Vor Gericht
„Ruhe im Saal, sonst lasse ich räumen!“ Und der Richter lies den Hammer auf das Pult knallen. Es wirkte, der Saal wurde ruhig. Und auch die Menschen in ihm.
„So, kommen wir nun zur nächsten Strafsache Meier gegen Tod. Würden die Parteien bitte eintreten?“
Die Tür des großen Saales öffnete sich mit einem Quietschen und die Parteien traten dann auch tatsächlich ein. Der Kläger, Bernhard Müller, Freunde nennen ihn Bernhard, war ein Mittvierziger in einem hellen Karosakko mit passender Hose. Die hellblauen, klaren Augen wurden von einer dunklen Hornbrille eingerahmt, was ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh. Der Mann hatte vier Dioptrin. Das schüttere, braune Haar wurde von einigen grauen Strähnen an den Schläfen verziert.
Der Angeklagte sah ein wenig anders aus. Er trug einen dunkelblauen, ins Schwarze spielenden Mantel, der bis zum Boden reichte und so wallte, daß er die Konturen der Person verwischte. Er hatte eine Kapuze auf. Das seltsame, abgesehen von seinem Gesicht, was nicht vorhanden war, an ihm war aber, daß er etwa zwei Zentimeter über dem Boden zu schweben schien. Anstelle eines Gesichtes hatte er eine Art Totenkopf. Da er tatsächlich Tod war, war das auch ganz passend. In den tiefen Augenhöhlen könnte man je eine kleine blaue Flamme erkennen, in der sich das gesamte Wissen und Sein des Universums abzubilden schien.
Ja, so war das, an diesem denkwürdigen Tag, an dem ein kleiner Beamter gegen den Tod klagte, weil der einen Formfehler gemacht hatte.
„So“ sprach dann der Richter „Herr Staatsanwalt, verlesen Sie bitte die Anklage.“
„Was?“
„Die Anklage!“
„Ach so. Verzeihen Sie, Hohes Gericht, ich bin kurz eingenickt.“
„Geschenkt.“
„Danke.“ Er räusperte sich, stand auf und begann zu lesen „Am siebzehnten diesen Monats – nein, heute ist ja wieder... ach Mist...“ Der Staatsanwalt nahm einen Stift und dann eine Korrektur auf der Anklageschrift vor „Also, nunmehr letzten Monats... ähh... verstarb der Geschädigte Herr Meier aufgrund eines Verkehrsunfalles auf der... ähh... Heidnerstraße, nachdem ein Opel Manta, schwarz, ihn an- und später auch überfuhr. Wenig später erschien dem nun toten Herrn Meier der Angeklagte, der ihn in ein Zwiegespräch verwickelte, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß Herr Meier noch nicht sterben sollte und eigentlich noch ein paar Jahre zu Leben hat. Ähh... ja. Nun, Tod verlangte jetzt dreisterweise dennoch eine Bearbeitungsgebühr in Höhe von – Moment – dreiundvierzig Euro siebzehn von Herrn Meier, die der nicht bereit war, zu zahlen. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem eine Aktentasche im Wert von Euro Vierundsiebzigachtzig zu Schaden kam. Außerdem kam es infolge des Unfalles und den verbundenen Komplikationen zu einem Verdienstausfall von drei Tagen, vom Kläger beziffert mit... puhh, was steht hier? Ähh... ach ja, zweihundertdrei Euro und ... ähh... vier Cent? Jedenfalls verlangt der Kläger nun vom Angeklagten die Summe in Höhe von ähh... dreihunderteinundzwanzig Euro und einem Cent, da genannte Bearbeitungsgebühr bereits von seinem Konto abgehoben wurde.“
Während der Staatsanwalt, einen Schluck Wasser trinkend, wieder auf seinem Stuhl zu sitzen kam und die Zuschauer ein Gähnen unterdrückten, fand der Richter seine Fassung langsam wieder.
„Ähh, danke, Herr ähh... Staatsanwalt.“
„Och, dafür nicht.“
„Doch, ich finde, das sollte gewürdigt werden.“
„In diesem Fall nehme ich das gerne an.“
„So, was jetzt? Ach ja. Herr Meier, wenn Sie ihre Klage jetzt mal begründen würden.“
„Ja, das mach ich gerne.“
„Na dann mal los. Sie haben das Wort.“
„Gut. Also, wie der Staatsanwalt bereits erwähnt hat, wurde ich an diesem Tag überfahren. Dann kam Tod und hat mich beschuldigt, ich würde alles durcheinander bringen und...“
„So ein Blödsinn!“ Meinte Tod ganz ruhig, denn er regte sich nie auf. Zumindest nicht wegen solcher Lappalien.
„Herr Kläger, wenn Sie bitte bei der Wahrheit bleiben würden.“ ermahnte ihn nun der Richter.
„Na schön. Also, er hat mich nicht sofort beschuldigt. Zuerst hat er mich gefragt, wie es mir geht und dann, wie ich gestorben bin und ob ich bereit bin. Bereit wofür, habe ich gefragt, worauf er meinte, für den Tod. Da habe ich dann erstmal nachgedacht und habe dann ‚nein‘ gesagt, hauptsächlich, weil das auch so stimmte.“
„Was stimmte?“
„Daß ich nicht auf den Tod vorbereitet war.“, sagte Herr Meier.
„Danke. Fahren Sie fort.“
„Danke, Hohes Gericht. Jedenfalls machte ihn das wohl stutzig oder so und er hat auf eine Art Sanduhr gesehen und mich gefragt ‚Sind Sie nicht Willi Hansen?‘ Und da ich das nicht war, glaube ich zumindest, habe ich ihm das auch gesagt.“
„Was gesagt?“
„Daß ich nicht der Hansen Willi bin. Sie müssen schon zuhören, Herr Richter!“
„Tut mir leid. Fahren Sie fort.“
„Na dann... also, jedenfalls stellte sich heraus, daß ich noch nicht dran war. Und damit wäre ja auch alles gut gewesen. Ich könnte weiterleben und Tod weiter... na, was er eben so macht. Aber dann wollte der Geld von mir. Für überhaupt nichts! Das muß man sich mal vorstellen! Der hat noch gar nichts gemacht, und will dafür Geld von mir! So einen hätte man früher als Kommunist in den Osten getan, hätte man den!“
„Ach was? Wirklich?“ mischte sich nun der Staatsanwalt ein.
„Ja, da hat er recht.“ sagte der Richter.
„Danke, Hohes Gericht. Nun, Geld wollte der und hatte das auch schon abgebucht, also, von meinem Konto. Und das fand ich nun gar nicht gut. Und das habe ich ihm auch gesagt. Und dann hat der mich verprügelt, also hat mir eine Ohrfeige verpaßt.“
„Lüge!“ Zischte Tod von seinem Platz aus.
„Kommunist! Verprügelt hat er mich, und von der Wucht dieses Schlages bin ich nach Hinten gekippt und voll auf meine Aktentasche, die dabei kaputt ging. Außerdem habe ich dann drei Tage umsonst im Krankenhaus gelegen für nichts und wieder nichts.“
„Ja, aber da kann der Angeklagte doch nichts dafür.“
„Doch, Hohes Gericht. Die haben mich doch nur dabehalten, weil die mich für verrückt hielten, weil ich grundlos auf meine Tasche falle und mit der Luft rede, weil die konnten den ja gar nicht sehen, konnten die ja nicht.“
„Aha. Herr Angeklagter... ähh, Tod, haben Sie auch etwas zu sagen?“
„Ja, das habe ich. Also, es war ein Dienstag, daß weiß ich, weil ich an dem Tag Dienst hatte. Jedenfalls sollte ich den Herrn Willi Hansen, den ich auch als Zeugen genannt habe...“
„Der ist aber nicht da.“ unterbrach ihn der Staatsanwalt.
„Warum das denn?“
„Weil... nun er ist tot. Das sollten Sie aber eigentlich wissen!“
„Echt? Tot? Mist! Naja, es war ein Dienstag und ich wanderte so durch die Gegend, weil ich den Herrn Hansen gesucht habe, weil der ja sterben sollte. Und plötzlich wird da dieser Mann überfahren. Und da dachte ich mir doch, daß der das wohl sein müßte. Das müßte der doch wohl sein, habe ich mir da gesagt und bin dann hin.“
„Soso, und was ist dann passiert?“
„Wie, dann?“
„Ja, nachdem Sie da hin sind, wie Sie sagten.“
„Ach dann! Ja, dann hab ich die Zeit angehalten, weil ich das immer so mache, müssen Sie wissen...“ Wieder unterbrach ihn der Richter.
„Nein.“
„Was denn jetzt schon wieder?“
„Ich meinte nur, daß ich das nicht wissen muß.“
„Ach nicht. Na gut. Ich dachte nur, daß...“
„Jaja, macht ja nichts. Ist ja keiner dran gestorben, haha.“
„Ha. Ja, stimmt auch wieder. Also, dann habe ich den Mann gefragt, ob er bereit wäre und da meinte der ‚nein‘. Also, Herr Richter, ich übe diesen Job schon seit Jahren aus, ich hab damals angefangen, weil ich mir noch was neben dem Studium dazuverdienen wollte, jedenfalls hat noch nie einer ‚nein‘ gesagt.“
„Und dann haben Sie den Kläger ihn Ihrer Verwirrung geschlagen.“ Konstatierte der Staatsanwalt.
„Ja... nein... ich meine... ähh...“
„War es denn nicht so?“
„Nein... doch... also...“
„Wie war es denn dann?“
„Also.... ich habe dann in meinen Akten nachgesehen und habe gemerkt, daß er der falsche ist. Und dann hat der sich furchtbar aufgeregt, weil ich trotzdem die Gebühr einziehen wollte.“
„Was denn für eine Gebühr?“
„Naja, die Bearbeitungsgebühr halt. Das ist so üblich. Und da hat der erstmal richtig Terz gemacht und...“
„Ich dachte, Sie waren nur zu zweit?“ mischte sich der Richter wieder ungefragt ein.
„Ja... ähhh, was?“
„Weil sie eben von Terz gesprochen haben, und das ist ein Fremdwort und bedeutet drei.“ erklärte der Richter und blickte dabei stolz in die Runde
„Ach so. Nein, wir waren nur zwei. Ja, und dann hab ich ihm eine Ohrfeige gegeben. Die ganze Situation hat mich mental einfach überfordert. Es war auch nur so eine kleine, die tat ja auch nicht weh, oder Herr... ähh Meier?“
„Kommunist!“
„Also nicht. Sag ich doch.“
„Gut, dann rufe ich mal die Zeugin rein, oder gibt’s noch Fragen, Herr Staatsanwalt?“
„Allerdings. Könnten wir mal eine Pinkelpause machen?“
„Na klar, ich muß nämlich auch mal. Also, wir machen zehn Minuten Pause. Das mir keiner wegrennt, klar?“
Jeder nutzte die zehn Minuten auf seine Weise. Während der Richter und der Staatsanwalt pinkeln waren, Tod seine Sense schliff (er ging dabei betont langsam und sorgfältig vor, womit er alle Zuschauer nervös machte) und Frau Höllerien auf ihren Auftritt wartete, war Herr Meier dabei, seine Brille zu putzen. Ebenso langsam wie Tod, jedoch nicht ganz so sorgfältig. Dann ging es weiter.
„Ich rufe Frau Höllerien in den Sitzungssaal.“ Als er merkte, daß sich nichts tat, ließ er einen Gerichtsdiener den Namen der Zeugin rufen, weil der eine lautere Stimme hatte. Als dann Frau Höllerien, eine zierliche Mittdreißigerin in einem viel zu kurzen Minirock eintrat, wurde es still im Saal. Während die anwesenden Männer die Frau mit offenen Mündern anstarrten, wegen des Mutes, den sie da aufbrachte (manche Leute können so kurze Röcke einfach tragen, wobei Frau Höllerien auf keinen Fall zu dieser Gruppe gehörte), taten die Frauen so, als hätten sie die geschmackliche Entgleisung von Frau Höllerien nicht bemerkt, was teilweise durchaus zutreffend war.
„Frau Höllerien, Sie wurden von Tod als Zeugin berufen. Ihre Personalien sind bekannt, ich muß Sie noch darauf aufmerksam machen, daß Sie hier die Wahrheit sagen müssen. Okay?“
„Was?“ fragte die sichtlich verwirrte Frau sicherheitshalber noch mal nach.
„Sie dürfen hier keine Lügen erzählen.“
„Ach so.“
„Gut, und jetzt erzählen Sie uns mit eigenen Worten, was Sie zu berichten haben.“
„Naja, am Unfall selber war ich nicht dabei, aber ich habe trotzdem was zu sagen. Ich bin nämlich Tods Sachbearbeiterin in Sachen Zeit und Personalien und so. Und an diesem Tag, es war ein Donnerstag, weil ich am nächsten Tag frei hatte, habe ich aus Versehen die Akten vertauscht, so daß der Chef zum falschen Mann ging. Er konnte also gar nichts dafür.“
„So, haben Sie noch irgendwelche Fragen, Herr Staatsanwalt?“
„Ähh, nö.“
„Und Sie, Herr Angeklagter?“
„Warum denn?“
„Och, nur so. Also nicht. Gut, dann schließe ich die Beweisaufnahme. Herr Staatsanwalt, Ihr Plädoyer bitte.“
„Wie bitte? Ich habe gerade einen Moment lang nicht zugehört.“
„Sie sollen uns jetzt sagen, was Tod zahlen soll.“
„Ach so, sagen Sie das doch gleich! Nun, mir ist der Fall klar. Der Zeuge... ähh Meier wurde widerrechtlich gestorben –kann man das so sagen, wurde gestorben?“ der Richter nickte wohlwollend und der Staatsanwalt fuhr fort.
„Und das ohne sein eigenes Verschulden. Später dann hat er ihn geschlagen und so die Aktentasche zerstört. Auch der Verdienstausfall geht klar auf die Kappe des Angeklagten. Und das alles führt mich zu Paragraph... ähh... Moment, ich habs gleich.“ Er begann, heftig in seinem Gesetzbuch zu blättern.
„Ist das ein dicker Schinken! Also, jedenfalls Freiheitsberaubung, Amtsanmaßung und Sachbeschädigung. Das bringt mich zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren oder der Zahlung von in Worten dreihunderteinundzwanzig Euro und einem Cent. So, das wars. Sie könne klatschen.“
Als er sah, daß keiner klatschen wollte, setzte sich der Staatsanwalt beleidigt und leerte das Glas Wasser, das auf seinem Pult stand. Stattdessen fühlte sich Herr Meier berufen, noch einmal Kommunist in den Saal zu werfen, was wiederum den Richter auf den Plan rief.
„Herr Zeuge! Wenn Sie noch einmal den Angeklagten Kommunist nennen, lasse ich Sie aus dem Saal verweisen.“
„Ich meinte den doch gar nicht. Der Staatsanwalt ist ein oller Kommunist!“
„Woher wissen Sie, daß der Staatsanwalt Kommunist ist?“
„Ich glaube nicht, daß meine politische Gesinnung Gegenstand der Verhandlung ist.“
„Ach, wählen Sie die FDP?“
„Was spielt das denn für eine Rolle?“
„Eigentlich gar keine, ich wollts nur mal wissen. Herr Angeklagter, ihr letztes Wort bitte.“
„Ja, also die Anschuldigung vom Staatsanwalt sind eine Frechheit. Ich konnte nichts dafür. Punkt.“
„Punkt?“
„Punkt.“
„Ach so. Ich werde jetzt das Urteil verlesen.“
„Jetzt?“
„Ja, jetzt Herr Staatsanwalt, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Eigentlich nicht, aber ich muß schon wieder. Das Wasser, sie verstehen...“
„Dann halten Sie. So, ich verurteile Tod zu einer Geldstrafe von hundertsechzig Euro und fünfzig. Ich sehe es als erwiesen an, daß der Angeklagte alles das Verschuldet hat. Aber ebenso erwiesen ist, daß er nichts dafür konnte. Also habe ich als Kompromiß den Betrag der Strafe einfach halbiert. Gut was?“
„Ganz toll!“ pflichtete ihm der Staatsanwalt bei.
„So, war noch was?“
„Sie müssen noch mit ihrem Hammer auf den Tisch klopfen.“
„Warum das denn, Herr Staatsanwalt?“
„Weil sich das so gehört.“
„Na, in dem Fall werde ich dem gerne nachkommen.“ Und er knallte mit dem Hammer auf den Tisch, der eine leichte Delle davontrug. „So, nun können alle nach Hause gehen.“
„Nein, nicht alle.“ Sagte Tod.
„Wer denn nicht?“
Statt einer Antwort holte Tod eine Sanduhr aus seinem Cape hervor, deren Sand fast abgelaufen war, nur noch ein Sandkorn befand sich in der oberen Hälfte. Der Richter las den Namen auf der Uhr.
„Heißt hier jemand... was steht da? Ähh, Lohmann?“ Niemand schien Lohman zu heißen und deswegen meldete sich keiner. Oder Herr Lohmann war einfach nur zu schüchtern. Aber soviel kann verraten werden, er war nicht anwesend, was Tod zu einem lakonischen Kommentar veranlaßte.
„Nicht schon wieder! Frau Höllerien, Sie sind gefeuert!“
[ 19.07.2002, 17:18: Beitrag editiert von: gnoebel ]