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Vorbereitung eines Paktes

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04.08.2001
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Vorbereitung eines Paktes

Vorbereitung eines Paktes

Auszug aus einer regionalen Tageszeitung:

„Wie wir schon vor einigen Tagen berichteten, kam die Frau des bekannten Schriftstellers Johann Paltier durch einen tragischen Unfall ums Leben. Am 13. des Monats gegen 23.00Uhr hatte Frau Paltier durch einen Defekt des Föns einen elektrischen Schlag erhalten und war in die Wanne gestürzt. Der eingeschaltete Fön fiel mit ins Wasser. Frau Paltier war sofort tot.
Nach zahlreich öffentlich an den Schriftsteller gerichteten Vorwürfen, sahen sich die Behörden gezwungen, eine Untersuchungskommission unter Leitung von Alois Pechner, Hauptkommissar der Kriminalpolizei, einzusetzen, die den Unfall von Paltier restlos klären soll.“

Zwei Wochen später, Auszug aus derselben Tageszeitung:

„Es ist gerade einen Monat her, dass Johann Paltier, Sohn unserer Stadt, seine Frau durch einen Unglücksfall verlor. Die Untersuchungskommission arbeitet noch, aber es gibt keinen Zweifel am Ergebnis, das sie vorlegen wird. Der Schriftsteller ist natürlich unschuldig am Tod seiner Frau, und alle Vorwürfe, er habe die Auflagen seiner Bücher steigern wollen, haltlos.
Umso mehr, da ein weiterer Todesfall die Familie belastet. Der sechsjährige Sohn des Schriftstellers wurde am gestrigen Vormittag von einem Pkw angefahren und verstarb noch am Unfallort. Wie man sehr schnell herausfand, war der Wagen gestohlen worden, als er mit weit überhöhter Geschwindigkeit die Schuhmacherstraße entlang raste und den Jungen erfasste, als er gerade mit seinem Vater die Straße überqueren wollte. Die Untersuchungen dauern an.“

Einige Monate später, Auszug aus einem Boulevardblatt des Ortes:

„Sein letzter großer Auftritt war die Untersuchungskommission im Fall Paltier: Hauptkommissar Alois Pechner. Er stand damals im Rampenlicht der Medien, als er auf einer Pressekonferenz die Unschuld des Schriftstellers bekannt gab.
Doch jetzt steht er selber unter öffentlicher Anklage, oder vielmehr sein Sohn. Denn dieser wurde jetzt aufgegriffen in einem der nobelsten Restaurants unserer Stadt, als er lautstark und alkoholisiert die Gäste angriff (siehe Foto). Dies war, wie wir aus gut unterrichteten Kreisen erfuhren, nicht der erste Vorfall dieser Art. Der Lebenswandel des Klaus-Jürgen Pechner soll sich sehr scharf an der Grenze des Gesetzes bewegen und mit dem eines Sohnes eines Kriminalbeamten in keinster Weise vereinbar sein. Die Rede ist von Diebstählen und Schlägereien, Saufgelagen und Pöbeleien.
Pechner sen. reagierte sehr ungehalten auf die Vorwürfe und war zu einem Kommentar nicht bereit.“


Knapp vier Jahre später:


Das Zimmer war riesig, in seinen Maßen, wie auch in der Ausstattung. Zumindest für ein Arbeitszimmer. Hier waren all die Bücher des Johann Paltier entstanden. Im Gegensatz zu Pechners Dienstzimmer, in dem er bis zu seiner Pension zusammen mit Trostmann gehaust hatte, war dies hier ein Tanzsaal. Eine Turnhalle, ausgestattet mit den feinsten und edelsten Möbeln.
Paltier hatte sich in den riesigen Ledersessel hinter dem noch wuchtigeren Edelholzschreibtisch fallen lassen und starrte Pechner jetzt an.
„Nun, Herr Hauptkommissar, womit kann ich dienen?“ Es war nicht eben Unfreundlichkeit, die da mitschwang, es war eher eine Art Gereiztheit, die von dem Schriftsteller ausging. „Ich habe wenig Zeit, wie ich schon sagte.“
Pechner lächelte. „Da haben Sie es besser als ich“, meinte er. „Ich habe massig Zeit.“ Er fühlte sich unwohl auf dem harten Stuhl gegenüber dem Pult. Er war ein bisschen klein, fand er, wenigstens für ihn, Alois Pechner, Kriminalhauptkommissar a.D., leidenschaftlicher Biertrinker und bekennender Currywurstvernichter. In der Reihenfolge.
„Ich möchte Ihnen zunächst danken, Herr Paltier, dass Sie sich Zeit genommen haben für mich, obwohl es ziemlich kurzfristig war, der Anruf und so.“
„Was wollen Sie“, knurrte Paltier. Über dem Sessel hing ein gigantischer Hirschkopf mit einem ausladenden Geweih. Die schwarzen Glasaugen sahen direkt hinunter auf Pechner. Neben der Jagdtrophäe, ein wenig nach unten versetzt, hingen über Kreuz zwei historische Duellpistolen. Paltier folgte dem Blick seines Gegenübers hinauf und Pechner fragte nur um irgendetwas zu sagen: „Sind die geladen?“
„Natürlich. Sind Sie deshalb hergekommen?“
Pechner grinste. „Nein. Nein, natürlich nicht.“ Umständlich setzte er sich etwas auf und drückte den Plastikbeutel an sich. „Die Sache ist nicht so einfach zu erklären“, fuhr er fort. „Ich komme in der Angelegenheit der beiden Unfälle in ihrer Familie.“
War der Hausherr bis jetzt etwas unwirsch gewesen, so sah man sein Gesicht nun Falten annehmen und Ärger machte sich darauf breit. „Das ist über zehn Jahre her, Herr Hauptkommissar. Sind die Ermittlungen wieder aufgenommen worden?“
„Nein, das sind sie nicht. Ich bin auch nicht in meiner Eigenschaft als Kriminalbeamter hier. Ich bin sozusagen als Privatmann zu Ihnen gekommen.“
„Das ist schön“, meinte Paltier und er gewann langsam seine Fassung wieder. „Aber ich darf doch annehmen, dass Sie mir nicht einen Besuch abstatten um meiner Selbst willen? Sie haben doch sicher einen Grund, mich aufzusuchen. Können Sie mir endlich den Mörder meines Sohnes nennen?“
Pechner zuckte zunsammen und Paltier bekam es mit.
„Nein“, antwortete Pechner. „Das kann ich nicht.“
Paltier war nicht wirklich verbittert, er hatte diese Antwort erwartet. Vier Jahre waren eine lange Zeit, um seinen Schmerz zu vergraben. „Und weshalb sind Sie dann zu mir gekommen?“
Schweigen. Paltier sah ihn erwartungsvoll an, und Pechner wusste nicht, wo er beginnen sollte. Er starrte auf seine Schuhe, die Creme vertragen konnten.
„Kann man von Literatur tatsächlich so gut leben, wie Sie es hier tun, Paltier?“
Das war nicht das, was der Schriftsteller erwartet hatte. In seinem Gesicht ließ sich das Erstaunen sehr gut beobachten. Er wog ab, ob er diese Bemerkung eines Fremden als Indiskretion oder als ernstgemeinte Fragestellung werten sollte. Der Anstand des Gastgebers siegte und Paltier lächelte, als er erklärte: „Ich zähle mich keineswegs zu den Literaten.“ Er spielte mit der Brille, die er in der Hand hielt. „Ich glaube nicht, dass in meinen Werken allzu viel ist, das von bleibendem Wert wäre. Andere sind wohl eher dazu berufen, wahre Kunst zu erschaffen.“
„Aber davon kann man leben?“
„Es geht so, danke.“ Wieder das Lächeln.
„Nein, nein! Ich meine, wirft das Schreiben von Romanen tatsächlich soviel ab, dass man sich das hier alles“ – Pechner machte eine ausladende Handbewegung – „leisten kann?“
Das Lächeln Paltiers war auch jetzt noch an seinem Platz, wenn auch etwas steif. Tonlos antwortete er: „Muss wohl so sein.“
„Diese ganzen Anlagen, der Park, die Stallungen und dann diese Villa. Das alles muss ein Vermögen gekostet haben, nicht wahr?“ Seine Begeisterung kannte kaum Grenzen, Paltier schien nicht erbaut zu sein. „Wenn man den Weg vom Tor zum Haupthaus entlanggeht, von den Akazien gesäumt, dann stockt einem der Atem. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke. Ich bin ganz sicher nicht neidisch auf Ihren Besitz, Sie haben ihn sich redlich verdient, denke ich. Wohnen Sie ganz allein auf diesem Anwesen?“
„Das geht Sie einen Dreck an, Pechner.“
„Seit wann haben Sie den Besitz?“ Entweder hatte er die hingeworfene Drohung überhört oder er war völlig unbeeindruckt davon. „Wann sind Sie hier eingezogen, wann konnten Sie sich dies alles hier leisten? Nachdem Ihre Frau ums Leben gekommen war?“
Eine Sekunde herrschte Stille, dann knurrte Paltier: „Wenn Sie nicht in drei Minuten Ihr Anliegen vorgetragen haben und auf der Stelle Ihre infamen Anschuldigungen lassen, dann werde ich Sie hinauswerfen lassen.“
„Ich habe Sie nicht beschuldigt, um Gottes Willen, nein. Kam das so rüber? Tut mir leid! Entschuldigung.“
„Weshalb sind sie hier, Mann?“
Pechner holte die Plastiktüte, die er auf dem Schoss gehalten hatte, hervor und zog ein Buch heraus. Er hielt es hoch, so dass der Schriftsteller den Einband sehen konnte, und sagte kein Wort. Der Buchdeckel der Paperback-Ausgabe war äußerst stilisiert gehalten. Richard E. Baumeister stand fett oben über, ein wenig kleiner darunter der Titel „Ein Leben“. Im unteren Drittel waren einige Linien zu erkennen, die das ganze Format durchzogen. Eine gerade, dominierende stellte zweifellos das Zentrum dieses Gewirrs dar. Um sie herum waren weitere Striche angeordnet, die, im Gegensatz zu der ersten, ziel- und planlos über den Einband hinwegzogen.Magisch zog die eine, gradlinige Spur den Blick des Betrachters auf sich.
Pechner schaute seinem Gastgeber direkt in die Augen und fragte leise: „Kennen Sie den Verfasser?“
Paltier schüttelte nachdenklich seinen Kopf und meinte: „Nein. Nie gehört, scheint ein Pseudonym zu sein.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weiß nicht, hört sich so an. Ist es kein Künstlername?“ Er schien gar nicht so sehr an der Antwort interessiert zu sein, im Gegenteil, er lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Pechner war verwirrt von dem Verhalten. Er hatte etwas anderes erwartet. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete er. „Ich habe versucht, etwas über diesen Mann, Richard E. Baumeister, herauszufinden, aber nichts. Keiner kennt ihn, niemand hat je etwas von ihm gehört. Doch ich möchte Ihnen zunächst etwas über den Inhalt des Buches und wie ich in Besitz desselben gekommen bin, erzählen.“
„Da bin ich gespannt, Herr Hauptkommissar.“ Der Schriftsteller lächelte abschätzig.
„Dieses Buch“, begann Pechner, „wurde mir mit der Post zugeschickt. Wie Sie vielleicht wissen, wohne ich allein. Meine Frau hat sich schon vor Jahren von mir scheiden lassen, mein Sohn ist aus dem Haus. Der einzige Wohnungsgenosse, den ich habe, ist ein alter Kater, der froh ist, wenn er den Gang zum Pinkeln schafft. Ich habe also Zeit, und niemand belästigt mich. Da ist es schon ungewöhnlich, wenn der Briefträger etwas für einen hat, und wenn es dann noch ein Paket ist, dann gleicht das in meinem Leben einer Sensation. Wer sollte mir Lesestoff zusenden?“
Pechner trank ein Schluck Wasser aus dem Glas, das Paltier ihm angeboten hatte. Dann fuhr er fort. „Sie können sich meine Verwunderung vorstellen, als ich das Päckchen aufriss, aber nirgendwo einen Hinweis auf einen Absender fand. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, eine Nachricht hineinzulegen, keinen Gruß, keine Erklärung. Nur dieses Buch hier in einem Umschlag mit meiner Adresse. Abgestempelt war die Sendung in unserer Stadt, aber das will nicht viel heißen.
Ich war also begierig, das Werk zu lesen. Ich bin nicht unbedingt das, was man allgemein eine Leseratte nennt, daher dauerte es einige Zeit, bis ich den Inhalt der Lektüre erfasst hatte. Der Roman, wenn nicht eine längere Erzählung, umfasst gerade hundert Seiten. Der Stil passte mir; in kurzen, knappen Worten wurde hier geschrieben, die das Wesentliche wiedergaben und plastisch erzählten. Die Handlung war spannend, obwohl ziemlich trivial und abgedroschen.
Es wird die Geschichte eines Arztes dargeboten, der sich zu Beginn seines Lebens den Strömungen des Daseins hingibt. Tolle Formulierung, nicht wahr, aber so steht es im Buch. In jungen Jahren existiert der Mann ziellos vor sich hin. Er lebt, und dann und wann wird der Alltag unterbrochen von einer Liebschaft zu einer älteren Dame, die den Arzt aushält. So vergeht wohl fast die Hälfte des Romans, bis endlich etwas geschieht. Verstehen Sie mich recht, diese erste Hälfte ist nicht unbedingt langweilig, aber sie bietet nichts Neues, alles schon da gewesen. Aber dann, wie gesagt, geht es vorwärts. Der Mann lernt die große Liebe seines Lebens kennen, er heiratet, sie bekommen ein Kind, einen Sohn. Bis hierhin alles klar, nicht wahr. Doch die junge Ehefrau kommt ums Leben. Als der Sohn etwa sechs Jahre alt ist, erleidet die Frau einen Unfall. Wissen Sie, was ihr passiert, Paltier?“
Der Angesprochene brummte unwirsch: „Woher soll ich das wissen, wenn ich das Buch nicht kenne?“
„Sie erleidet im Bad einen Stromschlag, weil der Fön defekt ist, stürzt in die Wanne und der eingeschaltete Fön hinterher.“
„Tja.“
„Was sagen Sie dazu? Klingt bekannt, nicht wahr?“
„Zufall“, kam vom Schriftsteller.
Pechner war ein wenig aufgeregt gewesen. Er war aufgesprungen und um den Stuhl herumgegangen, hatte sich hinter dem Möbel aufgestellt und Paltier erwartungsvoll angeblickt. Jetzt entwich die Luft aus seinem Körper und er sagte enttäuscht: „Meinen Sie?“ Aber dann lächelte er wieder und setzte hinzu: „Aber warten Sie, es geht noch weiter.“
Er nahm wieder Platz und fuhr fort. „Der Leidensweg des Arztes ist noch nicht zu Ende. Er bringt seine Frau unter die Erde, und leistet Trauerarbeit. Der Junge ist gerade in dem Alter, in dem er die Mutter am dringendsten benötigt. Der Mann schleppt sich durch den Alltag, überall sieht er seine geliebte Frau. Doch dann das nächste Unglück. Der Sohn kommt ums Leben. Jetzt raten Sie mal, wie.“
Paltiers Blick war gelangweilt und spöttisch zugleich. Als er antwortete tat er das mit einem ironischen Unterton. „Sagen Sie nicht, der Junge ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“
„Der Junge wird überfahren, von einem betrunkenen Rowdy, nachdem der ein Auto gestohlen hatte.“
„Na“, meinte Paltier. „Das klingt doch ganz danach, als wenn jemand mein Leben als Vorbild für einen Roman genommen hat.“
„Ach so, verdammt!“ Pechner wirkte verärgert. „Hatte ich das vergessen, zu erwähnen? Hatte ich das Erscheinungsdatum nicht genannt. Der Roman wurde im Jahre 1978 verlegt. Das war gut zwanzig Jahre, bevor Ihnen dasselbe passierte.“
„Tja.“ Jetzt war es Paltier, der aufstand. „Und was, bitteschön, hat das mit mir zu tun?“
„Dieses Buch wurde mir mit der Post zugeschickt, irgendjemand wollte, dass ich es lese. Es nimmt exakt vorweg, was Ihnen über zwanzig Jahre später zustößt. Es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn es mit dem Fall Paltier nichts zu tun hat.“
„Haben Sie Erkundigungen eingezogen?“
Pechner folgte Paltier, der im Zimmer umherwanderte, mit den Augen. Er hatte das Buch auf den Schreibtisch gelegt, die Plastiktüte daneben.
„Wie Sie wissen, war ich damals Leiter der Untersuchungskommission, die den Unfall Ihrer Frau prüfte. Wir fanden nichts, keinerlei Hinweise, dass etwas anderes Ihre Frau umbrachte, als ein Unfall. Aber wir suchten nicht sehr intensiv, ganz einfach aus dem Grund, weil wir mehr eine Alibiveranstaltung für die Öffentlichkeit waren. Sie wissen ja, was damals los war, eine Hysterie sondergleichen. Und um die aufgebrachte Menge zu beruhigen, setzte man den Ausschuss ein. Das Ergebnis war klar, zu abstrus waren auch die Anschuldigungen in der Presse. Niemand würde seine Frau umbringen, um die Verkaufszahlen zu steigern, obwohl Sie natürlich profitierten. Aber wie schon gesagt, uns war klar, dass wir nichts finden würden.
Als Ihr Sohn getötet wurde, hatte ich verständlicherweise ein Interesse an den Ergebnissen der Nachforschungen, die angestellt wurden. Ich kann Ihnen versichern, dass alles Menschenmögliche unternommen wurde, um den Täter zu finden. Sie wissen ja, dass der Wagen, mit dem der Unfall geschah, gestohlen war. Wir hatten ein ziemlich genaues Bild des Paares, welches das Auto zunächst stahl und dann den Jungen überfuhr. Wir haben Fingerabdrücke genommen, sämtliche Spuren gesichert in dem Wagen. Wenn also jetzt ein Verdächtiger auftauchen würde, wir könnten ihm nachweisen, ob er es war. Darin können Sie beruhigt sein. Wir ermittelten, dass es ein Mann und eine Frau gewesen waren, sie hatten den Pkw von einem Parkplatz gestohlen und sich darin vergnügt, wir fanden entsprechende Spuren.“ Er räusperte sich. „Ob das nun vor dem Unfall war oder danach, das können wir nicht sagen. In jedem Fall wurde viel Alkohol getrunken im Fahrzeug. Wir können also davon ausgehen, dass der Fahrer betrunken war.“
„Das weiß ich alles. Erzählen sie mir etwas Neues!“
„Nein, nichts Neues über den Unfall. Ich habe versucht, etwas über den Autor des Büchleins herauszubekommen, ich habe herum telefoniert, bei kompetenten Leuten nachgefragt, mich mit Personen getroffen, die etwas mehr Kenntnis auf diesem Gebiet haben, als ich.“
„Und?“
„Nichts! Niemand hat von Richard E. Baumeister gehört, geschweige denn jemals etwas von ihm gelesen. Auch von diesem Buch hier wusste niemand. Es muss in einer ganz geringen Auflage erschienen sein, zwanzig Jahre, bevor Ihnen genau dasselbe zustieß. Ziemlich merkwürdig, finden Sie nicht auch?“
„In der Tat. Aber warum kommen Sie mit diesem Buch ausgerechnet zu mir. Glauben Sie mir, Hauptkommissar, ich habe am allerwenigsten damit zu tun.“
„Ja, natürlich Natürlich! Ich möchte nur noch eine Winzigkeit ausführen. Nachdem ich nicht das Geringste über den Autor in Erfahrung bringen konnte, versuchte ich mein Glück beim Verlag. Aber auch hier war kaum etwas zu machen. Der Verlag existiert schon lange nicht mehr, und die wenigen Mitarbeiter, die er beschäftigt hatte, sind entweder tot oder nicht mehr aufzufinden. Nichts zu machen! Jeder und alles, was mit diesem kleinen Büchlein zusammenhängt, ist verschwunden, außer das Buch selbst. Wenn auch dies nicht auf wunderbare Weise aufgetaucht wäre, hätte die ganze Episode nie stattgefunden, dann hätte es nur die eine, die reale Tragödie gegeben. Dann hätten wir jetzt auch kein Rätsel! Wir hätten nur zwei grausame, sinnlose Unfälle, durch die ein Schriftsteller seine Familie verloren hat. Aber durch dieses Werk hier, durch die Erzählung, die, nebenbei bemerkt in meinen Augen für sich allein genommen gar nichts Besonderes ist, scheinen die Tode Ihrer Familienmitglieder einen bedeutenden, rätselhaften Sinn zu bekommen. Einen Sinn, auf den mich irgendjemand hinweisen wollte, indem er mir das Buch zuschickte und darauf wartete, dass ich es läse und meine Schlüsse daraus ziehen möge oder wenigstens stutzig werden würde.“
Paltier hatte sich wieder gesetzt und beobachtete ihn interessiert. Mit einem leichten Nicken deutete er an, dass Pechner fortfahren möge.
„Für mich stellt sich die Sache wie folgt dar.“ Pechner begann, Spaß an der Sache zu bekommen. „Wenn wir die phantastischen Lesarten auslassen, die nicht das Geringste mit der Realität zu tun haben, dann haben wir nur zwei Möglichkeiten offen, etwas Logik in die Vorfälle zu bringen. Beide Versionen setzen voraus, dass die Unfälle, die Ihren Familienmitgliedern zustießen, keine Unfälle waren, sondern vorsätzlich hergeführte Unglücke, also um es mit einem Wort zu sagen: Mord.“
Hatte Pechner erwartet, dass sein Gegenüber die Fassung verlieren würde bei dieser Feststellung? Meinte er, Paltier hätte sich nicht auch selbst mit diesem Gedanken beschäftigt? Die Reaktion des Schriftstellers ließ jedenfalls keine anderen Schluss zu. Er saß ebenso ruhig und unbeteiligt hinter seinem Schreibtisch, wie eben noch, und die alleinigen Bewegungen in seinem Gesicht kamen von seinen Augen, die abwechselnd Pechner und das kleine Buch vor ihm fixierten.
„Variante eins“, führte Pechner weiter aus, „ist die, dass dieselbe Person, die den Roman schrieb, auch die Morde ausführte, was für sich allein betrachtet schon recht phantastische Züge aufweist. Zumal zwischen beiden Ereignissen gut zwanzig Jahre liegen. Die zweite Möglichkeit ist wohl die wahrscheinlichere. Nämlich die, dass der Schreiber und der Mörder nichts miteinander zu tun haben, dass der Mörder das Buch zufällig las und sich auf diese Geschichte hin sein Mordkomplott ausdachte. Das Motiv allerdings für diese Taten liegt völlig im Dunkeln.“
Paltier lehnte sich vor, stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und sah Pechner mit durchdringendem Blick an.
„Warum ist die erste Version, nach welcher der Autor und der Mörder ein und dieselbe Person wären, so unwahrscheinlich?“, fragte er mit heiserer Stimme.
„Nun ja“, meinte Pechner unsicher. „Es lägen immerhin über zwanzig Jahre zwischen Planung und Ausführung der Tat. Der Täter muss demnach, als er seine eigenen Taten im Voraus beschrieb, von einer Besessenheit getrieben sein, die ohnegleichen ist. Und ich frage Sie, welches Motiv, welcher Grund rechtfertigt einen Zeitraum von knapp einundzwanzig Jahren, eine Zeit des Wartens, des Nichtstuns. Welches Motiv könnte es dafür geben?“
„Sie sind kleinkariert, Herr Hauptkommissar!“ Pechner konnte sehr wohl die Schärfe aus Paltiers Stimme heraushören. „Da Sie einen sehr nahen Horizont haben, sollte man annehmen, dass Sie diesen zumindest kennen. Aber nicht einmal das kann ich Ihnen zugestehen. Sie machen gar nicht einmal den Versuch, sich etwas anderes vorzustellen, als diese kleine, eingezäunte Welt, die Sie kennen. Kommt es Ihnen nicht in den Sinn, dass es Menschen gibt, die Ziele haben in ihrem Leben? Die Ziele haben, die sie verfolgen, wenn es sein muss über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Haben Sie nicht den Gedanken gehabt, dass es noch eine andere Art von Leben gibt, als es das Ihrige darstellt? Völlig plan- und ziellos stolpern Sie durch Ihr Dasein, als hätten Sie nicht nur dieses eine zur Verfügung, sondern Tausende, in denen Sie es vielleicht irgendwann mal besser machen können, in dem Sie eventuell einen Sohn aufziehen, ohne dass aus ihm ein willenloser, schwacher Mensch wird, weil Sie einer sind. Vielleicht denken Sie ja, Sie bekämen tatsächlich eine zweite Chance, wenn es darum geht, eine Beziehung aufzubauen. Also brauchen Sie nicht um Ihre derzeitige kämpfen, also können Sie sich hinsetzen und flennen, wie es ihr Sohn auch so gerne tut.“
„Sie waren es“, stieß Pechner mit dem Mut plötzlicher Erkenntnis hervor.
„Natürlich, Sie Schwachkopf!“
„Sie haben vor dreiundzwanzig Jahren unter dem Pseudonym Richard E. Baumeister dieses Buch geschrieben.“
„Jawohl.“
„Und Sie haben Ihr Leben dann nach diesem Fahrplan gelebt, eine Familie gegründet und diese dann gemäß Ihres eigenen Drehbuchs ausgerottet!“
„Na endlich!“ Paltier hob erfreut die Arme. „Endlich haben Sie es begriffen.“ Sein Ton war jetzt voller Hohn, nichts mehr von Ruhe und Gelassenheit des Gastgebers. Pechner war aufgesprungen, vor Erregung zitternd, aber als er sah, dass der Schriftsteller keine Anstalten machte, sich ebenfalls zu erheben, setzte er sich wieder, sich zwingend, rational und ruhig zu denken.
„Wissen Sie, Pechner. Ich hatte angenommen, dass es schneller ginge, dass Sie eher drauf kämen. Doch ich habe Sie offensichtlich überschätzt. Sie sind ein ebensolcher Spießer wie all die anderen. Für Sie ist es undenkbar, dass ein Mann seine Familie“ – er zögerte – „opfert. Also wird diese Möglichkeit erst gar nicht in Betracht gezogen. Alle Varianten, wenn sie auch noch so fantastisch erscheinen, in Betracht zu ziehen, was ist aus dieser Methode geworden? Der eigene Horizont sollte eine Aufgabe darstellen, die Aufgabe nämlich, ihn zu erweitern. Sie aber betrachten ihn als Mauer, hinter der. Die Welt zu Ende ist.“
„Das ist pervers!“ Pechner war fassungslos vor Entsetzen, und nicht fähig, dieses Gefühl zu äußern. Er konnte nur blicklos auf Paltier starren, ohne Regung, immer nur den Mann vor Augen, der ihm gegenüber saß und stolz und selbstgefällig von seinen Taten sprach. „Sie haben Ihre Frau getötet, Ihr eigenes Kind!“
„Ja. Es scheint einige Zeit zu brauchen, bis Sie dieses Gedankens Herr werden. Ich habe meine Frau und meinen Sohn umgebracht. Sie sollten sich auskennen, Hauptkommissar! In gewissem Sinne haben auch Sie Ihren Sohn umgebracht. Ein Mensch mit seinen Fähigkeiten hätte es gewiss zu etwas bringen können. Aber Sie haben diese Fähigkeiten verkümmern lassen. Ich denke, das ist so ziemlich das Schlimmste, was man einem Kind in der Erziehung antun kann.“
„Das sagen Sie mir, Sie Mörder?! Ich frage Sie, warum tötet ein Mann seine Familie und bereitet diesen Mord jahrzehntelang vor? Lange bevor er die Frau kennt oder gar seinen Sohn gezeugt hat! Wo steckt der Sinn in dieser Tragödie. Gibt es einen Sinn, den ein vernünftiger Mensch akzeptieren kann? Es kann ihn nicht geben, es ist ein sadistisches, krankes Verbrechen, das Sie da begangen haben!“
Paltier nahm langsam und sehr souverän einen Schluck Wasser, bevor er begann: „Mein Vater war in bestimmter Hinsicht ein ebensolcher Mensch wie Sie, Pechner. Er war kein schlechter Kerl, das ganz gewiss nicht. Er war wohl auch kein schlechter Freund, gerade wie Sie, mein Lieber. Aber er war willensschwach, er ließ sich treiben im Leben, als sei er ein Blatt, das hinabfällt von einer Eiche, der Wind erfasst es und trägt es hinfort. So lebte mein Vater - ziel- und planlos. Und er riss mich mit auf seinem unbestimmbaren Weg, durch Not und Elend, Armut und Langeweile. Denn wer kein Ziel hat, keinen Grund, wofür es sich zu leben lohnt, der findet keine Beschäftigung, die ihn ausfüllt, und so vegetierten wir dahin.
Einige Jahre nach meiner Geburt starb meine Mutter. Von da an hatte ich nur noch meinen Vater, der mich hätte leiten können. Das Land war damals gerade im Aufbruch, ein jeder spürte, dass es nur vorwärts gehen konnte. Die Nation hatte am Boden gelegen, vor aller Welt entblößt, es konnte nur aufwärts gehen. Und inmitten dieser strebenden, zielgerichteten Massen wir beide, ein Mann und sein Sohn, wie zwei Teilchen, die die Brownsche Bewegung vollführten. Als ich zehn war, ging ich in denselben Sachen zur Schule, in denen ich Sonntags den Gang in die Kirche antrat. Mein Vater war unfähig, etwas Geld anzusammeln. Hatte er einen Job, ging es uns erträglich, aber das war selten der Fall. Viel öfter saß er zu Hause, wenn ich mittags von der Schule kam und tat nichts. Kurz gesagt, mein Vater war ein Versager. Was denken Sie, Herr Hauptkommissar, wann bekommt ein Kind bewusst mit, dass sein Vater nichts taugt?“
„Man sagt, wenn ein Sohn seinen Vater realistisch einschätzen kann, dann ist er ein erwachsener Mann.“
„Nun, dann muss ich mit zwölf oder dreizehn Jahren erwachsen geworden sein. Und als ich begriff, welch eine jämmerliche Erscheinung mein Vater abgab, als ich bemerkte, warum es uns so dreckig ging, da war mein erster und einziger Gedanke, ich wollte es zu etwas bringen, ich wollte mein Leben im Griff haben, es zu jedem Atemzug selbst steuern können. Ich wollte mir beweisen, dass ich besser wäre als mein Vater und all die anderen gefühlsduseligen Gestalten, die vom Miteinander reden und von Menschlichkeit. Dabei ist jeder seines eigenen Glückes Schmied. Jeder ist seines Glückes Schmied...“
„Das muss Ihr Lieblingssprichwort sein.“
„Also begann ich mein Leben zu planen. Mit sechzehn wusste ich, was ich werden wollten – Schriftsteller. Und mit achtzehn veröffentlichte ich mein erstes Buch. Natürlich hatte ich damals noch nicht wirklich vor, meine Visionen in die Tat umzusetzen. Ich brachte das Buch bei einem kleinen Verlag heraus, der bald darauf einging. Es war eine minimale Auflage, aber ich hatte mein erstes Ziel erreicht. Der Roman verschwand kurze Zeit später in der Versenkung, ich glaube, der einzige, der noch ein Exemplar davon besaß, war ich. Aber ich schrieb weiter. Zunächst noch unter Pseudonymen, die Ihnen vielleicht bekannt vorkämen, denn die Bücher waren billige, aber überaus erfolgreiche Unterhaltungsliteratur. Damit kam ich zu Geld, zu viel Geld, wie Sie sehen können, aber das reichte mir nicht. Deshalb veröffentlichte ich unter meinem richtigen Namen anspruchsvollere Sachen, mit denen ich nach einer Zeit tatsächlich einen gewissen Erfolg hatte.
Ich hatte bis jetzt alles erreicht, was ich mir vorgestellt hatte, ich war immer bemüht, noch erfolgreicher zu werden. Aber das genügte mir nicht. Ich wollte mir beweisen, dass ich mein Leben vollends im Griff hatte, dass ich nicht zu den Herdenmenschen zählte, die sich niemals zu lösen vermögen aus der grauen Masse. Ich glaube, dazu kam außerdem noch“ – hier gestatte er sich ein flüchtiges Lächeln – „dass ich mich in einer Art Sinnkrise befand. Nennen Sie es Midlife-Crisis, ganz wie Sie wollen. Ich brauchte etwas, das eine Herausforderung für mich darstellte. Eine Hürde, die zu nehmen ich alle Anstrengungen aufbieten müsste. Und so kam mir mein Buch, das schon seit fast zwanzig Jahren vergessen war, wieder in den Sinn. Und ich betrachtete es als Plan, und ich führte den Plan aus. Und bewies damit, dass der Mensch als solcher erhaben ist über Emotionen, welcher Art auch immer. Um sein eigenes Leben zu verwirklichen ist man nicht angewiesen auf Gefühle, der Mensch kann sie sich untertan machen. Er ist wahrhaft die Krone der Schöpfung. Gott ist tot!“
Die schwere Wanduhr zählte unbarmherzig die Sekunden. Der Tag hatte sich verfinstert, Dämmerung hatte sich ausgebreitet und die beiden Männer saßen sich im Halbdunkel gegenüber.
„Sie sind ein verdammter hartherziger Egomane“, zischte Pechner voller Hass.
„Nennen Sie mich einen Individualisten“, meinte Paltier spöttisch. „Dann kommen wir beide zusammen.“
„Wie kann es einen Menschen geben, der sich für die Verwirklichung eines Planes über andere Menschen stellt?“, sagte Pechner nun mehr zu sich.
„Erst die Verwirklichung dieses Planes erhob mich über die anderen Menschen. Keinerlei Skrupel! Kommen Sie, mein lieber Freund, gerade das wird uns doch von überall her suggeriert. Du bist nur erfolgreich, wenn du deine Gefühle unter Kontrolle hast. Mutter Theresa ist tot.“
„Wer sind Sie, Gott?!“
Paltier nahm diese Frage zweifellos ernst und fühlte sich geschmeichelt. „Ich bin der Gott über mein eigenes Leben.“
„Und dafür gehen Sie über Leichen?“
„Über die Leichen schwacher Menschen.“
„Herrgott, es war Ihr Sohn!“
„Natürlich! Denken Sie, ich hätte nicht gelitten?! Vorher, und nachher noch viel mehr.“
Es war das erste Mal, dass auf des Schriftstellers Stirn Falten erschienen. „Wissen Sie, es ist nicht so, dass ich meine Familie nicht geliebt hätte. Ganz im Gegenteil! Mehr als einmal war ich versucht, meinen Plan wieder fallen zu lassen. Zu hoch schien mir das Opfer zu sein. Aber dann der Plan!“ Seine Züge hellten sich wieder auf. Er war stolz.
Pechner war irritiert, verwirrt und dann entsetzt über diese Erkenntnis. Dieser Mann hatte die Frau, die er liebte, getötet und das Kind, das ihm geboren ward, ebenso. Und er triumphierte über seine Taten, er war stolz – zurecht, wie er meinte. Er hatte bewiesen, dass er sein Leben meistern konnte.
Plötzlich kam dem Ex-Polizisten das Zimmer zu eng vor, er vermochte kaum mehr zu atmen. Das Dunkel machte ihm Angst.
So stand er auf und öffnete das Fenster, und als er befreit durchgeatmet hatte, machte er Licht in dem dunklen Raum. Paltier beobachtete ihn lächelnd.
Nachdem Pechner sich gesetzt hatte, nicht ohne ein gewisses Gefühl von Klaustrophobie verloren zu haben, fragte er nachdenklich: „Wie, Paltier?“
Der Andere zog fragend die Augenbrauen empor.
„Wie haben Sie es angestellt, die beiden Morde zu begehen und sie als Unfälle aussehen zu lassen? Jeder, die ganze Welt glaubt, dass Sie von zwei Schicksalsschlägen heimgesucht wurden.“
„Die technischen Möglichkeiten, mein lieber Hauptkommissar, die sind sozusagen von selbst gekommen. Bei Recherchen zu verschiedenen Büchern habe ich einiges gelernt. Man wird ein kluger Mensch als Schriftsteller, glauben Sie mir. Er war ein Kinderspiel, den Fön zu präparieren. Und da ich die Gewohnheiten meiner Frau sehr genau kannte, wusste ich, dass sie sich immer vor der vollen Badewanne die Haare zurechtmachte. Der Rest war Glück und Improvisation, obwohl ich nicht dazu neige, mich zum Sklaven des Zufalls zu machen.“
„Aber der Junge, es waren Zeugen anwesend, die Sie sahen. Sie müssen einen Komplizen gehabt haben.“
„Oh nein! Ich wusste zwar, dass der betrunkene Mann mit einem gestohlenen Fahrzeug kommen würde, ich sagte ja, ich bin ein Meister der Recherche. Aber ein kleiner Stoß meinerseits genügte, um die Tat zu vollenden.“
„Dann kennen Sie den Fahrer des Wagens?“
„Natürlich.“
„Sagen Sie ihn mir!“
„Sie werden ihn nicht wissen wollen:“
„Aber ja! Ich will ihn wissen.“
„Später vielleicht. Lassen Sie uns noch einige Momente plaudern. Ich möchte nicht, dass Sie mich in einem falschen Licht betrachten. Es ist nicht so, dass mir die Umsetzung meines Planes leichtgefallen wäre. Ich habe sehr gelitten, das müssen Sie mir glauben. Aber Trauer kann auch etwas sehr schönes, befreiendes haben. Trauer ist der Bruder der Freude.“
„Ich kann es mir nicht vorstellen, dass Sie so etwas Menschliches wie Trauer empfinden können.“
„Sie verdammter Ignorant! Muss man seinen Gefühlen erliegen, muss man seine Empfindungen immer öffentlich ausleben? Wie kommen Sie darauf, dass etwas nicht da ist, nur weil Sie es nicht sehen?“
Genauso schnell wie sein Wutausbruch gekommen war, glätteten sich die Züge Paltiers wieder. „Soll man sich aufführen wie die dumme Masse? Dieser Haufen Idioten, die machen, was man ihnen sagt! Und dabei denken sie, sie tun, was sie wollen. Nein, sich aufschwingen zur wahren Herrschaft über sein Leben, das ist es, was ich will. Ich will tun, mein Lieber!“
Pechner ließ seinen Blick über die Buchrücken an der Wand schweifen. „Ihr Lieblingsphilosoph ist Nietzsche, nehme ich an.“
Paltier strahlte. „Das ist korrekt. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Sie verstehen langsam.“
„Ich begreife“, Pechner stand auf. „Das ist richtig. Aber verstehen werde ich niemals, was in Ihrem Kopf vorgehen mag. Ich nehme Sie hiermit vorläufig fest. Alles was Sie ab jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Sie werden nie wieder auf freien Fuß gelangen, obwohl ich bezweifele, dass Sie ins Gefängnis gehen werden. Denn in meinen Augen sind Sie komplett wahnsinnig. Aber das haben andere zu entscheiden. Kommen Sie, wir gehen!“
Paltier blieb ruhig sitzen und zeigte keinerlei Regung, als hätte er Pechners Worte nicht aufgenommen. „Setzen Sie sich wieder“, sagte er teilnahmslos.
„Kommen Sie, Ihr Spiel ist aus!“
„Verdammt noch mal, setzen Sie sich hin!“
„Paltier. Was denken Sie, wie es jetzt weitergeht? Sie sind erledigt, Ihr Plan ist bis hierher aufgegangen, aber jetzt holt Sie die Realität ein.“
„Sie verdammter unnutzer Scheißbulle! Sie haben das Buch nicht zu Ende gelesen!“ In Paltiers Augen funkelte Zorn. „Sie haben das verdammte Buch nicht bis zum Schluss gelesen!“
Pechner blickte ihn verwirrt an.
„Was ist“, fragte er. „Was haben Sie, was ich wissen muss, das habe ich gelesen.“
„Interessiert es Sie nicht, wie das Stück ausgeht?“ Paltier hatte sich sofort wieder in der Gewalt. „Meinen Sie, dass der Roman endet, wie jeder x-beliebige Schinken, dessen Schluss so vorhersehbar ist, wie der Tod des Schurken und der Sieg des Helden?“
„Also gut. Was passiert?“
„Sehen Sie, Sie sind nicht vorbereitet. Sie sind nur nach dem Offensichtlichen gegangen. Dass irgendetwas geschehen könnte, das Sie nicht erwartet haben, dass irgendeine Sache größer ist, als Ihr verdammter enger Horizont reicht, diese Möglichkeit ziehen Sie nicht einmal ansatzweise in Betracht.“
„Warum hören Sie nicht mit den Beschimpfungen auf und erzählen mir einfach den Schluss des Romans.?“
„Weil ich es satt habe, inmitten von Holzköpfen zu leben, die eine wahre große Tat nicht zu würdigen wissen. Weil auch Sie mich enttäuscht haben mit Ihrem engstirnigen Spießertum. Ich hatte Sie ganz offensichtlich zu hoch eingeschätzt, als ich Ihnen das Buch schickte.“
„Warum? Warum nicht irgendein anderer Beamter, der an den Untersuchungen beteiligt war?“
„Ich hatte mich getäuscht in Ihnen.“
„Wozu überhaupt dieses ganze Brimborium?“
Paltier hatte die Brille aufgesetzt, ganz offensichtlich als Ausdruck einer fahrigen Geste. Nun schaute er gelassen über den Brillenrand zu Pechner hinüber und lächelte.
„Dieses Brimborium, Herr Hauptkommissar, erklärt sich von selbst durch den Schluss des Buches, den Sie versäumten zu lesen. Natürlich ist es so, dass der Held des Romans seine Frau und sein Kind von eigener Hand getötet hat. Das Motiv dafür ist nebensächlich – ich habe es fast vergessen. Doch nach kurzer Zeit kommt ihm ein findiger Kriminalbeamter auf die Schliche, er errät das Ganze, er hat sogar Beweise, um den Protagonisten zu überführen. Mit Hilfe von meiner Seite ist es Ihnen ja auch gelungen, mich zu entlarven. Sie wollten mich sogar verhaften. Soweit sind wir also mehr oder weniger den Zeilen des von mir verfassten Romans gefolgt. Den Abschluss bildet und wird bilden die Überzeugung des Polizeibeamten und die Beeinflussung seines Tuns dahingehen, dass er es unterlässt, den Mörder dem Gericht zu übergeben.“
„Ach ja?“ Pechner war fassungslos. „Und was sollte mich daran hindern?“
„Im Roman wird die Sache mit Geld geregelt. Mit viel Geld.“
„Ich bin nicht bestechlich.“
„Ach Gott, das sagt jeder. Aber die Sache ist die, Herr Hauptkommissar: Sie können es sich gar nicht leisten, unbestechlich zu sein. Sie können mir glauben, ich habe mich gut auf meine Lektion vorbereitet. Bei allem, was auf dem Spiel steht, war das auch notwendig. Ich weiß praktisch alles über Sie, ich kenne Ihr Leben fast ebenso gut wie das meine. Ich habe mich mit Ihnen geärgert über die heimtückischen Aktivitäten Ihrer Ex-Gattin. Ich war ebenso maßlos enttäuscht über Ihren Sohn und das Leben, das er führt. Und ich muss sagen“ – ein verschmitztes Lächeln – „seine kleine Freundin gefiel mir genauso gut wie Ihnen. Außerdem ist mir natürlich nicht entgangen, dass es Ihnen, nachdem Sie pensioniert wurden, immer schlechter ging, psychisch wie finanziell. Kurz, Herr Hauptkommissar a.D., Sie sind eine hoffnungslos verkrachte Existenz und Ihr Leben ein einziges Trümmerfeld. All die Träume, die Sie als junger Bursche hatten, sind zerplatzt, die Illusionen, die sie sich seitdem gemacht haben, zerronnen. Und da wagen Sie es, mir ins Gesicht zu sagen, Sie lehnten mein Angebot ab? Sie könnten sich von dem Geld, das ich Ihnen biete, ein vollkommen neues Leben aufbauen, Sie wären imstande, sich zumindest einige Ihrer Träume zu erfüllen, und mit diesem Geld in der Tasche würden Sie sich auch gar nicht so als Verlierer fühlen.“
„Ihre Verlockungen können mich nicht reizen. Sie enthüllen mehr und mehr Ihr wahres Gesicht.“
„Ich bin vermögend.“
„Das interessiert mich nicht.“
„Was würden Sie zu einer Million Euro sagen?“
„Sie ziehen mich erst ins Vertrauen und bieten mir danach eine Million Euro, damit ich schweige?“
„So lautet der Plan.“
„Ich kann es nicht glauben!“
„Geben Sie sich einen Stoß! Springen Sie über Ihren Schatten!“
„Was ist, wenn Ihr überaus intelligenter Plan nicht verwirklicht wird, wenn es anders läuft, als Sie es sich in Ihrem kranken Hirn ausgedacht haben? Was, wenn ich ablehne? Haben Sie mit mir gerechnet?“
„Sie werden nicht ablehnen.“
„Wie können Sie so arrogant sein, zu glauben, vorhersagen zu können, wie die Menschen reagieren werden?“
„Ich weiß, wer meinen Sohn überfahren hat.“
„Aber was hat das hiermit zu tun? Sie wollen ablenken!“
„Oh nein! Das will ich nicht. Sie kennen diese Person ebenfalls. Ich habe sie selbst ausgesucht. Es dauerte eine Ewigkeit, die Lebensgewohnheiten soweit herauszubekommen, dass ich ungefähr sagen konnte, wann er wieder ein Auto aufbrechen und damit loszufahren würde. Aber er machte das gern. Ich glaube, er macht das heute noch.“
„Wer ist es, Paltier. Sagen Sie mir es sofort!“
„Wenn Sie ins Archiv der Kripo gehen und sich die Fingerabdrücke des Täters besorgen und diese dann mit denen Ihres verzogenen Sohnes vergleichen, dann werden Sie gewisse Ähnlichkeiten, nein sogar hundertprozentige Übereinstimmung feststellen können. Es war Ihr verkommener Sohn, Sie dummer Polizist! Ich habe ihn dabei beobachtet. Die Gelegenheit war günstig. Er kam wie ein Irrer angeschmettert. Ich glaube, es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich im klaren darüber war, was er angerichtet hatte. Er und seine Freundin.“
Stille. Schweigen.
„Ich glaube, Sie haben verloren, Herr Hauptkommissar. Mein Plan ist erfüllt, wir werden uns schon einigen.“
Pechner antwortete nicht. Zusammengesunken kauerte er Paltier gegenüber und starrte ins Leere.
„Mein Sohn, sagen Sie?“, stammelte er.
„Ja.“
„Sie lügen! Sie Schwein, Sie gottverdammter Verbrecher! Sie lügen mich an, um Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.“
„Wenn Sie mir nicht glauben, mein lieber Hauptkommissar, gehen Sie ins Archiv und vergleichen Sie die Fingerabdrücke des Täters mit denen Ihres Sohnes. Das würde einen schönen Skandal geben, viel mächtiger als damals, was meinen Sie?“
„Ja, natürlich. Sie haben an alles gedacht, Paltier.“ Langsam erhob sich der Ex-Polizist von seinem Stuhl und ging bedächtig um den Schreibtisch herum auf den Schriftsteller zu. „Alles fügt sich so, wie Sie es sich ausdachten. Ihr Plan ist genial – denken Sie. Denn er steht und fällt mit der Annahme, dass jeder so reagiert, wie Sie es vorhersagen. Ich kann Sie nicht festnehmen lassen, weil sie sonst die wahre Identität des Unglücksfahrers, also meines Sohnes, preisgeben. Sie würden mein Leben vollständig ruinieren. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu schweigen und das Geld zu nehmen, und für den Rest meines Lebens Sie als Verbrecher zu sehen und meinen Sohn als Mörder.“
Paltier stand ebenfalls auf und streckte Pechner die Hand entgegen. Dieser wollte sie ergreifen, doch plötzlich wandte er sich um und griff sich die beiden Duellpistolen, die an der Wand hingen.
„Es gibt eine dritte Möglichkeit!“ Er sprang zurück und richtete eine Waffe auf Paltier. Der nahm sofort die Hände hoch und sackte zurück in seinen Sessel.
„Zwei Kugeln, Paltier. Ein sauberes Ende! Haben Sie noch ein paar letzte Worte?“
„Das wagen Sie nicht, Pechner. Dazu fehlt Ihnen der Mumm.“
Der kurze trockene Knall war außerhalb des Gebäudes nicht zu hören. Auch nicht der zweite, de wenige Momente später ertönte.
Draußen war es vollständig dunkel geworden, die Straßenlaternen waren angegangen und beleuchteten den regen Feierabendverkehr.


Ende

 

Wow, ich muss schon sagen. Nachdem ich dei Geschichte elesen habe, musst ich erstmal Luft holen. Sie ist einfach toll. Denn nur zu oft spielen Menschen Gott. Die Geschichte ist spannend erzählt und mann liest sie gerne weiter.
Alles liebe Anna

 

Hallo Hannibal,

Der Plot ist nicht schlecht, wenn auch nicht unbedingt neu.

Interessant finde ich die Verzahnung der privaten Probleme des pension. Kommissars mit denen des Schriftstellers. Die emotionale Erpressung braucht keine Geld-Versuchung.
Da würde ich olympic Recht geben, auch in seinem Vorschlag, die Zeitungsartikel zu kürzen.

Gut finde ich die Wiederaufgreifung der Duell-Waffen. Das Detail ist mir schon zu Anfang aufgefallen und es wird Regel-gerecht eingesetzt. Es gibt so ein schönes Zitat, eine Waffe die ihm ersten Kapitel erwähnt wird, muss später benutzt werden.

Details

durch einen Defekt des Föns einen elektrischen Schlag erhalten
> klingt holprig
> durch einen defekten Föhn einen elektrischen Schlag erhalten
Der eingeschaltete Fön fiel mit ins Wasser. Frau Paltier war sofort tot.
>Der eingeschaltete Fön fiel ins Wasser. Frau Paltier war sofort tot.
„Das geht Sie einen Dreck an, Pechner.“
> out of character
> Besser:„Das geht Sie nichts an, Pechner.“
Man wird ein kluger Mensch als Schriftsteller, glauben Sie mir.
>:D

Fazit:
atmosphärisch dicht,psychologisch teilweise interessant. Ein Plot, der durch die Parallelsetzung zu dem Buch an Spannung gewinnt.
Sprachlich ist es nicht immer mein Fall, manche Formulierung ist mir - etwas - zu geschraubt. Insgesamt gesehen durchaus lesenswert.

Liebe Grüsse Pe

 

Hallo, Ihr Drei!

Schön, dass Ihr euch die Zeit genommen habt. Und danke für die Kritiken und Anregungen.

Das Thema an sich ist natürlich ziemlich brisant und verdient es, vernünftig verpackt zu werden. Das habe ich nicht immer geschafft, das will ich zugeben.:D

Ausrede:
Im Prinzip ist die Story wohl an die sechs Jahre alt. Damals hatte ich meine ich-muss-alles-ganz-genau-beschreiben-Phase. Ich denke, das merkt man der Geschichte an. Ich hatte sie vor kurzem vorgekramt, und in Rekordzeit (jedenfalls für mich!) um über die Hälfte gekürzt, und teilweise umgeschrieben. Ein Großteil der Formulierungen habe ich allerdings übernommen. Das zum Stil, Petdays.
Atmosphärisch dicht, weiß ich nicht, freut mich aber, wenn du es sagst.
Psychologisch ausgefeilt ist der Dialog zwischen den Beiden nicht, das will ich zugeben. Mir hat es auch in der Seele leidgetan, soviel rausstreichen zu müssen, es bestand allerdings ein Limit, das es zu halten galt.

Deshalb auch die Zeitungsausrisse. Sie stellen in etwa einen Textumfang von etwa fünfzehn Manuskriptseiten dar. Ich bekam Panik, ich alles verständlich reinkriege. War doch wohl zu umfangreich.

Nun gut, ich verspreche hiermit, die nächste Story, die ich poste, soll ein wenig besser ausgearbeitet sein.

Mit Grüßen von hier!

 

...15 Manuskriptseiten für Zeitungsausschnitte?!?
...dass die Geschichte 6 Jahre alt ist erklärt schon einiges! Hatte mich schon gewundert, weil mir die letzte story, die ich von dir kommentiert hatte, viel ausgefeilter vorgekommen war. Trotzdem würde ich diese nicht aufgeben, vielleicht manchen Satz anders schreiben.

Pe ;)

 

Hallo Hannibal,

du gehst fremd? Kein Horror sondern hervorragend psychologisch ausgefeilte Spannung. Hat mir gut gefallen. Ich fand es auch nicht zu langatmig erzählt ...nur an wenigen Stellen. Ganz besonders dickes Lob für die Dialoge, die trotz ihrer Länge nicht an Intensivität eingebüßt haben. Die Idee/der Plot war spannend und gut umgesetzt, auch wenn ich das Gefühl hatte, es schon mal irgendwo gelesen zu haben.
Toll war auch dieses Wechselspiel der Protagonisten.

negativ: zwei oder drei offensichtliche Rechtschreibfehler, die man durch die Word-Rechtschreibprüfung herausfiltern kann.

z.B: Der kurze trockene Knall war außerhalb des Gebäudes nicht zu hören. Auch nicht der zweite, de wenige Momente später ertönte.

Alles in allem ein gelungener Ausflug in die Rubrik Spannung.

 

Hi André!

Freut mich sehr, dass es dir gefallen hat. Wie schon erwähnt, ist die Story etwas älter, und ist mein drittes wirkliches "Baby".
Die Dialoge, ja. Macht mir immer wieder Spaß, welche zu entwickeln. Ist ziemlich spannend, durch das gesprochene Wort die Personen zu charakterisieren. Wenn du die Urfassung gelesen hättest, ich denke, die ist zäh und ein wenig ausgewalzt.(Selbstkritik:cool: )

Und ja, Petdays, die Beschreibung des Ist-Zustandes, den ich hier in einige Zeitungsartikel gepresst habe, war knapp fünfzehn Seiten lang. Der Sohn hat eine tragendere Rolle eingenommen - Ein weiterer Baustein in der Spiegelung der Leben der beiden Protagonisten.

Die Fehler, tja:rolleyes: , das alte Problem. Man ist zuschluderig. (Schon wieder Selbstkritik?!)
Aber auch dir gelobe ich Besserung!

In punkto Fremdgehen: Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass eine gute Horror-(oder Kriminal-)story auf mehreren Ebenen funktioniert. Ich versuche immer hinter der spannenden Geschichte ein Thema zu verarbeiten, das mich beschäftigt. Insofern ist dieses Fremdgehen vielleicht nicht gar so ungewöhnlich.

Viele Grüße bis zum nächsten Mal!

 

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