Paul oder Wanda, spielte keine Rolle mehr. Sarah und Mark wußten, daß beide tot waren. Kein Wettbüro hätte einen Einsatz dagegen angenommen.
Ein tiefes Fauchen drang durch die geöffnete Tür. Die Kreatur folgte ihnen. Was hatten sie auch erwartet? Der Gargoyle spielte nicht. Das Schild am Tor der Hardings war deutlich genug.
Mark und Sarah hasteten in den Flur, in dem sie die wahllos verstreuten Körperteile des Rentnerpaares fanden, ganz so, als wären die Hardingstücke vom Himmel geregnet. Der unschätzbare Vorteil ihrer Situation bestand darin, daß sie keine Zeit für Ekel hatten. Später vielleicht. Aber ganz gewiß nicht jetzt.
Im Wohnzimmer polterte etwas. Scherben knirschten. Sie mußten weiter. Sofort. Es ging die Treppe hinauf, zwei, drei Stufen auf einmal, über unförmigste Extremitäten hinweg, nur hoch, immer weiter hoch... lag da nicht eine Nase? Unwichtig... weiter, nur weiter... die nächstbeste Tür... hinein... Tür zu, nur die verdammte Tür zu!
Sarah betätigte den Lichtschalter. Sie waren im Schlafzimmer. Ein Raum ohne diverse Häppchen von Paul oder Wanda. In der Tür steckte tatsächlich der Schlüssel. Hastig drehte Mark ihn herum. Nur ein Anfang, aber ein guter Anfang!
Der Gargoyle polterte die Stufen hinauf. Er brüllte und kreischte, als hätten sich in ihm die Dämonenscharen der Offenbarung vereinigt. Ein dumpfer Schlag ließ die Tür erzittern. Krallen bohrten sich in das stabile Holz, fetzten Splitter heraus. Wieder und wieder warf sich die Kreatur gegen die Tür. Dann kehrte unvermittelt Stille ein.
„Nein, nein, nein... ich werd...“ Mark fuchtelte wild mit der Pistole herum. „Das ist doch verrückt. Nicht möglich. Was ist das für ein Ding?“
Sarah sank weinend auf die Bettkante nieder.
„Ich hab solche Angst, Mark.“
„Was meinst du, was ich erst für ´ne Angst hab. Ich glaub´s nicht. Glaub es einfach nicht!“
„Bitte... bitte, mach, daß es wieder weggeht. Mach, daß es verschwindet!“
„Wie denn? Ich weiß doch nicht einmal, was es ist!“
„Gargoyle... es ist ein Gargoyle. Das ist doch Irrsinn.“
Er hockte sich vor Sarah nieder.
„Sarah, bitte... sieh mich an. Was zum Henker ist ein Gargoyle?“
Sarah schien durch ihn hindurchzublicken.
„Die Steinwesen... häßlich, mit Flügeln... hast du bestimmt schon gesehen... unter den Dächern von alten Gebäuden... gothische Wasserspeier... damit der Regen abfließen kann...“
„Damit der Regen abfließen kann? Du meinst, da draußen läuft sowas wie eine blutrünstige Regenrinne herum?“ Es war kein guter Scherz, aber es war besser als nichts.
Sarah schüttelte den Kopf.
„Nein... ich meine, nicht nur. Nicht nur ein Regenabfluß. Es sind Wächter... gothische Wächter. Ich weiß doch auch nicht...“
Mark stand auf.
„So eine Scheiße! Dieser verdammte alte Narr.“
„Was ist denn?“
„Ach, nichts. Schon gut. Woher weißt du das eigentlich?“
„Gothik...“ Sarah deutete an sich hinunter. „Du verstehst? Sollen doch alle lachen. Kümmert mich nicht.“
Mark hatte keinen Blick mehr für sie. Er starrte über ihren Kopf hinweg auf die große Panoramascheibe. Das Fenster!
„Was ist los, Mark?“
Er deutete mit der bewaffneten Hand in Richtung Fenster.
„Keine Rolläden, nicht einmal Jalousien. Kein Schutz außer dem Glas. Und ich weiß nicht, wo das Vieh ist.“
Er wollte noch das Licht ausschalten, aber es war bereits zu spät. Wie eine Bombe schlug der Gargoyle mit ausgebreiteten Schwingen durch das Glas, streifte Sarahs Rücken und prallte gegen die Wand, von der er fauchend und kreischend auf Wandas antiken Schminktisch krachte. Die Kreatur tobte; ihre Klauen zermalmten das Gewirr aus Holzteilen, Puderdosen und Parfumflacons, die mächtigen Flügel wirbelten die Gegenstände wie Geschosse durch den Raum.
Aus der rechten Flanke näßte eine bräunliche Flüssigkeit.
Wenn es blutet, kannst du es töten!
Er wurde jedoch von der Schnelligkeit des Wesens völlig überrascht. Mit einem gewaltigen Satz überwand der Gargoyle die Distanz. Mark hielt das Wesen wie eine groteske Geliebte umschlungen, als er rückwärts taumelte und auf das Bett fiel. Unwillkürlich hatte er noch die Hände gespreizt. Ein gefährlicher Instinkt, wie sich zeigte: er verlor die Pistole.
Sarah, die durch den Aufprall in die Ecke des Zimmers geschleudert worden war, richtete sich benommen auf. Auf dem quietschenden Bett kämpfte Mark mit der Kreatur. Sie zerwühlten die Laken wie ein leidenschaftliches Liebespaar. Der halb verdeckte, aufgerichtete Körper des Gargoyle mit seinen ausgebreiteten Schwingen erinnerte Sarah an einen wütenden Schwan. Wenn er das doch nur gewesen wäre.
Auf dem Boden lag die Pistole. Kein Trugbild, da war tatsächlich die Waffe. Sie stolperte darauf zu und hob die Pistole auf. Ihre Hand zitterte. Sie bekam kaum noch Luft.
Mark stieß einen gellenden Schrei aus. Sein linkes Knie steckte im Maul des Gargoyle. Die Kniescheibe zerplitterte. Mark umklammerte den Kopf der Kreatur und wollte sie fortstoßen. Chancenlos.
Plötzlich war Sarah da. Sie sprang auf das Bett, nagelte den Gargoyle mit ihrem Schnürstiefel auf dem Bett fest und preßte ihm die Mündung der Pistole auf das linke Auge. Dann drückte sie ab.
Die Kreatur zuckte zurück, richtete sich auf die Hinterläufe auf und schlug kreischend mit den Flügeln um sich. Aus dem Loch in der häßlichen Fratze spritzte Blut und besudelte die Decke. Der Gargoyle machte eine Bewegung nach hinten, ruderte mit den Vorderpranken in der Luft, als würde sie ihm noch einen letzten Halt bieten können. Dann kippte er hintenüber und rutschte über die Bettkante auf den Boden hinab. Seine Beine zuckten noch wenige Sekunden, die Flügel zitterten ein letztes, ersterbendes Mal... dann war es vorbei.
Sarah sank im Schneidersitz auf das Bett und blickte zu Mark hinüber. Er war ohnmächtig geworden. Angesichts dessen, was der Gargoyle mit seinem Bein angestellt hatte, war es wohl das Beste für ihn.
Das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. Sie schüttelte den Kopf, griff sich an die Stirn. Es hatte keinen Zweck. Sie fiel einfach um. Dann gingen auch bei ihr die Lichter aus.
Die Ärzte konnten Marks linkes Bein nur zum Teil retten. Es wurde ihm oberhalb des Kniegelenks amputiert. Lydia versprach ihm, daß alles wieder gut werden würde. Die Ärzte wiesen darauf hin, daß es heutzutage gute Prothesen gäbe; in den letzten Jahren hätte es in diesem Bereich bedeutende Fortschritte gegeben. Seine Kollegen bedauerten, daß er vielleicht ganz aus dem Dienst scheiden müsse, aber das Leben ginge ja irgendwie weiter. Worte, die man in solchen Situationen halt zu hören bekommt. Worte, auf die man am liebsten einen großen stinkenden Haufen machen würde, wenn einem gerade das linke Bein halbiert wurde.
Der Fall selbst schlug hohe Wellen, ging landesweit durch die Medien. Scotland Yard schaltete sich ein. Überraschend schnell kam es zu einem Abschluß. Dem neuen Wachhund der Hardings waren die Sicherungen durchgebrannt; der Rottweiler wurde von einem Jäger in den nahen Wäldern aufgespürt und erschossen. So einfach war das. Die Ermittlungsbehörden hatten das gewünschte Ergebnis. Der Jäger war für eine Woche ein Held. Mark und Sarah hatten ihre Ruhe, wurden nicht mehr tagtäglich mit Fragen bombardiert, die sie an das Grauen in Hardings Haus erinnerten.
Nur manchmal noch beschlich Mark ein eigenartiges Gefühl, wenn er daran dachte, was mit dem Biest wohl geschehen sein mochte. Er und Sarah hatten sich mit partieller Amnäsie aus der Affäre gezogen. Dilettantisch wie sonst was, aber immer noch besser als die Wahrheit, die eh niemanden zu interessieren schien. Sollten sich doch andere damit herumschlagen.
Nur... wer waren diese Anderen? Wer hatte diese Sache so perfekt vertuscht? Wer wußte alles davon? Und was zum Teufel macht man mit einem toten Gargoyle?