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Vor aller Augen
Professor Tom hasste die Maschine.
Er musste es sogar laut aussprechen, so stark war das Gefühl. Er sagte: ”Ich hasse diese Maschine!"
Die Maschine antwortete mit rostigem Geklapper und Gedröhne.
“Kannst du denn nicht einmal so funktionieren, wie wir es von dir wollen?”
Die Maschine schwieg nun beschämt. Der Professor seufzte. Manchmal hatte er beinahe etwas Mitleid mit dieser alten Kiste. Aber ärgern musste man sich schon! Es war ja nicht so, dass sie nach Belieben vorgehen konnten, es gab Aufträge zu erfüllen, Befehle umzusetzen, es wurden hohe Erwartungen in ihn und die Maschine gesetzt, denen es gerecht zu werden galt. Zudem stand sein guter Ruf als Wissenschaftler auf dem Spiel, ein Ruf, den er sich hart erarbeitet hatte, und mit dem kein Schindluder zu treiben war.
Der Professor beschloss, seine Vorgesetzten zu konsultieren, bevor er weitere Schritte unternahm. Er kramte seine rote Codekarte hervor und machte sich auf den Weg zu Trakt A. Beim Gehen beobachtete er zunächst beiläufig seine Beine, die sich wie Besenstile unter dem Stoff seiner Hose abzeichneten. Konnte es sein, dass er vor lauter Arbeitseifer begann, sich selbst zu schaden? Mehr aus Langeweile als aus Einsicht versuchte er sich an seine letzte Mahlzeit zu erinnern. Bevor ihm das gelang, hatte er auf seinem Weg bereits vier Kollegen begrüßt und drei Sicherheitsschleusen passiert. Es war wohl ein Muffin gewesen, oder etwas ähnliches. Er hatte kein klares Bild davon vor Augen, er war zu dem Zeitpunkt zu sehr damit beschäftigt gewesen die Eingabeproblematik seines...
“Guten Morgen Professor!”
“Oh, ebenfalls guten Morgen!”
“Na, holen Sie sich wieder ein Törtchen Herr Professor?”
Der Professor hielt verdutzt in seinen Schritte inne.
“Wie bitte? Ein Törtchen? Was denn für ein Törtchen?”
“Komische Frage! Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen! Na, ich meine das Törtchen, das sie gestern mit so viel Begeisterung verputzt haben. Sie wissen schon, das Törtchen! Ich habe noch nie gesehen, dass jemand beim Essen eine derartige Leidenschaft an den Tag legt.”
“Ach wissen Sie, ich glaube jetzt begreife ich endlich. Sie sprechen von dem Muffin, das ich unlängst verputzt habe, nicht wahr?”
“Verputzt, ja! Und wie Sie das verputzt haben! Die ganze Cafeteria hat Sie dabei beobachtet, alle waren geradezu gefesselt von dem Anblick. Ein paar Leute aus der Führungsetage haben auch zugesehen, die haben Sie schwer beeindruckt. Als Sie mit Ihrer Show fertig waren, wurde laut applaudiert, einige haben Ihnen vor Bewunderung gar die Hand geschüttelt.”
Der Professor glotzte. Er hatte nicht vorgehabt, sich auf ein längeres Gespräch einzulassen. Nur sein Kopf war dem Kollegen zugewandt, der Rest seines Körpers war im Begriff seinen Weg in die Chefetage fortzusetzen. Doch die Geschichte die er nun zu hören bekam, irritierte ihn, ohne, dass er den Grund dafür erkennen konnte. Er fand, dass etwas Beklemmendes darin lag, etwas wie ein düsteres Geheimnis, das sich nicht so recht betrachten lassen wollte.
“Sie haben wohl viel um die Ohren, wie mir scheint? Ist schon gut, es wird Ihnen bestimmt wieder einfallen. Tut mir leid, falls ich Sie verwirrt haben sollte.”
“Ach, nein.” Der Professor blinzelte und versuchte zu verbergen, dass ihn die Worte des Kollegen tatsächlich etwas verwirrten. “Nichts für ungut. Sie haben Recht, es wird mir bestimmt wieder einfallen.”
“Natürlich, natürlich! Es ist immerhin noch keine 24 Stunden her. Ein Mann mit Ihrem Verstand vergisst sowas doch nicht. Also schönen Tag noch!”
“Ja, äh, schönen Tag auch Ihnen!”
Der Professor setzte seinen Weg fort. Merkwürdig, dachte er. Sehr, sehr merkwürdig. Ob ihn der Kollege mit jemandem verwechselt hatte? Das war jedenfalls die einzige Erklärung, die ihm spontan dazu einfiel. Obwohl: Dass er gestern einen Muffin gegessen hatte, stand fest, er hatte ja eben erst daran gedacht. Und noch etwas schien die Glaubwürdigkeit der Geschichte zu stärken: Seine Beine. Seine besenstilartigen Beine. Man wurde richtig hungrig, wenn man diese Beine ansah. Er war ein Skelett, dachte er, ein verwirrtes altes Skelett, das gedankenverloren durch die Gegend taumelte.
Hatte er gestern in einem Anfall von Heißhunger, resultierend aus tagelangem Hungerleiden, dieses Törtchen in sich hineingestopft, sich wie ein fresssüchtiges Tier darauf gestürzt, um es vor aller Augen zu verschlingen wie ein amoklaufender Verrückter? Bestialisch mampfend, rauschartig, in blinder Raserei, mit Begeisterung, wie sein Kollege sich ausgedrückt hatte? Möglich war es natürlich, aber wie kam der Gedächtnisverlust ins Spiel? Warum konnte er sich so überhaupt nicht daran erinnern? Auch dafür fiel ihm sogleich eine Erklärung ein, wenn er auch versuchte, sie schnell wieder zu vergessen. Bedrohlich dämmerte sie herauf. Leugnen half nichts: War er gestern besoffen gewesen? Aber nein, unmöglich. Wäre dem so gewesen, er hätte jetzt noch unter den üblichen Nachwirkungen zu leiden, immerhin lag das Ereignis keine 24 Stunden zurück.
“Ave, Herr Professor!”, sagte die Hand. Der Professor ergriff sie und hob den Kopf. Das Gesicht das er erblickte ließ ihn mit einem Mal all die düstere Grübelei vergessen.
“Martin! Wie schön dich zu sehen! Du hast mir heute gerade noch gefehlt!”
Martin lachte über diese scherzhafte Bemerkung und legte dem Professor die Hand auf die Schulter wie ein echter Kamerad. So unangenehm es dem Professor auch war, dass jemand seine knochige Statur befühlte, und handelte es sich auch um einen seiner innigsten Freunde, so sehr freute er sich doch über die Wärme und aufrichtige Herzensgüte, die ihm von diesem Mann entgegenströmte. Das erste Glücksgefühl seit langem begann sich wohlig warm in ihm auszubreiten wie ein heilsames Leuchten, und er ergriff die Hand des Freundes noch fester, ganz so als hätte er Angst, dieser könne ihm sonst entkommen um ihn für immer zu verlassen.
Nun hat es mit Momenten wie diesem so seine Bewandtnis. Denn das Wohlbehagen, dass sich nun in Kopf und Körper des Professors ausbreitete, und für das er dem Freund eine solche Dankbarkeit entgegenbrachte, wollte sich nicht bloß auf das reine Gefühl beschränken, sondern entfaltete seine zauberhaft erquickende Kraft mehr und mehr auch im rein rationalen Teil seines Wesens: In den an sich überaus prächtig entwickelten Windungen seines Verstandes, welcher zuvor, aufgrund der durch vorübergehende Umstände bedingten Unpässlichkeit des Professors, außerstande war, zu dessen Zufriedenheit und Würde zu funktionieren. Nun verhält es sich jedoch auch im Leben einer bewundernswerten Person wie der des Professors so, dass einmal gegebene Missstände immer weitere nach sich ziehen, und sich solcherart entstehende Ursachen in Ketten fortpflanzen, bis sich der Leidtragende schließlich gezwungen sieht (ja gezwungen sehen muss) entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Abyssus abyssum invocat: Ein Fehler ergibt den nächsten, wie schon die Römer wussten. Der auf diese Einsicht folgende Prozess der Aufarbeitung kann sich überaus langwierig und mühsam gestalten, je nachdem, wie spät und wie umfassend diese Einsicht eintritt. Im Fall des Professors erfolgte sie äußerst schlagartig. Wie in einem Akt rücksichtslosester Gewalt, und mit einer Brutalität und Härte, wie man sie nur in Vorgängen der Natur beobachten kann, klärte sich der Verstand des Professors in einem Wimpernschlag, und der Nebel, welcher sein Denken zuvor so stark getrübt hatte, verzog sich in einem einzigen, Klarheit schaffenden Aufreißen.
Frei war nun sein Blick, frei für alles, was sich ihm darbot, und was vor kurzem noch so unheilvoll und bedrohlich gewirkt hatte, da es noch kaum zu erkennen gewesen war, stand nun in vollem Schrecken vor ihm, und schrie danach, betrachtet zu werden. Und so sah er das Törtchen. Er fühlte seinen Hunger, seine Gier, seinen tierhaften Fressdrang und Blutrausch. Er spürte, wie sich seine Zähne in das weiche Törtchen gruben, wie dessen herrlicher Geschmack den unbezwingbaren Appetit der sich seiner ermächtigt hatte, noch weiter befeuerte. Und er sah ihre Blicke, vor allem und über allem, sah er ihre Blicke.
“Vor aller Augen, vor aller Augen,...”, murmelte er leise.
“Aber Professor, Sie sabbern ja! Oh nein! Um Himmels Willen, ruft einen Krankenwagen!”