Vor dem Fenster
Sein Blick geht aus dem Fenster. Es ist Frühling, eine angenehme Mittagshitze erfüllt die gesellige Stadt und es ist viel los auf dem Spielplatz vor dem Haus. Durch die frischen grünen Blätter der Bäume dringt ein heller Sonnenstrahl. Zwei Kleinkinder knien glucksend im Sandkasten und spielen mit kleinen orangenen Schaufeln und Baggern. Die Eltern sitzen gemütlich auf einer Bank und unterhalten sich. Die Atmosphäre ist entspannt, sie scheinen sich gut zu kennen, dort auf der Bank im saftig grünen Gras. Er stellt sich das wundervolle Gefühl vor, Kinder und Familie zu haben. Dann wendet er den Blick ab, zurück in sein stickiges Zimmer und auf den grellen Monitor. Das Video über die 10 unheimlichsten Meerestiere der Welt ist gerade pausiert. Die fettige Tastatur und die zerfetzte Chipstüte ekeln ihn an. Auf dem Schreibtisch führen unsortierte Zeichnungen, alte Hefteinträge und Gesellschaftsmagazine isoliert voneinander ein armseliges Dasein. Er richtet den Blick wieder nach draußen. Fünf Grundschüler spielen Fußball auf einem kleinen Bolzplatz und hören Gangstarap. Als der Ball die Latte trifft, vermischen sich Jubelschreie mit Ansagen für den nächsten atemberaubenden Schuss. Die Kinder scheinen sich zu verstehen, sie sind bestimmt aus derselben Klasse. Er wendet den Blick ab, zurück auf die Wand aus mattblauer, halb abbröckelnder Farbe und bräunlichen Schmutzflecken. An der Wand hängt ein verstaubtes Bild aus der Grundschule, ein Abschlussfoto für den Übertritt. Fast erkennt er sich nicht in der zweiten Reihe, so unscheinbar, verdeckt von den Köpfen davor. Er kannte sie nicht gut. Jetzt ist er schon lange auf dem Gymnasium, aber die Leute dort kennt er genauso wenig. Das Bild macht ihn traurig, aber zumindest lässt es die Wand nicht so leer wirken. Draußen geht ein altes Ehepaar auf einem kleinen Weg aus hellgrauen Pflastersteinen spazieren, und sie gehen Hand in Hand, obwohl beide kaum noch aufrecht gehen können. Sie sehen sich in die Augen und lächeln, ohne etwas zu sagen. Bestimmt kennen sie sich schon ein halbes Leben lang. Er stellt sich vor, jemandem tief in die Augen zu schauen. Er kippt das Fenster einen kleinen Spalt und ein angenehmer Windhauch dringt herein. Das langweilige Video interessiert ihn nicht mehr. Er hat schon so viele davon gesehen. Emotionslos lässt er sich auf seine harte Matratze fallen. Er schüttelt alte Keksreste von der Bettdecke. Es ist 13 Uhr, und doch fällt ihm nichts anderes ein als zu schlafen. Ein karges Frühstück und ein paar Chips waren alles, was er bis jetzt gemacht hat. Er schließt die Augen. Die frische Frühlingsluft lockt seinen Blick wieder nach draußen. Es spielen Leute auf dem himmelblau asphaltierten Basketballplatz mit vollem Einsatz. Sie sind in seinem Alter, es sind zwei Jungen und sogar ein Mädchen. Sie spielen auf einen Korb, lachen ausgelassen über jeden nicht gelungenen Wurf, trinken günstige Cola und unterhalten sich. Sie scheinen sich wirklich gut zu verstehen. Bei ihrem Anblick stellt er sich vor, Freunde zu haben, sich zum Fußballspielen zu treffen, Mädchen kennenzulernen und zu lauter Musik am Freitagabend zu tanzen. Freitagabend ist bei ihm nur Wiederholungen von immer gleichen amerikanischen Serien auf ProSieben schauen. Schließlich öffnet er das Fenster ganz. Die Gespräche kann er jetzt deutlich verstehen. Es geht um Basketball-Profis, Herr Müller, den netten Englischlehrer und geile Weiber. Jetzt erkennt er sie. Die Jugendlichen sind sogar aus seiner Schule. Er glaubt nicht, dass sie ihn überhaupt kennen. Er hat schon oft versucht, sie anzusprechen. Aber sich nie dazu getraut. Irgendwie ist er nicht gut genug dazu. Einer der Jungen blickt vage in seine Richtung und er zuckt zusammen. Hoffentlich denkt niemand, dass er ein Stalker ist. Der Mauszeiger wandert zurück zum Youtube-Symbol. Diesmal werden die zehn gefährlichsten ausgestorbenen Tiere vorgeschlagen. Er startet gerade das Video,da stört die Klingel. Sein Herz rast. Ihm ist es unangenehm, die Tür zu öffnen. Ein verschwitzter Paketbote mittleren Alters fragt, ob er hier ein Paket für Frau Meier abgeben kann. Er bejaht und gibt die Unterschrift. Dann sieht er dem Mann in die Augen. Er hat blaue Augen. „Einen schönen Tag noch“. Der Mann lächelt ihn freundlich an. Durch die jetzt offene Tür hört er die Rufe der Zehnjährigen und die Gespräche der Neuntklässler. Es macht ihn plötzlich so wütend, so alleine zu sein. Er geht in sein Zimmer und reißt das Grundschulfoto von der Wand. Die Wand ist kahl, aber er ist eh ein unbeschriebenes Blatt. Er zieht seine Sportschuhe an und wagt sich nach draußen. Diesmal wird er sich trauen und beim Basketball mitspielen. Und wenn sie ihn dann nur komisch anschauen, ist es ihm egal. Denn alles ist besser als einsam zu sein.