- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Vorabend einer Gerichtsverhandlung
„Der Trottel braucht net glauben, dass ich mir das einfach gefallen lass‘“.
Die Kellnerin bringt mein Bier – ich habe nur ein kleines bestellt. Die Gerichtsverhandlung findet morgen schon um acht Uhr statt. Obwohl das Lokal gut gefüllt ist, ist es gerade auffallend still. Ich beobachte den doppelten Schatten des Salzstreuers, der von den Strahlen der Abendsonne und der gedämpften künstlichen Beleuchtung erzeugt wird und versuche, mich an den Namen der Richterin zu erinnern, was mir nicht gelingt.
Der Mann auf dem Nebentisch fährt fort: „Mei Frau und ich, wir wohnen jetzt seit acht Jahren in der Wohnung. Wir warn nie mit der Miete im Rückstand“. Der andere Mann nickt und dämpft seine Zigarette aus. Sie glimmt trotzdem weiter und der Rauch zieht zu mir herüber. Auf dem Tisch der beiden stehen vier leere Gläser. Der erste Mann, er wird ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein, dreht sich um, winkt der Kellnerin und sieht mich an. Ich erwidere kurz seinen Blick und tue so, als hätte ich soeben eine Nachricht bekommen.
„Mein Schwager hat gsagt, ich soll mir auch einen Anwalt nehmen; aber wie ich den zahlen soll, hat er mir nicht verraten.“ Ich nehme einen Schluck von meinem Bier. Mein Arbeitskollege verspätet sich. Die Zigarette brennt immer noch im Aschenbecher.
„Wir hätten das schon wieder in Ordnung gebracht. Es is ja auch gar nix passiert. Und überhaupt hätte er sich selber darum kümmern müssen.“ Die Kellnerin bringt ein gefülltes Bierglas, stellt es auf den Tisch der beiden Männer und nimmt die vier leeren Gläser mit.
„Wie hätten wir außerdem wissen sollen, dass das Trumm nicht passt? Es war in gutem Zustand und dass die Leitungen das nicht aushalten, woher soll ich das wissen?“ Der andere Mann schlägt sein linkes Bein über sein rechtes Knie. „Naja, gefährlich war es halt wahrscheinlich schon. Aber dass der Vermieter gar net mit sich reden lässt, ist schon komisch. Er hätte den Boiler ja wirklich selber tauschen müssen. Du, ich muss jetzt gehen, wie schon gesagt, ich bin noch verabredet. Erzähl‘ mir morgen dann, wie es gelaufen ist.“
Obwohl Dienstag ist, sind heute mehr Menschen als sonst hier. Mittlerweile spielt wie üblich eine leise elektronische Hintergrundmusik, die zum rustikalen Charakter des Lokals nicht wirklich passt. Ich habe den Wirt einmal darauf angesprochen. Er hat gemeint, das würden heutzutage alle Restaurants in der Gegend am Abend so machen. An der Bar stehen zwei junge Frauen und werfen zwei Männern, die am anderen Nebentisch sitzen, verstohlene Blicke zu. Ich denke kurz an meine letzte Beziehung zurück, die nach nur drei Wochen in die Brüche gegangen ist.
Meine Gedanken wandern zur morgigen Verhandlung. Das Räumungsvorbringen habe ich schon vollständig erstattet und alle nötigen Dokumente vorgelegt. Der Fall ist rechtlich nicht besonders anspruchsvoll.
„Prost!“ Der Mann am anderen Tisch hebt sein halbvolles Bierglas, beugt sich zu mir herüber und schaut mich mit einem verzerrten Grinsen an. Er ist offensichtlich schon etwas betrunken. „Zum Wohl!“ antworte ich und hebe mein Bierglas ebenfalls an. „Man hats nicht leicht, auf der Welt“, sagt er, halb zu seinem Bierglas, halb in meine Richtung, und stößt auf. „Morgen verlier‘ ich wahrscheinlich meine Wohnung. Und das nur, weil mein alter Boiler hin war und der neue Probleme gemacht hat.“ In Gedanken lese ich das Sachverständigengutachten, das von der Versicherung in Auftrag gegeben wurde und mir mein Mandant weitergeleitet hat. „Einbau eines Warmwasserspeichers mit einer Nutzleistung, die für die verlegten Leitungen nicht zulässig war“, wird dort unter der Überschrift „Zusammenfassung“ als Ursache für den Leitungsbrand angegeben. Verletzt wurde niemand, auch der Sachschaden hält sich in Grenzen. Aber eigenmächtiges Installieren elektrischer Großgeräte ohne Beauftragung eines Handwerkers wird von Vermietern selten toleriert.
„Das ist wirklich ziemliches Pech“, presse ich hervor. „Aber Sie finden sicher bald etwas Neues“. Ich schaue an ihm vorbei in Richtung eines Gemäldes, das wohl eine Gruppe Wallfahrer darstellen soll, und nehme noch einen Schluck Bier.
„Der Anwalt hat mir außerdem geschrieben, dass mir der Vermieter alle Sanierungskosten in Rechnung stellen wird. Dabei kommen wir jetzt schon gerade so mit‘m Geld aus. Eine neue Wohnung auf die Schnelle finden wird auch nicht so leicht. Immerhin sollt‘ sie ein eigenes Zimmer für unsere Tochter haben. Und zu weit weg von der Schule sollt‘s auch net sein. Die jetzige Wohnung war perfekt.“
Er stopft mehrere Unterlagen in eine schmutzige Aktentasche, die neben ihm auf dem Boden steht, während ich gedankenverloren in meinem Telefon durch die Termine für diese Woche blättere. „Darf ich mich rüber setzen?“ Er beginnt aufzustehen. „Bitte verstehen Sie das jetzt nicht falsch, aber ich warte auf einen Freund, der sollte jeden Moment kommen.“ Er nimmt wieder Platz. „Ok, wurscht, kein Problem.“
Die zwei Frauen von der Bar sitzen mittlerweile bei den beiden Männern am Nebentisch. Wie lange, weiß ich nicht. „Naja, manchmal geht’s bergab, dann dafür aber auch wieder bergauf“, sage ich in seine Richtung während ich mit einem Bierdeckel spiele. Er schnaubt verächtlich. „Sie haben gut reden, Sie arbeiten wahrscheinlich in einer Bank, so wie Sie aussehen und haben auch sicher irgendwo a nette Eigentumswohnung. Oder Haus am Stadtrand?“
„Eigentumswohnung, aber eher eine kleine. Ich habe lange darauf hin gespart.“ Warum habe ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen?
Mein Telefon vibriert. Diesmal bekomme ich wirklich eine Nachricht. Mein Arbeitskollege kommt nicht mehr, sein kleiner Sohn hat Fieber.
„Wie alt ist Ihre Tochter?“, frage ich.
„Sie wird in zwei Wochen elf“, antwortet er.
„Dann kommt sie bald in die Pubertät. Eine schwierige Phase“. Das sagen zumindest alle.
„Wir haben Glück mit ihr. Sie ist zwar sehr lebhaft, lernt aber brav und ist schon ziemlich selbstständig und verantwortungsbewusst.“
„Mhm“.
„Haben Sie auch Kinder?“
„Nein.“
„Aber eine Frau oder Freundin schon, oder?“
„Momentan auch nicht.“
„Sie arbeiten wohl sehr gerne, was?“ Er lacht kurz auf und ich bin mir nicht sicher, wie er die Frage gemeint hat.
„Ja, zur Zeit ist recht viel zu tun und es macht mir Spaß. Sehr abwechslungsreich und interessant, da hat man wenig Zeit für andere Dinge“, lüge ich.
Er schaut auf die Uhr, während ich mich daran zurückerinnere, dass ich selbst einmal gedacht hatte, zum jetzigen Zeitpunkt verheiratet zu sein und eine elfjährige Tochter zu haben.
Durch die halb geöffnete Tür des Lokals dringt der Lärm des Folgetonhorns eines Polizeiautos. Er passt auf seltsame Art und Weise zur elektronischen Hintergrundmusik. Auf fast jedem Tisch wird geraucht, die Luft ist verbraucht und stickig.
„Kampflos werd‘ ich meine Wohnung aber sicher net hergeben. Der Vermieter wird das morgen schon sehen. Wenn er überhaupt kommt und net nur seinen Anwalt hinschickt. Ich hab‘ mit jemandem vom Mieterschutzverband gesprochen und die haben auch gemeint, die Sache ist net so klar.“
„Kann ich nachvollziehen.“ Kann ich das? Ich weiß es nicht.
„Meine Frau wird morgen auch dort sein und aussagen. Mal schaun, vielleicht hat der Richter ja ein Einsehen oder es findet sich sonst eine Lösung.“
„Richterin“, rutscht es mir beinahe heraus. „Positiv denken und auf das Beste hoffen, mehr kann man eh nicht tun“, antworte ich stattdessen. Mein Mandant hat klar gesagt, dass er an einer vergleichsweisen Regelung nicht interessiert ist, sondern den Mieter aus der Wohnung haben will. Er wird morgen nicht kommen.
„Ich hab‘ schon überlegt, unsere Tochter auch mitzunehmen, um ein bisschen auf die Tränendrüse zu drücken.“ Er lacht wieder. „Das war mir dann aber doch zu blöd. Außerdem will ich sie mit den Sachen nicht jetzt schon belasten, das wird sowieso noch unangenehm genug.“ Er trinkt sein Bier aus.
„Ja, das ist sicher vernünftig. So eine Gerichtsatmosphäre kann für Kinder wahrscheinlich schon unangenehm sein.“ Ich muss spontan an meine Ausbildungszeit beim Familiengericht denken und daran, dass sich Kinder dort normalerweise besser benehmen, als die Erwachsenen.
„Gut, ich muss dann gehen. Hat mich gefreut, vielleicht sieht man sich mal wieder.“ Er steht auf und gibt mir die Hand. Sie ist fettig und klebrig. Vermutlich hat er vor einiger Zeit etwas mit den Fingern gegessen.
„Ja, mal schauen, ich bin öfter hier. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Es ist ehrlich gemeint.
Die Frauen und Männer vom Nebentisch sind gegangen. Nun sitzen dort zwei ältere Herren und unterhalten sich über Politik. Mein Blick schweift durch das Lokal und bleibt bei einer eigenwilligen Skulptur hängen, die über der Bar zwischen zwei Flaschen steht und vermutlich einen Fuchs oder Wolf darstellen soll. Sie ist mir bisher noch nie aufgefallen. Ich nehme mir vor, den Wirt einmal danach zu fragen.
„Das kann doch nicht wahr sein“. Die Kellnerin steht schimpfend beim Nachbartisch. „Jetzt ist auch noch der zweite gegangen, ohne zu bezahlen.“ Sie nimmt das leere Glas vom Tisch. „Das ist schon in Ordnung“, sage ich, „das war ein Freund von mir, ich zahle später für ihn mit“. Die Kellnerin wirft mir einen ungläubigen Blick zu. „Na dann ist es ja gut“. Ich bleibe noch eine Weile sitzen und betrachte den Salzstreuer, der mittlerweile nur noch einen einzelnen Schatten wirft. Eine junge Frau stößt beim Vorbeigehen an meinen Tisch und entschuldigt sich, ohne mich anzusehen. Mir fällt der Name der Richterin zum Teil wieder ein. Seltsamerweise nur der Vorname.