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Von Tränen, Trauer und Neuanfang
Die Junisonne spielte traurig, mit dem bunt blühendem Kirschbaum vor der Terrasse. Durch die glasigen Augen wirkten sie verschwommen, surreal, wie aus einer anderen Welt. Gestern noch bot dieser Baum einen wunderschönen Anblick, mit seinen tief grünen Blättern und den rosafarbenen Blüten. Ich konnte ihn mir nicht anschauen, diesen Baum, unter dem wir im Sommer gegrillt haben. In dem Sommer, wo alles noch so war, wie es sein sollte.
Diesen Baum, unter dem wir gequatscht und gespielt haben.
Diesen Baum, dessen Kirschen wir oft gemeinsam gegessen haben.
Wir haben Besuch bekommen und tranken auf der Terrasse Wasser. Auf der Terrasse, die früher ein Ort der Freude und Gemeinschaft war. In diesem Moment gab es keine Gemeinschaft. Es gab Menschen, die dort Wasser tranken und sich was erzählten, aber es war keine Gemeinschaft. Jeder war für Sich, mit den glasigen Augen und dem tiefschwarzen Schleier. Jeder musste für Sich die Schatten des Kirschbaumes deuten und jeder musste für Sich den unerwarteten Wendepunkt reflektieren.
Man sprach über vergangene Zeiten, über Erlebnisse und über Momente die man noch vor Augen hatte. Momente, in denen er noch bei uns war.
Ich fühlte mich schwach und hilflos, kam mir vor wie in einem schlechten Film, mit schlechten Dialogen und schlechten Schauspielern.
Schnitt ... Alles noch mal auf Anfang, wir beginnen bei der Szene, wo alles noch in Ordnung war.
Ich stand auf. Konnte das Mitleid nicht ertragen. Das Mitleid meiner Tante und meiner Cousine, die sich sonst auch nicht für mich interessierten.
Schweigend ging ich zum Teich und der zweiten, neu gestalteten, Terrasse. Er wollte sie so lange schon umbauen und nach wochenlanger Planung, war das Wochenende gekommen, wo sie realisiert wurde. Freitag bauen, Samstag bauen, Sonntag bauen, den Abend noch bei einer Flasche Bier ausklingen lassen und die Holzdielen unter den Füßen spüren, bevor der Alltag wieder beginnt. Der Alltag, der am Montag um 11.30 Uhr, am Ende eines Staus, ein abruptes Ende fand.
Ich saß am Teich, beobachtete die Fische und atmete, ruhig, tief und gleichmäßig, um nicht gleich wieder in Tränen aus zu brechen.
Die Fische erfreuten sich an den Sonnenstrahlen und dem Sprudeln des Wassers, welches aus den kleinen Bachläufen in ihr Becken plätscherte. Für sie ist alles wie immer. Ich hockte an der Stelle, an der ich immer war, wenn ich zu ihnen komme. Wohl wissend, dass dies ihre Futterstelle ist, kamen sie, aus den entlegensten Winkeln des Teiches, zu mir und strecken neugierig ihre Mäuler aus dem Wasser. Ich streichelte sie und ließ sie an meinem Finger nukkeln. Sie kannten mich und vertrauten mir und ganz besonders der, dessen Anblick mir jetzt das Herz zerspringen ließ. Blue, ein stattliches Koimännchen von ca. 35cm Länge und schon 16 Jahre bei uns. Er war immer Papas Liebling. Mit seinen großen Schuppen, die in allen erdenklichen Blautönen schillerten, war er auch einfach ein Bild von einem Fisch.
Da war er wieder, dieser Kloß, der das Atmen verhindert und dafür sorgte, dass ich die spiegelnde Wasseroberfläche durch einen Schleier aus Tränen betrachtete.
Ich bekam Gesellschaft. Wollte keine Gesellschaft. Wollte alleine hier am Teich sitzen, der jetzt unter meiner Obhut lag. Ein Erbe, was ich so früh noch gar nicht antreten wollte. Der Kloß in meinem Hals war zurück. Dieses drückende Gefühl von hervor quellenden Tränen. Das Schlucken viel mir schwer und ich wurde daran gehindert, die Worte, die mir durch den Kopf gingen, laut aus zu sprechen. Also ließ ich es geschehen. Ließ zu, dass ich gegen meinen Willen Gesellschaft erhielt. Ich wurde in den Arm genommen und merkte, wie der Kloß sich in einem tiefen Schluchzen, gefolgt von einem Meer aus Tränen, seinen Weg aus mir heraus bahnte. Mein Bruder bat mich wieder mit hoch zu kommen. Hoch auf die Terrasse vor dem Kirschbaum. Da wo die Menschen Wasser tranken, die ich nicht sehen wollte. Die Menschen, die mich in den Arm nahmen und mir immer wieder beteuerten, wie schrecklich das alles war. Wie schlimm das für mich sein muss, meinen Vater, so plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung, verloren zu haben.
Der Tag zog sich so weiter, wie ein schlecht produzierter Film, mit schlechten Dialogen und schlechten Charakteren. Menschen, die in der warmen Junisonne Wasser, auf der Terrasse, tranken und mir immer und immer wieder sagte, wie schlimm das alles sein. Als wüsste ich das nicht selber, und jedes Mal, wenn ich meine Gefühle fast geschafft hatte, unter Kontrolle zu bringen, löste die kleinste Berührung oder das kleinste Wort, welches an mich gerichtet wurde, ein Schwall aus Tränen aus.
Ich ging ins Bett. Schlafen ist das, was ich immer schon konnte. Erschöpft sank ich auf mein Kissen. Am nächsten Morgen kam die ernüchternde Feststellung, dass es kein böser Albtraum war. Bei genauerem Nachdenken stellte ich fest, dass ich einfach nichts geträumt hatte. Die Albträume sollten erst Monate später anfangen und mich immer und immer wieder an diesen schrecklichen Tag erinnern, an dem mein Vater, durch einen dummen Unfall auf der A2 ,sein Leben verloren hatte. Ich stand auf und fuhr zur Schule. Prüfungstag. Meine Mutter und mein Bruder hielten mich, deswegen, für bescheuert aber ich hatte viel gelernt und wollte es, zumindest einmal, versuchen. Außerdem musste ich ja eh noch Bescheid sagen, dass ich einige Zeit nicht kommen werde und abklären, dass die Durchführung unseres anstehenden Referates sich eventuell verschieben könnte. Wieder Mitleid. Wieder der Kloß im Hals. Ein einfaches alles klar melde dich, wenn du was brauchst, wäre an dieser Stelle auch zu viel des Guten, schließlich waren es nur Kameraden, keine Freunde.
Schweigend fuhr ich nach Hause. Das eine Lied immer und immer wieder hörend und die Straße unwillkürlich durch ein Schleier sehend.
Ich rauchte eine. Brachte meine Gedanken wieder in die richtige Richtung.
Zuhause, dass selbe Bild wie gestern, nur andere Menschen. Menschen, die ich nicht mal kannte oder vergessen habe, dass ich sie kannte, weil es sie die letzten zehn Jahre auch nicht interessiert hatte, was wir machen.
Anstand, ermahnte ich mich. Benehmen und Anstand, so wie es die Gesellschaft verlangte. Die Gesellschaft, die sich so gar nicht darum kümmerte, was ich wollte und was mir wichtig war. Ich musste mich anpassen um nicht negativ aufzufallen, also nahm ich mir ein Glas Wasser und setzte mich dazu. Bereitwillig beantwortete ich die Fragen, dass die Prüfung gut gelaufen war und das ich in der Schule Bescheid gesagt hab, dass ich erst mal nicht komme.
Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Fernseher an - Gedanken aus. Sich einfach berieseln lassen.
Wieder stand mein Bruder in der Tür. Wollte gucken, wie es mir geht. Wie soll es mir wohl gehen, wenn die letzten Worte, die ich meinem Vater sagte: "Dein Mercedesstern ist kaputt", waren.
Ich flüchtete. Raus aus diesem Haus, wo mich die Anforderungen zwangen, mich so zu verhalten, wie ich es nicht möchte. Raus, um so zu sein, wie ich es für mich, in dem Moment, für richtig hielt. Allein und ohne Kloß, der mir das Atmen schwer machte. Ohne Tränen, die mir die Sicht nahmen und ohne Menschen, die ich nicht sehen wollte.
Der Bestatter kündigte sich an, es wurde über Sprüche und Bilder für die Todesanzeige diskutiert. Über Text und Darstellungen. Ich hatte keine Meinung. Nickte nur zustimmend. Hörte nur Summen und Geräusche, die wie Worte klangen. Er riet von einer Verabschiedung, am offenen Sarg, ab. Der Unfall war schlimm und wir sollten ihn besser so in Erinnerung behalten, wie wir ihn kannten. Mein Bruder wirkte nüchtern, konzentriert und abgeklärt.
Im Bestattungsinstitut war er aufgebahrt, der Sarg geschlossen und unweigerlich verspürte ich den Dran, ihn zu öffnen, um nach zu schauen, ob es nicht doch ein Irrtum war. Meine Füße verloren den Boden. Alles wurde auf einmal so real, als wir auf diesen Sarg starrten.
Der Moment des endgültigen Abschieds war gekommen. Schwarz und Grau dominierte die alten Bänke der Kirche. Rotz und Wasser konnte man förmlich spüren. Das Atmen fiel schwer.
Mir war kalt. Im Juni. Ich zitterte und kämpfte mit der Atmung und dem Wasser in den Augen.
Minuten wurden zu Stunden und immer wieder der selbe Kampf, nicht die Kontrolle zu verlieren, nicht wieder die Aufmerksamkeit durch dummes egoistisches Verhalten auf sich zu ziehen. Ich war hier nicht der Ehrengast, der befand sich ganz vorne im Mittelgang, in einer schlichten schwarzen Urne, mit goldenen Elementen, auf einem kleinen Tischchen drapiert, umringt von einem Meer aus Blumen und Gestecken.
Die Leute verließen die Kirche, wir ganz vorne, nach dem Ehrengast natürlich. Der durfte den Weg, bis zu seinem neuen und letzten Wohnsitz fahren, begleitet von seinen Brüdern und den besten Freunden. Mein Bruder stütze mich. Das Laufen viel mir schwer, jetzt genoss ich die Gesellschaft von ihm, die Geborgenheit und den Schutz, den ich, in diesem Moment des Abschieds, brauche.
Der Alltag findet sich neu. Langsam und schleppend, aber unaufhörlich, nimmt er Einzug, in unser neues Leben. Ein Leben, in dem jetzt ein wichtiger Teil fehlt. Ein Vater, ein Bruder, ein Sohn, ein Schwager, ein Mensch, der mit gerade mal 59 Jahren, schlicht weg, zu Jung war, um aus unserem Leben gerissen zu werden. Man fängt an zu vergessen, auch wenn man sich noch so große Mühe gibt, dies nicht zu tun. Man kann es nicht aufhalten. Irgendwann ist der Kirschbaum wieder der Platz der Freude und der Gemeinschaft. Mit neuen Menschen, kleinen Menschen. Menschen, die ihren Großvater nie kennen lernen werden. Und jeder geht seinen Weg, als wäre nie was passiert. Als hätte man die Szene wieder auf Anfang gesetzt und den einen Charakter aus dem Drehbuch gestrichen.