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Vorhang auf
Ein Raunen erobert den Saal, Frauen jubeln hysterisch und Plüschtiere gehen zu Boden.
Überall Blumen - jeder hat, bekommt oder nimmt welche – von oder für zu Hause.
Vorhang auf für die große Unterhaltung. Es ist wieder soweit.
Eltern halten ihre minderjährigen Töchter und Söhne zurück – Blitzlichtgewitter.
Vorhang auf für den Kindervorspielabend in der Musikschule!
Töne die man bis ins Mark zu fühlen glaubt, Rythmen, die sofort ins Blut gehen – oder auf das Herz. Stimmungswechsel garantiert, inklusive Panik.
Panik, Angst, Euphorie, Schwermütigkeit und Enttäuschung, daß das Geld zum Fenster rausgeworfen ist – Wut über die Unfähigkeit des kleinen Balgs und wieder Panik.
Immer wieder Panik. Tür zu, Flachmann auf!
Locker bleiben. Entspannen! Tief durchatmen, noch mal Glück gehabt.
Es spielt ja gar nicht das eigene Kind.
Da vorne, das ist nur Lukas. Flasche wieder zu.
Lukas hat keinen epileptischen Anfall – ihm geht es gut.
Er darf heute seine ältere Schwester mit Klanghölzern begleiten,
während sie das Tick-Tick-Tick-Lied am Klavier spielt.
Lukas Schwester ist 5 Jahre alt und beide sind virtuos.
Sie leben für die Musik - sagen zumindest ihre Eltern.
Bewundernswert, was Eltern alles in die Bitte des Kindes hinein interpretieren, wenn es nach einzelnen Notenblättern verlangt, weil es eigentlich nur auf der Rückseite malen will.
Das ist noch wahre Begeisterung, ganz ohne Alkohol oder Geld – eben jenseits der Arbeit oder Politik. Peinlich irgendwie. Flasche auf, was soll´s.
Ein Goldstück ist einmal mehr die Parademoderation der Lehrerin, die irgendwie immer Schubert, Schumann und Schimmel verwechselt – klingt eh alles irgendwie gleich gut und hat auch irgendwie alles mit dem Klavierspielen zu tun.
Das findet übrigens auch Johann Sebastian der in einem protzigen Rahmen über allem thront – thront und erduldet. Beethoven hätte wenigstens Grund zum Lächeln gehabt und die Leute sind vom Sockel. So ist dann erst mal Pause.
Nur noch eine halbe Stunde, sagt die Musikschullehrerin und alle älteren Männer machen erstaunt murmelnd auf intelektuell mit ihren verworrenen Bärten, bevor sie nach draußen gehen, um sich „einen anzulöten“ oder wenigstens „eine durchzuzieh´n“.
Es geht wieder los – schwammigen Blickes und entfernt schwummernder Akkustik fragen wir schnell noch mal nach einzelnen Notenblättern mit freien Rückseiten und lassen uns sogleich von den Berufsoptimisten eindecken.
Auftakt im Duett mit Überraschungsgast aus dem Publikum, dem ein Tamborin entgegengeflogen kommt, das er geschickt mit der Stirn auffängt.
Durch die Notenblätter hat man ein Stein im Brett bei der taktvollen Lehrerin. Vielleicht ist es aber auch der verwegene, kindstreue Silberblick, da man ordentlich knille ist.
Man bleibt verschont und zeichnet kreativ.
Lukas älteste Schwester spielt danach auf der Violine, die so herrlich verstimmt ist, daß dann auch gleich das Instrument Erbarmen zeigt und eine Seite reißen läßt.
Als dann nach zwei Stunden das eigene Kind spielt, verliert so manch einer die Fassung und manch anderer alles, an das er sich mit beiden Händen festkrallt, bevor er bei Aussetzen der Körperbeherrschung im Takt vom Stuhl gleitet, während man persönlich glücklich ist, sich schon bald nicht mehr an das Elend zu erinnern.
Zum Schluß werden alle noch mit einem Schlußlied beglückt, das die Zuschauer taktklatschend begleiten, wobei jeder kleine Künstler nochmals auf die Bühne gebeten wird. Der Applaus kurz vor der Bewußtlosigkeit ist dann Zeuge, das man der Spirituosenindustrie immer wieder auf die Beine hilft, wenn es heißt: Karl Moritz und Willibald Alexander und Annabell Magdalena und Christoph Felix und Elisabeth Marlene und Johann Sebastian und Lukas...