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Von Verlorenem und Ungewolltem
Er hatte das tote Baby nicht angesehen und war froh darüber. Claudia – oder Cornelia; er konnte sich ihren Namen nicht merken – hing schluchzend an seiner Schulter, bis die Polizei eintraf. Die Hitze ihres Körpers widerte ihn an, aber er wollte nicht, dass sie davonlief, um ihren Freunden zu erzählen, was sie entdeckt hatte. Also streichelte er ihr halbherzig den Arm und presste die Lippen zusammen.
Das Dröhnen der Technomusik aus dem White Room drang bis zu ihnen in den Lagerraum. „Sperrt die verfickte Toilette ab“, wies Daniel vor der Tür die Sicherheitsleute an. „Sagt denen einfach, es ist ein verfickter Wasserschaden! Klo verstopft, verfickt noch mal!“
Stöhnend trat er ins Zimmer und fuhr sich durch die Haare. „Verdammte Idioten, können für keine drei verfickten Cents mitdenken!“
„Constanze! Constanze, was ist passiert?“ Eine Brünette im Minirock stakste auf High Heels hinter Daniel in den Raum. Constanze (so hieß sie also!) warf sich in die Arme der anderen Frau und gab unverständliche Laute von sich.
„Mensch, Johnny … Sowas hat uns echt gefehlt wie’n Loch im Kopf“, murmelte Daniel.
Jonathan spürte ein Pulsieren hinter seiner rechten Schläfe, während sich ihm der Magen umdrehte. „Lass’ uns mal kurz …“ Er führte Daniel nach draußen in den Flur und schloss die Tür, um Constanzes Gejammer zu dämpfen.
„Verfickte Scheiße!“, fluchte Daniel und trat mit seinen Wildlederschuhen gegen die Wand. „Das kann echt nicht wahr sein, Johnny-boy! Den Club können wir abschreiben. Was glaubst du“, er holte tief Luft, „wer hier noch herkommt, wenn die Leute erfahren, dass wir am Eröffnungsabend n’ verficktes totes Baby auf’m Klo liegen hatten?“
Der inflationäre Gebrauch (wie Jonathans Mutter es nannte) des Wortes „verfickt“ hatte ihn bei seinem Freund zuvor nie gestört, aber in diesem Zusammenhang fand er es unpassend.
Dem Polizeikommissar, der mit zwei Kollegen und einem Aufgebot der Spurensicherung ankam, erging es ähnlich. „Sie müssen so einen Wind machen? Nur weil so’n verfickter Scheißer bei uns in der Schüssel krepiert ist?“, echauffierte sich Daniel, als eine Frau in einem weißen Ganzkörperanzug die Tür zur Damentoilette mit Absperrband verklebte.
„Keiner der Gäste verlässt das Etablissement“, erklärte der Kommissar steif, „und Sie, mein Lieber, achten auf Ihre Wortwahl. Haben wir uns verstanden, Freundchen?“ Er war ein imposanter Mann mit grau meliertem Haar und Schnurbart, der Daniel um mehr als einen Kopf überragte.
Da hätte ich es mir sparen können, Cornelia ruhig zu halten, dachte Jonathan, jetzt bekommen es alle mit.
„Und wo bleibt der Rechtsmediziner?“, wandte sich der Kommissar an einen jungen Kollegen, der Jonathan wegen seiner schlitzförmigen Augen und seiner platten Nase an eine Kobra erinnerte.
Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Lubakowski hat Dienst.“
Der Alte sog scharf die Luft ein und brummte: „Der hat uns gerade noch gefehlt ...“ Zu Jonathan sagte er: „Wir kontrollieren Ihre Gäste. Und ich muss darauf bestehen, die Aufnahmen sämtlicher Überwachungskameras zu sehen.“
Jonathan schloss die Augen, weil der Anblick des Kommissars ein Brennen hinter seinen Augen hervorrief. Na, wie gewonnen so zerronnen – sein Bruder hatte ihn gewarnt: „Nur weil du feiern kannst wie ein Weltmeister, heißt das nicht, dass du weißt, wie man einen Nachtclub aufzieht. Das ist ein Geschäft. Arbeit. Und dass du daran kein Interesse hast, hast du uns ja in der Vergangenheit oft genug klargemacht.“
„Hier bin ich.“ Eine genervte Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken.
Neben der Mitarbeiterin der Spurensicherung, die am Toiletteneingang stand, war eine weitere Person aufgetaucht, eine Frau mit spitzem, blassen Gesicht und schwarzem Haar, das im Nacken zu einem Zopf gebunden war und auf der Stirn in alle Richtungen abstand. Sie schob die Ärmel einer viel zu großen, dunkelblauen Windjacke über die Handgelenke und seufzte.
„Was ist mit Lubakowksi?“, fragte der Kommissar.
Die Frau schnaubte. „Der sucht noch einen Babysitter für Jan-Hendrik und Greta-Laurena. Bis er den gefunden hat, sind die zwei volljährig.“ Sie massierte sich die Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger. „Also, dann wollen wir mal.“
Jonathan spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte und ein Gefühl von Schwere in seinen Unterleib sackte, als habe er einen Felsbrocken hinuntergeschluckt. Ihr Name hallte so laut durch seinen Kopf, dass er glaubte, ihn gerufen zu haben, aber … Sie bemerkte ihn nicht. Der junge Kommissar sagte etwas zu ihr, woraufhin sie antwortete: „Du willst gar nicht wissen, wann ich das letzte Mal geschlafen hab.“
Die Rechtsmedizinerin schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und verschwand aus seinem Blickfeld, der schlangengesichtige Kommissar folgte ihr.
„Oh Mann, jetzt ist es in deinem abgefuckten Hirn angekommen, oder?“, murmelte Daniel trocken.
„Was?“, fragte er hastig.
„Na, dass wir erledigt sind. Das war’s mit dem Laden hier. Und jetzt schauste endlich so aus, als würdest du’s kapieren!“
Ja, und, dachte Jonathan, was soll’s. Er hatte dieses Projekt nicht mit der Überzeugung begonnen, dass es ein Erfolg werden würde.
„Das ist einfach ein blöder Witz.“ Die Rechtsmedizinerin kam nach ein paar Minuten zurück und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Was ...“ Daniel starrte sie mit offenem Mund an. Jonathan hielt seinen Blick ebenfalls auf sie gerichtet, aber nicht, weil er etwas über Babyleichen hören wollte. Sie sollte ihn ansehen, ihn ansprechen, etwas sagen, um ihm zu versichern, dass er sie sich nicht einbildete. Dass sie es war. Dass er es war.
„Laufende Ermittlung“, unterbrach sie der Kommissar mit dem Kobragesicht.
„Ja, ja!“ Sie verdrehte die Augen. „Ich werd’ mich schon nicht verplappern. Aber genervt sein darf ich trotzdem. Das ist hier ein Nachtclub, oder?“, wandte sie sich an Daniel.
„Ähm ... Ja“, sagte Jonathans Freund langsam.
„Haben Sie ne Schanklizenz?“
„Natürlich.“
„Gut, ich brauch was zu trinken.“
„Sind ... Sind Sie nicht im Dienst?“, fragte Daniel – überraschend geistesgegenwärtig, wie Jonathan fand.
„Ach Quatsch!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.“
„Wir haben fünf Bars“, ergriff Jonathan das Wort, „die nächste ist in unserem Techno-Raum, gleich da hinten.“
„Na dann los!“ Sie griff nach seinem Ellbogen und führte ihn den Flur entlang.
„Hey“, rief Kobragesicht ihnen nach, aber sie ignorierte ihn.
Er war verwirrt. Sicher war das nicht der übliche Ablauf am Schauplatz eines Verbrechens. Immerhin gab es einen toten Säugling! Aber diese Frau agierte mit einer Zielstrebigkeit, die ihn komplett überrumpelte.
Die Musik im White Room war längst aus und anstatt im Halbdunkeln zu feiern, gaben die Gäste ihre Personalien bei den Polizeibeamten an. Der Raum war nie zuvor so hell erleuchtet gewesen, auch nicht, als er das Etablissement mit dem Vermieter besichtigt hatte. Es kam ihm vor wie ein anderer Ort. In einem Paralleluniversum.
„Gin Tonic. Mit Gurke, wenn welche da ist“, bestellte seine Begleitung. Der Barkeeper sah verwirrt zur Jonathan, welcher nur mit den Schultern zuckte.
„Keine Angst, das ist nicht illegal oder so“, versicherte sie, „wenn Sie mir was zu Trinken geben, kommen Sie dafür nicht ins Gefängnis.“
Das grelle Licht stach in Jonathans Augen, so dass er unentwegt blinzeln musste, während sie die Kriminalbeamten bei ihrer Arbeit beobachtete und an ihrem Drink nippte.
„Das tut gut“, durchbrach sie das Schweigen. Mit Daumen und Zeigefinger fischte sie die Gurke aus dem halbleeren Glas und biss hinein, während er die verschiedenen Möglichkeiten durchging, ein Gespräch zu beginnen: Was tust du hier? Was ist los? Was soll das?
„Du hast gehört“, ergriff sie das Wort, „ich darf nichts sagen und so ... Aber mach dir nicht all zu viele Gedanken.“
„Da liegt ein toter Säugling auf ...“
„Ach komm!“ Sie verdrehte die Augen. „Du und dein Kumpel erwecken nicht den Eindruck, als würdet ihr euch um tote Kinder scheren.“
„Was tust du hier?“
„Meine Arbeit. Na ja, technisch gesehen mach ich die Arbeit für meinen unfähigen Kollegen, aber ... Halten wir uns nicht an Details auf.“
„Du bist Gerichtsmediziner?“
„Ja. Und so ungläubig, wie du das sagst, könnte man es als Beleidigung auffassen.“
„Das war ... Tut mir leid“, sagte er hastig, „war nicht so gemeint.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Schon okay. Das ist dein Club, ja?“
„Ja, der andere Typ ... Der Blonde, das ist mein Geschäftspartner. Wir haben heute eröffnet.“
„Ich seh schon.“
„Du bist also Gerichtsmediziner“, versuchte er, das Gespräch in Gang zu halten.
„Die richtige Bezeichnung ist eigentlich Rechtsmediziner, aber: Ja. Und bevor du fragst: Nein, es ist nicht wie im Fernsehen.“
Sie wirkte fehl am Platz zwischen den Männern in Designerhemden und den Frauen in knappen, glitzernden Kleidern und mit auftoupierten Frisuren. In der übergroßen Jacke und den schwarzen Schnürschuhen sah sie aus wie ein Bauarbeiter. Mehr noch: Abgekämpft, eingefallene Wangen, bleiche Haut, tief in den Höhlen versunkene Augen ...
Sein Herz klopfte schneller. „Wo bist du gewesen?“
„Ich saß in unserem toxikologischen Labor und hab ver-“
„Ich meine: Wo warst du die letzten zwölf Jahre?“
„Ich weiß, dass du das meintest“, zischte sie, „Und es geht dich nichts an.“
„Anouk!“ Es hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, ihren Namen auszusprechen. Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war er ihm nie über die Lippen gekommen. Aus Angst. Er konnte den Klang nicht ertragen. Kurz nach ihrem Verschwinden, wenn er Freunde traf, von denen er glaubte, sie könnten etwas über ihren Verbleib wissen, hatte er sie nicht erwähnt. Weil es ihn daran erinnerte, wie wund sich das Innere seiner Brust anfühlte. Und nun?
„Anouk!“ Kobragesicht zwängte sich durch die Menge und schnaubte. „Bist du fertig?“
„Fix und fertig.“ Sie stieß sich vom Tresen ab. „Gehen wir.“
„Wir sind echt in den Schlagzeilen.“ Daniel warf das iPad auf die Couch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur was für verfickte Schlagzeilen ... Sämtliche Societyblogger und die Berliner Morgenpost machen einen Skandal. Super! Soviel zu unserem Club. Monatelange Arbeit umsonst. Fuck!“
„Es war sowieso eine Schnapsidee.“ Jonathans Bruder, August, verschränkte die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. „Wirklich, Jungs, seid froh, dass das so früh in die Binsen ging. Bevor ihr noch mehr Geld in den Sand gesetzt hättet.“
„Was geht dich das an, was wir mit unserem Geld machen?“
„Es ist nicht euer Geld. Die Hälfte davon ist das Geld meiner Familie.“
„Das klingt so, als seist du froh, dass irgend so eine Schlampe ihr verficktes Balg bei uns im Klo ersäuft hat.“ Daniel erhob die Arme und für einen Moment erwartete Jonathan, er würde auf August losgehen, aber stattdessen trat er gegen den Couchtisch – auf dem die Gläser klapperten – und stürmte mit einem „Das hab ich nicht nötig!“ aus der Wohnung.
„So viel dazu.“ August hob die Augenbrauen.
Jonathan griff nach dem Whiskeyglas, das vor ihm stand, und nahm einen Schluck. „Du bist froh, dass das passiert ist.“
August zuckte mit den Schultern. Sein Bruder war vieles, aber kein Heuchler. „In erster Linie ist es mir egal. Ich hab meine eigenen Probleme. Aber sagen wir, in zweiter Linie halte ich es nicht für den Weltuntergang.“
„Ich hab wirklich versucht, das auf die Reihe zu bekommen“, murmelte Jonathan.
August gab vor, es nicht gehört zu haben. „Was hat die Polizei gestern gesagt?“
„Noch nichts. Die haben sich die Namen aller Gäste aufgeschrieben.“
„Sonst nichts?“
„Heute ist Sonntag. Ich glaub nicht, dass da viel passiert. Auch nicht bei der Polizei.“
Sein Bruder betrachtete ihn eine Weile schweigend, bevor er fragte: „Und die Gerichtsmedizinerin?“
„Wie kommst du darauf?“ Ein Stich durchfuhr seine Nabelgegend und er umklammerte das Glas fester.
„Daniel hat mir erzählt, dass das eine sehr ... eigentümliche Person gewesen sein muss. Und du dich kurz mit ihr unterhalten hast, ohne ihm zu sagen, worum’s ging.“
„Sie ist eine ... Ich kannte sie mal.“
„Seit wann gehören Akademikerinnen zu deinem Bekanntenkreis? Oder war sie mal Pornostar?“, fügte er lachend hinzu.
„Ha ha“, erwiderte Jonathan trocken. „Ich hab sie kennengelernt, als ich bei Tante Ann in Cannes gewohnt hab.“
„Schulfreundin?“
Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Tatsachen zu sortieren, um sie für seinen Bruder nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig so darzustellen, dass August der Wahrheit nicht auf die Schliche kam. „Tante Anns Schwager, Marc, hatte doch dieses Lifestyle-Magazin. Er hat öfter Partys gefeiert bei sich und alle möglichen Leute eingeladen. Da waren immer Mädchen dabei, die Schauspielerin und Model und so was werden wollten.“
„Du meinst, auf diesen Partys konnten diese Mädchen Leute kennenlernen.“ August sprach das letzte Worte bedächtig aus. „So eine war das also?“
„Sie war wirklich hübsch. Niedlich. Sechzehn oder so. Aber ein bisschen merkwürdig. Ich hab mich manchmal mit ihr unterhalten. Irgendwann kam sie nicht mehr.“
„War wahrscheinlich besser. Ich kann mir vorstellen, was das für Partys waren.“
Er hielt es für weiser, nichts zu sagen, sondern das Thema zu wechseln. „Was meinst du? Können wir unseren Club abschreiben?“
„Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Wart einfach ab. Wie sagt man so schön? Es gibt keine schlechte Publicity. Und selbst wenn ... Es ist ja nicht so, dass du hungern musst, wenn du mal wieder keine Beschäftigung hast.“
Jonathan versuchte, nicht gekränkt zu sein. Natürlich nicht – das Geld, das er investiert hatte, war ein keliner Bruchteil seines Treuhandvermögens gewesen. Trotzdem ... Es ging ihm nicht um finanziellen Erfolg. Er hatte gehofft, etwas zu haben. Wie August, der sich im Vorstand seiner Marketing-Firma austobte.
„Hast du überhaupt Lust, noch weiterzumachen?“, fuhr August fort.
„Wie meinst du das?“
„Ohne dich beleidigen zu wollen, aber normalerweise ziehst du dich aus der Affäre, wenn es nicht so läuft, wie du es gerne hättest.“ Er machte eine Pause und nahm einen Schluck seines Drinks. „Was nicht die schlechteste Taktik ist.“
Als sein Bruder gegangen war, goss er sich einen zweiten Whiskey ein und begann, nach ihr im Internet zu suchen. Ihr Foto mit Namen – Dreyfus, Dr. Anouk – war auf der Webseite der Berliner Rechtsmedizin. Besuchte Universitäten, Dissertation magna cum laude, Forschungsschwerpunkt, Vorträge, die sie in Trontheim, Barcelona, Tokyo gehalten hatte ... Damit konnte er nichts anfangen.
Die Berliner Rechtsmedizin war in einem uncharmanten Sechzigerjahr-Bau in Moabit untergebracht. Hier wurden also Leichen aufgeschnitten und Morde aufgeklärt? Für eine Fernsehserie hätte sich die Kulisse dieses stumpfsinnigen Gebäudes nicht geeignet. „Es ist nicht wie im Fernsehen“, hatte sie gesagt.
Im Eingangsbereich waren Tafeln und Schilder. Büro Professor soundso, geschäftsführender Oberarzt 2. Stock, Genlabor ...
„Kann ich Ihnen helfen?“, rief ein Mann im blauen Kittel ihm zu, der mit einem Karton im Arm aus dem Aufzug getreten war.
„Ich ... Ich suche A ... Frau ... Dr. Dreyfus“, brachte er heraus.
„Worum geht’s denn?“ Der Mann stellte den Karton auf dem Boden ab und zog ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor, um sich zu schnäuzen.
Das ist privat, wollte er erwidern, aber würde er dann zu ihr gelassen werden? Unterlag dieser Ort einer Art Geheimhaltungsklausel, so dass nur Menschen ihn betreten durften, die von den Bundesbehörden überprüft worden waren?
„Sind Sie der Vertreter von Bioplex? Sie wartet schon auf Sie, glaube ich.“
„Ähm ... Ja“, antwortete er hastig.
„Moment, ich funk sie an.“ Sein Gesprächspartner holte ein Buch aus seiner Tasche und ging hinüber zu einem Telefon an der Wand, in das er eine Nummer eintippte. Das Telefon klingelte gleich darauf und er nahm ab. „Ja, hier Mattes. Der Vertreter von Bioplex ist da. Soll ich ihn zu dir ins Labor schicken? Okay, ich sag’s ihm. Bis später.“ Er legte auf. „Sie kommt gleich zu Ihnen. Einen schönen Tag noch.“
„Ja, danke. Ihnen auch.“
Sie sah frischer aus. Ihre Haare waren gewaschen und die Ringe unter ihren Augen beinahe nicht mehr zu sehen. Anstatt der Bauarbeitersachen trug sie blaue Krankenhauskleidung und einen weißen Kittel. Sie wirkte fröhlich, als sie aus dem Treppenhaus trat – als wolle sie lieber hüpfen anstatt zu gehen. Doch als sie ihn erblicke, blieb sie stehen und zog eine Grimasse.
„Ich schätze mal, du hast keine Immunassays für mich dabei.“
„Ähm ... Nein.“
Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Spinnst du? Du kannst dich nicht als irgendjemand ausgeben und mich rufen lassen!“
„Ich wollte mit dir reden.“
„Ich muss arbeiten.“ Sie deutete zur Tür, durch die sie eben gekommen war. „Ich habe einen Toten zu identifizieren, von dem ich nur einen tätowierten Torso hab. Und wenn ich den nicht in der nächsten halben Stunde durch’s CT schiebe ...“ Sie unterbrach sich selbst und winkte ab. „Vergiss es, das geht dich sowieso nichts an.“
Vor allem ist es abartig, dachte er bei sich. „Hör zu“, er trat auf sie zu, so dass er direkt vor ihr stand. „Ich ... Ich würde einfach gerne mit dir reden. Tut mir leid, wenn’s der falsche Zeitpunkt ist, aber seit Samstagnacht kann ich an nichts anderes mehr denken.“
„Okay, klar ...“ Sie fuhr sich durch die Haare. „Sorry, ich ... Ich bin nur ein bisschen überspannt. Der Torso.“
„Ja ...“
„Kennst du den McDonald’s am Zoo? Heute Abend um acht?“
„Klar.“
Sie kam zehn Minuten zu spät. Als sie ihm gegenüber saß, hätte er gerne eine geistreiche Bemerkung über den Torso gemacht, um an ihr Zusammentreffen am Morgen anzuknüpfen – um zu zeigen, dass es sich für sie interessierte – und das Eis zu brechen. Aber wenn sie ihm tatsächlich mehr darüber erzählt hätte, wäre ihm schlecht geworden, also beschloss er, ehrlich zu sein: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Eigentlich musst du nichts sagen. Immerhin hab ich dich herbestellt.“
„Ja.“
„Und eigentlich darf ich dir das nicht erzählen, aber ... Na ja, ich will nicht, dass du ein schlechtes Gewissen hast oder so. Deshalb wollt ich dir sagen, dass du dir wegen dieses toten Säuglings keine Sorgen machen musst.“
„Wie ... Wie meinst du das?“ Er hatte gar nicht mehr daran gedacht. Eher war er in der Erwartung gekommen, dass sie über sich reden würden.
Sie fuhr sich kopfschüttelnd durch die Haare. „Da hat euch jemanden einen schlechten Streich gespielt. Der Säugling, der da lag, war ein Plastinat. Ganz ehrlich: Es hat da drin so nach Formaldehyd gerochen, dass es mich wundert, dass es euch nicht selbst aufgefallen ist.“
„Wie ... Plastinat? Ein Gummibaby oder was?“
„Nein. Im Prinzip ein echtes Baby. Aber eine missgebildete Totgeburt, die man zu Ausstellungszwecken in Formaldehyd eingelegt hat. So um 1890. Jemand hat die vor zwei Wochen aus dem Fundus der Charité geklaut. Ist dir nicht aufgefallen, dass der Säugling nur drei Finger an jeder Hand und keine Zehen hatte?“
Die Eingeweide in seinem Bauch zogen sich zusammen als er versuchte, sich das vorzustellen. „Ich wollt’s mir nicht ansehen“
„Achso. Ja, klar ... Versteh ich“, fügte sie so zögerlich hinzu, dass er den Eindruck hatte, sie könne es nicht nachvollziehen.
„Du warst schon immer komisch.“ Er lachte. „Aber das mochte ich so an dir. Du warst ... Du hast nie vor was die Augen verschlossen.“
„Bist du nicht erleichtert?“
„Dass du noch immer du bist?“ Sein Herzschlag wurde wieder schneller und er streckte die Hand nach ihr aus. „Klar.“
„Nein!“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Dass da niemand sein Kind umgebracht hat.“
„Wie?“
„Ich fass es nicht.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Du hast die ganze Zeit geglaubt, dass da ein totes Neugeborenes lag und es hat dich kein bisschen gejuckt? Ich hab ja gemerkt, dass es deinem dämlichen Kumpel herzlich egal war ... Aber dass der ein Arschloch ist, merkt man wenigstens nach drei Sekunden.“
„Mach mal halblang“, sagte er – um Zeit zu schinden. Sie hatte Recht, gab er bei sich zu, er hatte nicht viel wegen dieses toten Babys empfunden. Doch ihm eine Szene zu machen war ungerecht! „Du bist damals einfach verschwunden oh-“
„Darum geht’s doch jetzt gar nicht.“ Sie warf die Arme in die Luft. „Obwohl, doch: Ich bin weg, weil ich genau das nicht mehr ausgehalten hab. Ihr seid alle verwöhnte, selbstgerechte Langweiler, die keinen Funken Menschlichkeit oder Empathie besitzen. Mon dieu!“ Stöhnend bog sie ihren Oberkörper nach hinten über die Stuhllehne und sah zur Decke.
„Ist ja schön, dass du so viel besser bist“, murmelte er. Inzwischen war das Pärchen, das am Tisch hinter ihnen saß, auf sie aufmerksam geworden und hatte das Gespräch eingestellt. Auch ein paar andere Gäste sahen regelmäßig verstohlen zu ihnen. „Lass uns wohin gegen, wo wir ungestört sind“, schlug er vor.
„Vergessen wir’s einfach.“ Sie stand auf, griff ihre Lederjacke, die sie über den Stuhl gehängt hatte, und schritt nach draußen.
Er folgte ihr. Auf dem Platz zwischen Restaurant und Bahnhofsgebäude holte er sie ein und hielt sie am Arm zurück. Sie sah zu ihm auf aus großen, grauen Augen. Wie damals: Andere Mädchen wurden zickig und anstrengend, wenn etwas nicht stimmte. Sie wurde ruhig und betrachtete die Welt um sich herum schweigend, so dass er stets den Eindruck gehabt hatte, sie besitze eine Weisheit, die den lauten, quengelnden Menschen, die er sonst kannte, nie zu eigen sein würde. Oder ihm.
Die Hand, mit der er ihren Arm umklammerte, begann zu zittern. Es war an ihm, etwas zu sagen. Aber sein Kopf war leer. Da waren keine Worte.
„Was willst du?“, fragte sie leise.
„Was ist passiert?“
Das Quaken einer Ente ertönte, gerade als sie den Mund öffnete. Er machte einen halben Schritt zurück und ließ sie los, als sie in die Tasche ihrer Jacke griff und ihr Handy herausholte. „Ja?“ Ihre Gesichtszüge entspannten sich, während die Person am anderen Ende der Leitung sprach. „Nein, ist nicht schlimm, ich bin noch unterwegs. Am Zoo. Wenn ich mich jetzt auf den Weg mache, bin ich sowieso erst in ner Stunde bei dir.“ Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Gut, bis dann. Ich dich auch.“
Er atmete tief ein. „Dein Freund?“
„Ich muss wirklich gehen. Aber ...“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Ja?“
„Mach’s gut. Das mein ich ernst.“ Sie umarmte ihn kurz – so flüchtig und überraschend, dass er die Geste nicht erwidern konnte – und eilte zum Eingang des Bahnhofs.
Diese Mädchen. Da waren immer diese Mädchen. Groß und schlank. Dürr, wenn er genauer darüber nachdachte. In Frankreich mochte man diese Art Frauen am meisten. In den Modemagazinen.
„Hier hast du die Chance, die nächste Giselle Bündchen zu vögeln“, sagte Marc. Er und seine Geschäftspartner, die sich auf seinen Partys herumtrieben, schienen ihre Mädchen umso jünger zu mögen, je älter sie selbst waren.
Die jungen Damen waren nicht willig – sie waren emsig, strebsam. „Es gibt nichts, was die nicht machen“, sagte Marc. Einer seiner millionenschweren Investoren liebte nichts mehr, als im Whirlpool einen Blowjob zu genießen. In der einen Hand hielt er ein Glas mit Bourbon, mit der anderen drückte er den Kopf seiner Partnerin unter Wasser, wenn ihm etwas nicht passte. Er ließ sich die Freude daran auch nicht nehmen, nachdem es dabei zu einem Todesfall kam. Es wurde zum Unfall erklärt – Alkohol und Drogen im Blut gehabt, die Arme, tragisch gestürzt und ertrunken – und in der folgenden Woche taten alle so, als sei nie etwas passiert.
Anouk war weniger verbissen. Manchmal verschwand sie in letzter Sekunde. Verschreckt vor dem, was sie diesem Mittvierziger gerade versprochen hatte zu tun. Verschreckt vor ihrem eigenen Mut. Oder ihrer eigenen Verzweiflung.
Er hatte das ein paar Mal beobachtet, bevor er sie ansprach. Ohne Absichten. Mit neunzehn übten Sechzehnjährige nicht denselben drängenden Reiz auf ihn aus wie auf Marc und seine Freunde. Im Gegenteil. Marc zog ihn einmal auf: „Hast dir das Beste ausgesucht, Johnny-boy. Wirkt nicht mal wie sechzehn. Hab ich schon als Zwölf- oder Dreizehnjährige verkauft, die Kleine. Kaum Titten, keine Hüften und nichts. Und trotzdem legal. Manche stehen da echt drauf, das glaubst du nicht.“ Danach schämte sich Jonathan wochenlang für sich selbst und gab sich alle Mühe, nicht mit ihr zu schlafen.
„Findest du mich abstoßend oder so?“, wollte sie von ihm wissen, als es ihr auffiel. Sie klang nicht beleidigt oder gehässig, sondern ernsthaft neugierig. Nackt und bäuchlings lag sie auf dem Bett und ließ einen Fuß in der Luft kreisen, während sie das Kinn auf die Ellbogen stützte und ihn eingehend betrachtete. Sie hatten sich in einem der Gästezimmer in Marcs Villa verschanzt, während die anderen draußen am Pool die Erwachsenenversion von „Blinde Kuh“ spielten. Er konnte Gröhlen und Lachen hören.
„Nein, ach Quatsch“, wehrte er ab.
Im selben Tonfall wie zuvor bohrte sie weiter: „Bist du impotent?“
„Nein.“ Und um keinen falschen Eindruck zu erwecken, sagte er ihr die Wahrheit. Danach vergrub sie kichernd ihr Gesicht in einem Kopfkissen.
„Was ist denn daran so lustig?“ Er setzte sich auf die Bettkante.
„Ich find’s nicht lustig. Ich freu mich“, erklärte sie ihm. Ihr Gesicht strahlte – schien zu leuchten, als sie ihn ansah.
„Weil ich Angst hab, pädophil zu sein?“
„Nein.“ Immer noch lächelnd zog sie die Stirn kraus. Die anderen Mädchen taten das nie, sie hatten Angst vor Falten. „ Weil du dir über sowas Gedanken machst. Nicht wie die ganzen anderen Kerle.“ Mit bedächtigen Bewegungen rutschte sie neben ihn.
Er schloss die Augen, als er sie auf die Stirn küsste. So hatte er noch nie jemanden geküsst.
Er betrank sich, als er zurück in seiner Wohnung war, und rief Daniel an. „Kannst du was vorbeibringen, das mich ein bisschen aufputscht?“
„Ich hab nichts da“, sagte sein Freund.
„Lüg nicht, du hast immer was da.“
Daniel kam mit einer Schachtel Tabletten. „Diazepam. Nimmt meine Mutter, wenn sie nicht schlafen kann. Dachte, das kannst du eher brauchen. Klangst verfickt aufgedreht am Telefon.“
„Ich hab gesagt, ich brauch was Aufputschendes!“ Stöhnend warf er sich auf die Couch. „Warum versteht mich denn keiner?“
„Wer versteht dich nicht?“ Langsam ließ sich Daniel in einen Sessel gleiten und lehnte sich nach vorn mit einem amüsierten Lächeln. „Was ist passiert, großer Meister? Eine verfickte Schlampe spielt wieder Spielchen mit dir?“
Die Geschichte sprudelte aus ihm heraus. An manchen Stellen zusammenhanglos, Daniel musste so oft nachfragen, dass Jonathan genervt aufhörte zu erzählen und erst nach einigen Minuten weitermachte.
„Diese Gerichtsärztin war mal Model? Echt? Das kann nicht sein!“ Diese Tatsache schien seinen Freund am meisten zu erheitern. „Aber die hat eben einen an der Waffel. Ehrlich, hab ich als erstes gedacht, so wie die sich aufgeführt hat. Total durchgeknallt. Aber wenn man den ganzen Tag nur an verfickten Leichen rumschneidet, wird man wahrscheinlich so. Oder ist es vorher schon.“
„Darum geht’s nicht!“
„Stehst du noch auf sie?“
„Darum geht’s auch nicht.“
„Worum denn dann? Verfickt noch mal, ich versteh dein Problem nicht!“
Jonathan schloss die Augen und legte den Arm auf die Stirn. Er lag auf der Couch, alles drehte sich und er erinnerte sich vage daran, die Tabletten von Daniels Mutter doch genommen zu haben. Seine Augenlider waren schwer, aber er fühlte sich trotzdem nicht so, als könne er einschlafen, obwohl er ebenso wenig die Kraft hatte aufzustehen.
„Sie hält dich für ein Arschloch, ist es das? Stört dich das?“ Daniels Stimme klang weit entfernt und dröhnte in seinen Ohren.
„Weiß nicht.“
„Willst du noch was von ihr?“
„Weiß nicht. Aber wenn sie jetzt hier wäre, würd ich sie vögeln. Und ich würd sie auf die Stirn küssen.“
„Was? Was hast du gesagt?“ Sein Freund klang wie jemand am anderen Ende einer schlechten Telefonleitung.
„Ich würd sie vögeln wollen. Und auf die Stirn küssen.“
„Mensch, ich versteh kein Wort so verfickt wie du nuschelst!“
Den Dienstag verbrachte er mit den Vorbereitungen für eine Casinonacht in seinem Büro im Club. Alles kam ihm verlangsamt vor. Die Gedanken entstanden zäh in seinem Kopf – und noch zäher war es, sie über die Lippen zu bringen. Nach dem zweiten Telefonat beschloss er, es aufzugeben. Liegt an den Pillen von Daniel, entschied er, sind die Nachwirkungen der Pillen. Um zwei Uhr hatte sich die innere Betäubung auf ein Ausmaß zurückgebildet, bei dem ihm das Denken wieder leicht fiel und das Fühlen noch taub genug war, um Anouk ein weiteres Mal gegenüber zu treten. Um vernünftig mit ihr zu reden. Er rief sich ein Taxi und fuhr zu ihrem Arbeitsplatz nach Moabit, wo er der Chefsekretärin vorlog, er habe einen Termin.
„Um was geht es?“, wollte die Frau wissen. Sie hatte ein auffallend schmales Gesicht und trug eine dicke Brille, durch die ihre Augen riesig erschienen und sie ihn an eine Heuschrecke erinnerte.
„Den Torso“, war das erste, das ihm einfiel.
„Der .... Torso?“
„Ich bin ...“ Wie hieß das gleich? „Anthropologe. Sie hat mich gebeten, ihr zu helfen.“
„Gehören Sie zur Forschungsgruppe von Dr. Gerhard?“
Er öffnete den Mund, um „Ja“ zu sagen, aber plötzlich kam ihm die Idee, das könne eine Fangfrage sein. Oder weiteres Nachhaken vonseiten der Sekretärin nach sich ziehen. Deshalb änderte er seine Antwort: „Ich bin freiberuflich tätig.“
„Aha.“ Sie rückte ihre Brille zurecht und nahm das Telefon zur Hand. „Herr Frantz? Ist Anouk bei Ihnen? Hier ist ein junger Mann, der meint, er habe einen Termin mit ihr.“
Er wartete fast eine Stunde auf dem Flur. Sie grüßte ihn mit den Worten: „Du bist ja immer noch da.“
„Dachtest du, ich geh, wenn du mich lange genug warten lässt?“
„Ich konnte nicht früher“, sie senkte ihre Stimme, „ich hab viel zu tun, falls ich das noch nicht erwähnt hab.“
„Doch, tust du eigentlich ständig.“
Sie packte ihn am Ellbogen und führte ihn ins Treppenhaus.
„Wir gehen nicht in den Leichenkeller, oder?“, fragte er zögerlich.
„Bist du ein Mann oder eine Maus?“
Zu seiner großen Erleichterung brachte sie ihn in ein schummrig erleuchtetes Büro. Papiere und Bücher stapelten sich auf drei Schreibtischen und auf dem Boden, es roch nach einer Mischung aus Kaffee und alten Möbeln. Er nahm auf einem kratzigen, grünen Sessel Platz, während sie sich gegen einen der Tische lehnte.
„Was willst du eigentlich von mir?“, fragte sie.
„Mit dir reden.“ Die Wirkung der Tabletten war abgeklungen, stellte er fest. Er war nicht länger ruhig – er war wütend. Seine Hände zitterten, sein Magen fühlte sich flau an.
„Warum?“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
„Weil du vor zwölf Jahren sang- und klanglos verschwunden bist!“
„Echt jetzt?“ Sie senkte die Hände und sah ihn an, als habe er ihr etwas Unglaubliches erzählt.
„Ja, denn stell dir vor: Du hast mir was bedeutet.“ Tust es immer noch, aus irgendeinem Grund, fügte er bei sich hinzu. Zumindest hatte er das gedacht. Aber je länger er sich mir ihr unterhielt, umso mehr musste er feststellen, dass er sie nicht wiedererkannte. Gar nicht kannte.
Sie winkte ab. „Nein, das meinte ich nicht. Sondern: Du hast echt keine Ahnung? Oder hast du dir alle Hirnzellen weggekifft?“
„Hä?“
„Die letzte Nacht, in der wir uns gesehen haben?“
„Ja?“
„Die Nacht, in der Aimé starb?“
Aimé ... Er konnte sich an einen Todesfall erinnern, aber ob das Mädchen so hieß? „Die, die ertrunken ist?“
„Ja! Halleluja, er erinnert sich!“
„Kein Grund, so patzig zu werden.“
„Ich hab bis vor fünf Minuten meine Hände in nem toten Achtjährigen gehabt und jetzt stalkst du mir hinterher, weil wir vor zwölf Jahren mal Sex hatten? Ich hab allen Grund patzig zu sein!“
„Gut, ich hab’s verstanden, du bist so toll und so wichtig und rettest die Welt. Und ich geh dir nur auf die Nerven.“ Er stand auf. War sie früher so eine arrogante Ziege gewesen?
„Ich mach zumindest was. Was hast du zustande gebracht außer Drogenexzessen?“
Ein paar Sekunden blieb er stehen, die Hand nach der Türklinke ausgestreckt, und überlegte, was er antworten sollte. Nichts, beschloss er – er hatte genug! Von ihr, von sich, von allem. Es war ein Fehler gewesen herzukommen. Die Tabletten waren Schuld.
„Warum bist du hergekommen?“, rief sie ihm nach und klang zum ersten Mal weder gehässig noch entnervt, sondern neugierig. Wie an dem Abend, als sie wissen wollte, warum er nicht versuchte, mit ihr zu schlafen.
„Hm?“ Er drehte sich um.
„Ich meine“, sie holte Luft und zuckte mit den Schultern, während sie die Augen nach oben drehte. „Ich meine, du kommst her und ... Na ja ... Ich versteh’s nicht. Ist dir das so wichtig?“
Er schwieg.
„Okay, ich hab’s verstanden“, fuhr sie fort, „ich war weg, du ... warst in deinem Stolz verletzt oder was auch immer.“
„Nein“, widersprach er, „ich hab mir Sorgen gemacht.“
Sie nickte. „Tut mir leid. Wirklich.“
Er trat einen Schritt auf sie zu und schloss die Tür hinter sich.
„Dieses Ekel hat ein Mädchen ertränkt, einfach nur, damit er mal abspritzen konnte“, begann sie zu erklären, „Sie war meine Freundin! Sie hat nicht mehr geatmet, als er sie aus dem Wasser gezogen hat. Und keiner hat was gemacht. Die wollten nicht mal den Notarzt rufen. Ich bin zum Telefon und jemand hat’s mit aus der Hand geschlagen. Ich war ... Oh Mann“, sie rieb sich die Augen mit den Fäusten, danach war ihr Mascara verschmiert, „ich war selber total high, aber ... Wir haben sie alle mit umgebracht. Ist dir das klar?“
„Du übertreibst. Überhaupt ... Deshalb tust du jetzt das alles hier um Abbitte zu leisen“, stellte er fest.
Schweigend blickte sie ihm in die Augen und schüttelte langsam den Kopf. „Du bist echt ein eiskalter Wichser. Und ein toller Küchenpsychologe.“
„Ich gehe jetzt.“
„Ich bin erwachsen geworden“, rief sie ihm nach, „im Gegensatz zu dir!“
Diese eine Nacht also – eine Nacht, an die er sich nicht erinnern konnte. In der ein Mädchen starb, an das er sich nicht erinnern konnte. Und deshalb verließ Anouk ihn, ohne ein Wort zu sagen?
Na gut, dachte er, ist eben so. Er lief die Straße entlang zur U-Bahn-Haltestellte. Ihm war nicht danach, alleine in einem Taxi zu sitzen. Er hatte die Antwort auf eine Frage erhalten, die ihn seit zwölf Jahren quälte, und trotzdem blieb er unzufrieden. „Das Leben ist doch beschissen“, murmelte er vor sich hin.
In seinem Apartment begann er sich zu betrinken. Nach dem dritten Whiskey kam er zu dem Entschluss, dass Anouk ein Problem hatte. Er war nicht erwachsen geworden, ja? Besser, als ewig Leichen aufzuschneiden, nur weil in der Vergangenheit jemand gestorben war und man sich schuldig fühlte.
Er trat vor den beleuchteten Spiegel in seinem Schlafzimmer und prostete sich zu. „Küchenpsychologie also? Ich hab doch recht!“ Stöhnend ließ er sich auf sein Bett fallen und warf das leere Glas auf den Teppich. Ein Tapetenwechsel, schoss es ihm durch den Kopf, das würde ihm gut tun. Vielleicht die Malediven?