Vor dem Advent
Der November kam angekrochen wie ein verirrtes Tier.
Als ob er nicht glauben wollte, schon da sein zu müssen im gefrorenen Schlamm der Wälder. Nässe und eine bleierne Schwere hatte er im Gepäck und überzog damit ungefragt das Land, auf dem wir dahintrieben, zitternd, und das Ende des Jahres schon rochen.
Stillstand bring ich euch und den Tod als Draufgabe, dachte er, und war dann ganz da und ließ sich nieder zwischen den Schollen unserer Äcker. In den hintersten Winkeln der Stuben knarrte das Holz, verlor dabei die letzte gespeicherte Wärme des frühen Herbstes.
Es graute uns ohne Ende vor diesen Tagen, die aus Auflösung und Moder bestanden und das Dorf duckte sich noch tiefer ins Hügelland.
Wie zwischen frostigen Walbuckeln reitend, so verstanden sich die Leute, immer unterwegs, wie auf einer ständigen Flucht, von hie nach da, mit unstetem Blick und bereit auf den Hieb von irgendwo, oder von hinten und gleich in den Rücken. Das turmhohe Gewölk versprach nichts und schon gar nicht der mit Eiskristallen gespickte Wind, der außen gegen die Lehmwände kratzte.
Nur die Feuer brannten in diesen beginnenden Dunkeltagen, während das Eis auf den Bächen dicker wurde. Tragfähiger sagten manche dazu, und brachen doch durch mit ihren Lederstiefeln.
In den Wäldern rumorten die Holzknechte und das Knirschen der Schlittenkufen war bis in die sonst leeren Nächte zu hören. Das Vieh in den Ställen blökte und gurrte und trug unsere Angst mit, die in den Hütten wohnte, jedem einzelnen von uns auf der Schulter hockte und wartete. Wir verhielten uns so wie jedes Jahr um diese Zeit. Betet, predigte der Pfarrer von der Kanzel herab, der November ist die Einkehr, manchmal auch der Tod.
Mit dem Geruch der senkrecht aufsteigenden Rauchfahnen aus den Kaminen unserer Hütten und dem ersten Aufbrüllen des Viehs in den Raunächten begann es.
Es begann lautlos und wir waren dem ausgeliefert. Wie ein Haufen vorgeführter Deliquenten kamen wir uns vor und die Kälte war unbarmherziger denn je und Zeuge all dessen. Es war noch jedes Jahr das Gleiche gewesen. Doch in der Art, wie diesmal der Tod an unsere Tore hämmerte, ahnten wir, wie das Jahr zu Ende gehen würde.
Die Gebete wurden lauter, doch in der Sackgasse des Tales, in das wir ungefragt hineingeboren waren, half das nichts.
In den Bergen rundum raunte ein Schwarz, das wir nur zu gut kannten.
In der ersten Woche traf es die Witwe des Apothekers. Sie kippte gegen das Holz des Beichtstuhls und starb sofort. Zwei Tage später bohrte sich der schwarze Finger durch den Lungenflügel des Neugeborenen in Haus Nummer Vierzehn. Der Arzt sprach von angeborener Deformierung und stellte mit kalten Lippen den Totenschein aus.
Es war mächtiger als wir und auch die vollen Vorratskammern und die gestapelten Holzscheite unter den Vordächern unserer Hütten taten dem keinen Abbruch. In der Werkstätte des Zimmermanns brannte das Licht der Laternen vom frühen Morgen an und das Hämmern und Hobeln wurde ein vertrautes Geräusch zwischen dem Gekreische der Krähen, die von den Hängen in die Viehställe einfielen und von den dampfenden Rücken der Ochsen die letzten Maden pickten.
Kaum noch Sonne.
In der Bleiche der kürzer werdenden Tage tanzte ein Schneeflockenheer, unablässig, und die Äste der Tannen bogen sich tiefer, ächzend, wie tieftraurig. Die Scheewälle umgaben das Dorf und wir saßen wie in einer erfrorenen Wagenburg. Belagert von den Wäldern. Ausgeschlossen. Weggesperrt. Es gab kein Weiterkommen zwischen unseren Hütten und wenn, dann nur unter Aufbietung all unserer Kräfte. Wie es den Anschein hatte, würde es schwerer werden als die Jahre davor.
Und schwärzer.
Als sich die auf dem Pferdeschlitten des Dorfwirtes gelagerte Ladung Baumstämme in einer Abwärtskurve selbstständig machte und dabei drei Holzarbeiter in die gefrorene Klamm des Wildbaches mitriss, nahm das Läuten der Totenglocken unten im Dorf kein Ende.
Das Glitzern der Schneedecke draußen in den Nächten war das von tausend Diamanten und mehr. Käuze schrieen und deren Jagd um Mitternacht ahnten wir nur, mit pochenden Herzen auf unseren Rosshaarmatratzen liegend, unter schweren Decken, zitternd, mit offenen Mündern.
So wie wir Reisig sammelten, kaum miteinander sprachen dabei, täglich, so griff der Tod durch die Fenster unserer Hütten und die Eisblumen auf deren Scheiben waren wie Denkschriften für uns Zurückbleibende.
In den Stuben drängten wir uns aneinander, starrten in das Prasseln unserer Feuer und zählten den November aus. Am letzten Tag des Monats fanden wir uns alle ohne Ausnahme in den Betbänken der kalten Kirche und unser Glück, hier auf die Kniee sinken zu dürfen, war einzigartig.
Der Advent drängte den Tod aus dem Dorf, trieb ihn weg von uns in die leeren Täler und der Schnee wurde weicher und die Sonne brach sich auf der spiegelnden Oberfläche der vereisten Bäche, brachte das Darunter zum Fließen. Schneemänner standen, wie über Nacht geschaffen, mitten im Kinderlachen, und ein paar Kreuze mehr boten dem Wind, der sich um unser Gotteshaus drängte, Gegenwehr und Einhalt.
Wir hatten es geschafft und die Weihnacht war nicht weit.