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Vorahnung
Ich spüre, dass es bald soweit ist. Das Ende. Mein Ende. Und doch kann ich mir nicht sicher sein. Vielleicht habe ich einfach den Verstand verloren? Kann nicht mehr unterscheiden zwischen Wahn und Wirklichkeit? Eine leise Hoffnung bleibt ja immer.
„Gaspar, weißt du den Wievielten wir heute haben?“
Gaspar Morel sitzt mir gegenüber und betrachtet abwesend seinen Becher. Schließlich deutet er auf die Zeitung vor sich und nuschelt:
„Heute ist der elfte August, Hugo. Aber was spielt das schon für eine Rolle?“
Ich nicke und zögere, bevor ich antworte.
„Ich habe den heutigen Tag in meinen Träumen gesehen. Es ist der Tag, an dem ich sterbe.“
Gaspar stutzt, hört auf, mit seinen schaufelgroßen Pranken an seinem Becher herumzuspielen und glotzt mich an. Langsam beginnt er zu grinsen. Er versteht nicht, was ich ihm sagen will und hält die ganze Sache wohl für einen Scherz.
„Weißt du Hugo, unwahrscheinlich, dass du heute stirbst.“ Verstohlen schaut er sich um und raunt mir dann zu: „Denn du bist schon längst tot.“ Dröhnend lacht er los. „So tot, wie man nur sein kann, seit diese verkommene Bande hier das Zepter übernommen hat. Schau dich doch mal um, siehst du etwa eine Zukunft für dich? Für uns? Nein, nein, mein Freund. Wir sind erledigt. Mausetot!“ Er lacht wieder und nimmt einen Schluck Wein. Ich überlege, wie ich ihm nur erklären soll, was ich meine, als einige der üblichen Verdächtigen irgendwo im hinteren Teil der Kneipe beginnen, ein Lied anzustimmen. Es ist, wie könnte es anders sein, le Chant du départ. Gaspar lässt sich nicht lange bitten. Springt voller Begeisterung auf, schwankt einen kurzen Moment und fängt an, in den Gesang einzustimmen.
Sachons vaincre ou sachons périr
Un Français doit vivre pour elle
Pour elle un Français doit mourir.
..."
Die Sauferei, das Geschwätz und auch der Gesang. Es ist im Wesentlichen dasselbe wie jeden Tag. Über alldem steht unser verlorener Sieg. Unsere verlorene Zeit. In aller Regelmäßigkeit werden Becher und Gläser aneinandergeschlagen und aus versoffenen Kehlen erklingen die immer gleichen Parolen. Ich verweigere mich nicht. Proste meinen zerschossenen Kameraden zu und trinke pflichtbewusst. Sehe ehrliche Verachtung und tiefe Enttäuschung in ihren Augen.
Ich teile ihre Gefühle, weil ich es muss. Als Reminiszenz an meine alten Überzeugungen. Doch ihre Leidenschaft kann ich schon lange nicht mehr teilen. Es ist nur noch eine blutleere Verpflichtung, während ihr Hass von Glas zu Glas immer lodernder wird. Beinahe bewundernswert und ja, vielleicht beneide ich sie sogar darum. Denn es hilft, umzugehen mit der ganzen Misere. Sie halten sich an ihrem Hass, wie sie sich an ihren Gläsern festhalten. Ich jedoch habe das Gefühl, jeden Halt schon vor langer Zeit verloren zu haben.
Mein Kopf schmerzt. Nichts Ungewöhnliches. Seit Russland tut er das andauernd. Ich schließe die Augen. Bin in einer Stadt. Sie erinnert mich an Paris, aber überall stehen seltsame metallene Kutschen herum. Männer in Uniform schlagen auf Menschen ein, vereinzelt wird geschossen. Manche fallen in einen Fluss. Ist es die Seine? Ich weiß es nicht. Die Uniformierten stoßen die Männer immer wieder zurück. Einige treiben bereits leblos im Wasser. Auf den Straßen liegen zahllose Körper.
Gaspar lässt sich schwer atmend an meinem Tisch nieder und ich schrecke auf. Er hat noch eine Karaffe mit billigem Wein mitgebracht. Hastig füllt er unsere Becher auf und besprenkelt dabei einen erheblichen Teil des Tischs. Ich wische mir den kalten Schweiß von der Stirn und versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
„Was warn das vorhin mit deinem Traum, Hugo? Hast von deinem Tod geträumt, eh? Unschöne Sache so was.“
Seine Zunge ist schwer und das Gesicht vom Alkohol gerötet. Die Augen aber sind so wach wie eh und je.
„Weißt du, man könnte glatt meinen, wir wären noch mittendrin im Krieg. Sooft, wie wir darüber reden? Scheinen ja gar nichts anderes mehr zu kennen.“
Gaspar runzelt die Stirn.
„Und? Was is verkehrt dran? War schließlich ne ehrenvolle Zeit, damals als ...“
„Ach, ständig dieses Gefasel!“, unterbreche ich ihn unwirsch. „Über die gute alte Zeit und irgendwelche hanebüchenen Heldengeschichten. Gaspar, ich kanns nicht mehr hören! Du weißt genauso gut wie ich, wie es wirklich war! Glaubst du etwa, dass diejenigen, die sich damals vor lauter Angst eingepisst haben, besonders ehrenvoll aussahen? Schwachsinn!“ Gaspars Züge verhärten sich und er starrt mich an. Er hatte zweifellos mit dem üblichen seichten Säufergeschwätz gerechnet. Sein Kiefer mahlt. Wir schweigen uns einen Moment an und ich beginne, mir eine Pfeife zu stopfen. Meine Hände zittern.
„Das brennende Moskau, die Erfrorenen, diese elendige Angst, warum haben wir darüber eigentlich keine Lieder? Warum besingen wir nicht diejenigen von uns, die sich zu Hunderten in den dunklen Wäldern erschossen haben?“ Eine kurze Pause entsteht und böse blicken wir uns an.
„Weil wir es vergessen wollen, weil wir ...“
Gaspar schlägt mit der Faust auf den Tisch. Der Wein schwappt über und einige Trinker blicken dumpf in unsere Richtung.
„Gar nichts will ich vergessen, Hugo! Ich bin stolz drauf, unserm Kaiser überallhin gefolgt zu sein. Und jetzt sag mir, worauf du verdammt noch mal hinaus willst!“
Ich winke ab und schüttele den Kopf.
„Du belügst dich selbst, Gaspar. Was würdest du dafür geben, nur eine einzige Nacht deine Ruhe zu haben? Darum säufst du doch auch den ganzen Tag, oder täusche ich mich etwa? Darum saufen wir doch alle. Weil wir endlich ruhig schlafen wollen.“
Um uns herum ist es laut. Es wird gegrölt und gelacht. Gaspar scheint für heute aber jedes Interesse an seinem üblichen Tagewerk verloren zu haben. Finster schaut er mich an.
„Was willst du von mir, Hugo? Was soll das Ganze? Wir ham gekämpft. Meinetwegen, wir hatten Angst. Alle hatten Angst! Warum also die alten Wunden aufreißen?“
Gedankenverloren fahre ich mit dem Finger meine vernarbte Schläfe entlang, befühle den Rollstuhl und das, was von meinem linken Bein übrig geblieben ist.
„Ich denke oft an diejenigen, die mich damals retteten. Die mich notdürftig versorgten, mich durch den Schnee mit sich schleppten. Ich kenne ihre Namen nicht, aber ... Ich hasse sie! Ich verfluche sie und alle, die ihnen lieb und teuer sind!“ Die letzten Worte stoße ich hervor und merke, wie mein Herz beginnt zu rasen. Schweiß steht mir auf der Stirn und mein Atem geht schwer. Gaspar blickt mich erschrocken an.
„Angenommen, ich würde dir sagen, dass ich seither mehr als nur unser kleines Abenteuer in Russland vor Augen habe. Angenommen, ich würde dir sagen, dass damals irgendetwas mit mir geschehen ist. Dass ich seit meiner Kopfverletzung vieles sehe, was ich nicht verstehe. Und angenommen, ich würde dir sagen, dass es keine Träume sind. Keine sein können! Denn ich fühle, rieche und schmecke das, was ich sehe.“
„Und? Was schmeckste?“ Gaspar versucht kaltschnäuzig zu klingen, aber seine Stimme zittert.
„Staub. Ich schmecke Staub und sehe Feuer. Ich sehe … eine Art Pilz. Einen riesigen Pilz am Horizont, der das Licht verändert. Eine grollende Welle kommt über mich, die alles mit sich reißt. Menschen, Häuser, Bäume. Ich sehe ... mechanische Vögel mit unbeweglichen Flügeln, die über einen kleinen Ort fliegen. Höre ein Heulen, das mir die Haare zu Berge stehe lässt, und schmecke wieder Staub. Sehe wieder Feuer. Und ich werde Zeuge meines Todes. Immer wieder.“ Ich deute auf die Zeitung vor uns. „Und all das fühlt sich so an, als ob ich es erlebt hätte. Als ob es ... als ob es Erfahrungen sind. Als ob ich dabei war, verstehst du mich?“ Gaspar schweigt. Was soll er auch sagen?
„Es ist wie nicht von dieser Welt.“ Ich zögere. „Oder ... nicht aus dieser Zeit.“
„Du bist doch verrückt, Hugo“, murmelt er.
„Ja mein Freund, ich hoffe es."
Die nächsten Minuten schweigen wir uns an. Trinken stoisch unseren Wein. Becher für Becher. Ich denke darüber nach, ob ich nicht besser meinen Mund gehalten hätte. Aber dafür ist es zu spät.
Von draußen hören wir laute Stimmen. Die Tür fliegt auf und herein kommen einige Bewaffnete. Ich erkenne sie sofort wieder. Mir wird eiskalt.
Die fremden Männer betreten langsam den Raum. Die Hände auf ihren Säbeln und Messern. Einige tragen Pistolen. Stille schlägt ihnen entgegen. Es sind Weiße.
Ein großer Mann mit einem scharf geschnittenen Gesicht schreitet zum Tresen und verlangt lautstark nach etwas zu trinken. Dann dreht er sich um, blickt in unsere Gesichter und grinst. Er spürt zweifellos den Hass, der ihm entgegenschlägt, scheint ihn zu genießen. Schließlich hebt er seinen Becher und prostet uns zu.
„Auf unseren König Ludwig den XVIII.!“
Wir starren ihn an. Keiner rührt sich. Mir fällt seine Garderobe auf. Teure Klamotten, gute Lederstiefel, feine Handschuhe und eine auffällige Brosche mit einem bläulichen Stein. Vermutlich kein echter Saphir. Eher ein Lapislazuli. Doch was weiß ich schon? Französischer Adel zweifellos. Sein ganzes Auftreten wirkt fehl am Platz. Der Mann grinst uns an, hält mühelos unseren Blicken stand. Dann trinkt er den Becher in einem Zug leer und knallt ihn auf den Tresen.
„Meine Herren, warum so schweigsam?“ Langsam schreitet er durch den Raum. „Mir wurde gesagt, dieser Ort hier sei eine berüchtigte bonapartistische Schenke? Ich muss sagen, ich bin enttäuscht! Frei hinaus, ich hätte mit deutlich mehr Schneid gerechnet. Schließlich platze ich hier einfach rein, trinke auf den König und tue dabei auch noch so, als ob ich nicht wüsste, wo ich bin! Und was passiert mir? Nichts! Meine Herren, was ist mit Ihnen? Jeden revolutionären Eifer von einst verloren?“
Erst letzte Woche haben die Royalisten nicht weit von hier ein Massaker verübt. Haben einige Veteranen erwischt und auf offener Straße totgeschlagen. Jeder hier weiß, wie schnell so eine Situation eskalieren kann. Was uns für den Moment schützt, ist unsere Anzahl. Offensichtlich wollen die Royalisten es auch nicht wirklich drauf ankommen lassen. Das Gebaren ihres Anführers ist nur aufgesetzt.
„Sind das die Überbleibsel der ach so glorreichen Garde impériale? Männer, die ganz offensichtlich ihre Zungen verschluckt haben, und“, er wendet sich um und deutet mit einer lässigen Handbewegung in meine Richtung, „und armselige Krüppel?“ Seine Männer lachen mechanisch, doch wir schweigen. Ihr Anführer seufzt gespielt resigniert und schickt sich an zu gehen.
„Es war mir ein Vergnügen, meine Herren. Eine wahre Freude sogar! Zu sehen, in welch erbärmlichen Zustand sich die letzten Anhänger des großen Nabulione befinden. Wir müssen uns wahrlich keine Sorgen mehr machen, noch einmal von Ihresgleichen belästigt zu werden. Ihre Zeit ist abgelaufen. Nutzen Sie die wenigen Augenblicke, die Ihnen noch bleiben. Trinken Sie! Trinken Sie auf die gute alte Zeit. Kann ja jeden Tag vorbei sein, nicht wahr? Ich empfehle mich.“ Lachend verlassen die Männer den Raum.
Ich stemme mich aus dem Rollstuhl empor und greife nach meinen Krücken. Gaspar schaut mich verständnislos an. Signalisiert mir mit einer Mischung aus Scham und Angst in seinem Blick, dass ich mich wieder hinsetzen soll. Ich aber humpele den Bewaffneten hinterher. Ich brauche Gewissheit.
Schwankend trete ich aus der Tür und blinzele gegen die Sonne. Die Royalisten blicken mich verdutzt an.
„Ich verlange Satisfaktion.“
Hinter mir treten Gaspar und einige Weitere nach draußen. Mein Freund legt mir sachte eine Hand auf die Schulter, aber ich lasse mich davon nicht beirren.
„Wiedergutmachung für diese Beleidigung. Ich habe für Frankreich gekämpft und lasse mich nicht als einen Krüppel verunglimpfen. Ich kenne Ihren Namen nicht. Denn Sie haben ja offenbar vergessen, sich uns vorzustellen. Ich aber heiße Hugo Feraut und fordere Sie auf der Stelle zum Duell!“ Der Anführer der Weißen blickt zunächst auf meine Krücken, dann auf meinen Beinstumpf und betrachtet schließlich voller Geringschätzung mein Gesicht.
„Wissen Sie, unter anderen Umständen würde ich Ihnen ja raten, sich selbst einen Gefallen zu tun und so schnell es geht wieder unter den Stein zu kriechen, unter dem Sie hervorgekommen sind. Bin ja schließlich kein Unmensch. Andererseits ist es offensichtlich an der Zeit, euch Gelumpe zu zeigen, wo ihr hingehört.“ Lässig steigt er von seinem Ross. „Die Frage nach den Waffen erübrigt sich ja wohl“, spottet er mit einem Blick auf meine Versehrung.
„Pistolen also.“
Wir stehen uns gegenüber, warten auf das Signal. Ich war einst der beste Schütze meiner Einheit. Wird sich zeigen, was davon noch übrig geblieben ist. Ein Augenblick angespannter Stille. Dann schießen wir. Ich werde herumgerissen und ehe ich mich versehe, liege ich am Boden. Ich sehe mich um. Die Taverne ist verschwunden, stattdessen befinde ich mich in einem kleinen Dorf irgendwo in der Steppe. Wie kam ich hierher? Männer in grauen Uniformen, treiben Menschen in einer Scheune zusammen. Die Dorfbewohner, die allermeisten sehr alt oder noch ganz jung, sprechen ängstlich miteinander. Einzelne russische Wörter erkenne ich wieder. Die Soldaten lachen, machen Scherze. Ich sehe, wie einer von ihnen unentwegt mit einem seltsamen, viereckigen Apparat hantiert, durch den er wie durch ein Fernrohr auf die Menschen blickt. Er scheint ganz begeistert zu sein von dem, was er sieht. Ständig ruft er seinen Kameraden zu, wie sie sich aufstellen sollen. Sie alle lachen. Ein anderer sitzt grinsend auf einem riesigen, stählernen Koloss mit einem seltsam hakenförmigen Symbol auf der Seite. Er scheint sich zu sonnen. Es ist surreal. Dann beginnen die Männer damit, die Tür der Scheune zu verbarrikadieren. Ich drehe mich weg, versuche aufzustehen und stolpere davon, vorbei an einem Baum. Dort hängt kopfüber ein Mann mit einem Schild um den Bauch. Ich taumele weiter, strauchle, weil ich es nicht mehr wage, meine Augen zu öffnen, stürze irgendwann und bleibe liegen. Halte mir die Ohren zu, damit ich nicht hören muss, was in dem Dorf geschieht.
Irgendwann öffne ich vorsichtig wieder meine Augen. Gaspar kniet neben mir und blickt mich traurig an. Er sagt etwas, aber ich kann ihm nicht folgen. Mit einer Hand hält er meinen Kopf, während die andere fest auf meinen Bauch drückt. Ich schaue herab und staune. Alles ist voll Blut, dabei spüre ich kaum etwas. Mein Blut? Dann ist es also wahr. Alles ist wahr.