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Von Sittensen nach Minnesota
Erst seit seiner Generation erntete Ludwigs Familie neben Bohnen, Erbsen, Roggen und Rüben auf einem Acker hinter seinem sogenannten Halbhof auch Kartoffeln. Diese Erdknollen waren über Preußen ins Königreich Hannover gelangt und halfen besonders den Kleinbauern auch in den dunklen Jahreszeiten satt zu werden. Vorher hatte es immer einmal wieder Hungermonate im Winter gegeben. Besonders schwer zu ertragen waren jene schlechten Erntejahre, in denen man gezwungen war, auch das eingelagerte Saatgut als Nahrungsmittel zu verwenden, um wenigstens für die Kinder noch ausreichend sorgen zu können.
Schon der zweite nasse Sommer hintereinander, immer wieder tagelang Dauerregen, viel zu wenig Sonne und Wärme, um Kartoffeln und Getreide richtig wachsen zu lassen. Ludwig Ehlen klaubte lediglich wenige glitschige faulige Kartoffeln aus den Furchen, die sein Pflug nur schwer aus der nassen Kleie ans Tageslicht befördern konnte. Sein altes Ackerpferd mühte sich, hatte aber kaum noch Zugkraft genug, um diesen zähen Boden mit der Schar aufbrechen zu können.
Seine zweite Frau Gesche wäre nach Geburt ihres vierten Kindes beinahe genauso wie ihre ältere Schwester Anna, seine erste Ehefrau, im Kindbett gestorben. Gesche war immer noch zu schwach, um wenigstens das Vieh zu versorgen.
Mit seiner ersten Ehefrau Anna hatte er drei Kinder gezeugt. Keines war älter als einige Monate geworden, aber seine gemeinsamen Kinder mit ihrer Schwester Gesche lebten. Noch. Im Augenblick ernährten sie sich alle nur von Eiern und Milch, hatten kaum noch Grütze. Ihre Räucherkammer war bis auf etwas fetten Speck fast leer und die Kruken bargen noch wenig fast vergorenes Gemüse. Wenn wenigstens die Äpfel und Zwetschen schon reif wären, aber sie hatten erst Sommer und es war fraglich, ob es bei diesem Wetter überhaupt Früchte geben würde. Ihr einziges Schwein konnten sie frühestens im Januar schlachten, noch war es viel zu klein. Ohne ein volles großes Schapp Kartoffeln konnte der kommende Winter wie so oft in früheren Zeiten wieder Tod und Siechtum mit sich bringen, besonders für die Alten und die Jüngsten in den Familien.
Auf der linken Seite seiner Strohdachkate waren kleine Ställe für das Pferd, die Kuh und das Schwein. Eine Diele mit einem Fußboden und einem Backofen aus Lehm trennte diesen Bereich von der Küche und der Schlafkammer, die sich die Familie mit sechs Personen teilte.
Ludwig hatte seine vollkommen durchnässte Kleidung ausgezogen und haderte über diesen vergeudeten Arbeitstag.
Abgesehen vom Pastor und dem Gutsbesitzer beherrschte niemand aus der Bevölkerung Hochdeutsch, alle sprachen das Platt der Geest. Er hatte gehört, dass der König in Hannover eine Schule bauen lassen wollte, in der man Kindern dieses Hochdeutsche beibringen wollte. Sogar schreiben sollten sie dort lernen. Das konnte hier in Sittensen nur der Pastor.
Gesche war in der Kammer bei den Kindern und sie sagte durch die geöffnete Tür, ohne dass er währenddessen ihr Gesicht sehen konnte:
„Ik weet nich wat wi för de Gören tou eten moken schöllt. Von dohch gifft datt jüss n beten Melk. De Hoiner hebbt hüt keene Eier leggt. Ik gleuv de Voss wör vörn Hus un hett se opscheucht.“
[Ich weiß nicht, was wir den Kindern zu essen geben sollen. Wir haben nur noch ein bißchen Milch. Die Hühner haben keine Eier gelegt. Ich glaube ein Fuchs vor dem Haus hat sie zu sehr aufgescheucht.]
Um Nahrung zu bekommen, beschloss er am nächsten Morgen mit dem Ackerwagen zum Zevener Markt zu fahren, um die letzten Rüben aus dem Vorjahr gegen Grütze und Gries zu tauschen, aber daraus wurde nichts, weil ihn eine Stunde später sein Nachbar Hinnerk besuchte und berichtete, in Zeven sei die Cholera ausgebrochen. Es habe schon zwanzig Tote gegeben.
Im frühen Herbst starb ihr jüngstes Kind, nicht an Cholera, sondern an Unterernährung. Gesche konnte die anderen Gören [Kinder] nicht mehr versorgen, weil sie in ihrem Seelenschmerz nur noch stumm auf einem Küchenstuhl saß und stumpf vor sich in starrte. Ihr schönes glattes Gesicht hatte Falten bekommen, ihre vergißmeinnichtblauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Es war in ihrer Gegend völlig üblich, die jüngere Schwester aus einer Familie zu heiraten, wenn die ältere als erste Ehefrau zu früh verstorben war und schon Kinder vor weiteren gemeinsamen zu versorgen waren. Trotzdem plagten Ludwig Gewissensbisse, Gesche hätte wohl einen anderen als ihn verdient.
Nach den Landreformen, die angeblich wegen der wachsenden Bevölkerung tatsächlich aber nur zum Vorteil des Adels durchgesetzt worden waren, hatte sich die ehemalige Größe der Bauernhöfe schlagartig geändert. Aus Vollhöfen waren Halb-, Viertel- und sogenannte Achtelhöfe entstanden, was ihre Eigentümer oder Pächter zwang neben der Landwirtschaft einer weiteren Arbeit nachzugehen, um überhaupt überleben zu können. So wurden Bauer und Schneider oder Bauer und Zimmermann oder Bauer und Filzmacher beziehungsweise Leineweber übliche Beruftskombinationen. Nur Vollhöfner, Hausmänner, also Männer, denen ein eigener Bauernhof mit ungefähr 3 Hufen oder etwa 40 Jück oder etwa 80 Morgen Land gehörte oder auch zum Beispiel Mühleneigentümer waren in der Landbevölkerung Berufe, die keine weitere Tätigkeit erforderten, um zumindest die eigene Familie ernähren und kleiden zu können. Anbauern dagegen, auch als Baumänner bezeichnet, die nur Land auf Erbpacht bewirtschafteten, zählten wie ebenso die sogenannten Brinksitzer, Groß- und Pflugköthner zu Kleinbauern, deren Arbeit einer Fläche von ungefähr 20 Jück Land nicht allein ausreichte, um ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ludwig als Halbhöfner befand sich zwischen diesen beiden Klassen.
Fast zur untersten Schicht zählten die sogenannten Häuslinge oder Hüssel und die sogenannten Köthner oder Katenbewohner, also Knechte ohne eigenes Land, deren meistens vorm eigentlichen Dorf von Großbauern oder Gutsbesitzern ein kleines, meistens nicht besonders fruchtbares Stück Land zur Bewirtschaftung gegen Hand- und Spanndienste überlassen wurde. Zum Leben meist zu wenig, zum Sterben genau richtig. Extrem hohe Sterblichkeit bei Neugeborenen und kleinen Kindern, bei Wöchnerinnen, insgesamt viel stärker durch Krankheiten durch Mangelernährung gefährdet, meistens kurze Lebenserwartung. Ludwig als Halbhöfner lebte deutlich oberhalb dieser Schicht, allerdings auch in Armut und ohne die geringste Aussicht auf einen sozialen Aufstieg. Unterhalb der Häuslinge vegetierten ehemals Sesshafte Wanderarbeiter als Heumacher und Torfstecher. Man nannte sie auch Hollandgänger, weil sie hier immer Rande des Hungertods und eines frühen Siechtums leben mussten und eines Tages wegen etwas besserer Gegelenheitsarbeit nach Holland verschwanden.
Wären ihre kinderlosen Nachbarn nicht herzensgute Menschen gewesen, hätte seine Familie und Ludwig die folgenden Wintermonaten wohl nicht überlebt. Hinnerk schenkte ihnen gelegentlich einen Sack Gerste, zu Weihnachten sogar ein Suppenhuhn und seine Frau Ahlheit half Gesche, ihre Kinder zu versorgen, wozu sie allein noch immer nicht wieder in der Lage war. Trotzdem zeichnete sich ab, dass das neue Jahr noch mehr Not mit sich bringen sollte, weil Ludwig kein Saatgut in der Scheune mehr lagerte. Sie hatten alles verbrauchen müssen.
In Zeven wurden zwei Köthner [Besitzer einer Strochdachkate] vom Scharfrichter enthauptet, weil sie an der Wassermühle in Grapen einen Karpfenteich trocken fallen ließen, um ihre Familien mit den Fischen vorm Verhungern zu retten. Ihre Frauen und Kinder wurden ins Armenhaus gesteckt. Dort wurde auch schnell gestorben.
Ludwigs Familie überlebte den Winter und Gesche war schwanger.
Hier auf der Geest [Land zwischen Elbe und Weser] übliche Vornamen wie Ludwig, Rebecca, Adelheit, Hinrich, Martin, Katharine oder Johannes fand man nur in den Geburts-, Heirats- und Sterberegistern der Kirchenbücher, im täglichen Leben benutzte man aber ihre plattdeutschen Formen wie Ludden, Beke, Alheit, Hinnik, Matten, Trine/Trinchen oder Hannes. Weil man nur eine überschaubare Anzahl von Vornamen nutzte, um die Kinder zu taufen, wurden zur Unterscheidung später oft Namenszusätze angehängt. So nannte beispielsweise einen Nachbarn Hinrich „Hinnik Nober“.
Ostern lag in diesem Jahr schon in der letzten Märzwoche. Ludwig hatte von seinem Nachbarn nochmals einen großen Sack Gerste als Saatgut bekommen. Er bestand darauf, ihn als Leihgabe und nichts als Geschenk zu betrachten. Er und Hinnerk saßen vor dessen Scheune auf einer Buchenbank und genossen die ersten warmen Sonnenstrahlen.
„Ik mutt di wat vertellen, Ludden. Ick bün letzte Week op Schoopmarkt in Hornborch wehn. Dor hebb ick mit Manns- un Frunslüd schnacktt, de utwannern wöllt. Ahlns lüttsche Buurn un Hüssels. Se wöllt noh Amerika.“
[Ich muss dir etwas erzählen Luwig. In der letzten Woche bin ich auf dem Horneburger Schafsmarkst gewesen und habe da mit Männern und Frauen geredet, alles Kleinbauern und Knechte. Die wollen nach Amerika.]
Ludwig konnte sich nicht verkneifen zu schmunzeln, weil ihm klar war, dass niemand von den besagten Menschen auf dem Schafsmarkt eine Schiffsreise nach Amerika bezahlen konnte. Auswandern. Und was wollten sie dort? Wie weit war das weg? Gehörte es zu dieser neuen Welt zusammen mit Afrika und Indien? Viel wurde in letzter Zeit von diesen Ländern geredet, selbst bei ihnen in Sittensen.
Am nächsten Sonntag wollten sich angeblich Interessenten bei Jochim Ropers in einem Gasthaus treffen. In Revenahe. Allein einen Ritt dorthin könnte sein Pferd nicht unter drei Stunden bewältigen. Außerdem hatte er nicht einmal das Geld, um sich ein Bier zu bestellen. Hinnerk ahnte, was ihn bedrückte und kannte auch die verzweifelte Lage der Familie Ehlen aus täglichem Anschein, eine Familie, bestehend aus einem verarmten Halbbauern, seiner schwangeren Frau und vier kleinen Kindern. Seinen Vorschlag hatte er sich lange überlegt:
„Pass op, Ludden. Ik geef din nen Tolar un min Peerd. Datt is gau un bruukt no Revenoh keene twee Stünnen. Kiek di datt an, loht di Tihd un hör beten tou. Ahlheit ward Gesche bi dine Görn helpen.“ [Ludwig, ich gebe dir einen Taler und mein Pferd. Das ist schnell und braucht bis Revenahe nur 2 Stunden. Sie dir das da an und höre einfach nur zu. Meine Frau Ahlheit wird deiner Frau Gesche bei der Kinderbetreuung solange helfen.]
Er fragte sich schon lange, warum seine Nachbarn ihnen immer wieder in größter Not zur Seite standen. Viel hatten sie auch nicht, aber mehr als sie selbst. Vor allem aber hatten sie keine Kinder. Hinnerks Ahlheit war nach vielen Fehlgeburten nicht mehr schwanger geworden.
Im Revenaher Gasthaus traf Ludwig auf mehr als zehn Leute, Frauen und Männer, die ganz offensichtlich alle den Plan hegten, nach Nordamerika auszuwandern, von Hamburg oder Bremerhaven aus sechs Wochen auf dem Wasser. Als treibende Kräfte entpuppten sich ein Horneburger Brauer namens Caspar Harmens, Heyn Fittschen von der Grapenmühle, ein Häusling namens Baden aus Ochtmannshausen und ein Vollhöfner namens Martin Bredehöft aus Ahrensmoor. Auch ihre Frauen oder ihre Verlobten waren dabei und es zeigte sich, dass Harmens einen Onkel in einem ihm völlig unbekannten Gebiet namens Minnesota hatte. Der schrieb ihm lange Briefe, welche ihm der Horneburger Pastor vorgelesen hatte. Ludwig hatte noch niemals zuvor einen Brief gesehen. Harmens zeigte sie und erzählte von ihrem Inhalt.
In Minnesota gab es Ureinwohner.
Die hießen Dakota, hatten eine braune Hautfarbe und sie hatten alle schwarze lange Haare. In Minnesota – das sollte „ Blauer Himmel über dem Wasser“ bei den Dakota bedeuten - waren die Sommer wohl heißer als hier auf der Geest, die Winter dagegen sehr viel kälter. Das Land war angeblich sehr fruchtbar und garantierte gute Ernten. Ludwig war davon überzeugt, einen Märchenerzähler vor sich zu haben, denn Martens behauptete mit ernsthaftestem Ausdruck, selbst ein Kleinbauer habe dort mehr Land als hier ein Dreispänner mit Flächen von mehr als hundert Morgen Acker. Er nannte diese Bauern Farmer.
Harmens war in seinen Augen ein Mensch, die man im Plattdeutschen als „Mardelbüdel“ bezeichnen würde, also jemand mit viel Fantasie und wenig Bodenhaftung. So erzählte er ihnen auch, es gebe neuerdings eine Art rollende Dampfwalze, welche sich von selbst auf Eisensträngen bewegen sollte, ohne Pferde davor zu spannen. Endlich wieder in Sittensen eingeritten war es schon stockfinster. Gesche war sehr aufgeregt, weil sie befürchtet hatte, Räuber hätten ihn getötet. Er beschloss, ihr nichts von den Geschichten aus Revenahe zu erzählen.
Im Frühjahr nahm das Schicksal der Familie eine bessere Wendung. Baumeister Ehlen hatte vom Schultheiß den Auftrag bekommen, innerorts die Landstraße nach Bremen zu bepflastern und suchte dafür bis zum Herbst hinein Arbeitsleute. Er fragte auch Ludwig, der durch diese neue Stelle neben seiner Landwirtschaft von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sechs Tage in der Woche körperlich bis zur Erschöpfung alles gab, um seine Familie durchzubringen. Schon Ende April konnte er Saatkartoffeln und einige Gänse erwerben, dazu auch zwei weitere Apfelbäume aus dem Alten Land. Neue Sorten, größer und saftiger als das schrumpelige Kroppzeug von einem alten knorrigen Baum auf seinem Hof. Seine Kinder hatten jetzt einen Kletterbaum, sein letzter Nutzen. Auch Gesche ging es besser, bis sie im fünften Monat ihre Leibesfrucht verlor. Sie hatte wohl in seiner Abwesenheit das schwere Baumholz auf den Sägebock gewuchtet und dabei lief ihr gleich das Fruchtwasser in den Beinen herunter.
Er lieh sich noch einmal das kräftigere Pferd seines Nachbarn aus und ritt an einem frühen Sonntagmorgen los. Als er sechs Stunden später vor Brauer Martens Haus stand, befürchtete er, ihn nicht anzutreffen, zumal er ihm auch keine Nachricht über seinen beabsichtigten Besuch geschickt hatte. Aber Martens war da und hieß ihn mit einem Krug warmen Würzbiers willkommen.
Martens war im Gegensatz zu seiner urprünglichen Überzeugung doch kein Geschichtenerzähler. Zwischen dem Königreich Hannover und Amerika, das Martens jetzt immer vereinigte Staaten nannte, gab es ein Abkommen, um menschenleere Gebiete in jenem fernen Land anzusiedeln. Freie Überfahrt mit dem Dampfschiff „Emden“ ab Bremerhaven im Oktober. Vier Familien mit Kindern, zwei Brautleute, zwei Jungfrauen und einige Junggesellen hatten sich bei der Registrierungsstelle in Stade gemeldet, auch Martens. Was Ludwig nicht ahnen konnte war, dass das Königreich die Auswanderer an die Amerikaner verkaufte und zwar nur Menschen bis zum vierzigsten Lebensjahr.
„Seit ein paar Jahren gibt es in Amerika ein Gesetz, über das mein Onkel aus Minnesota mir geschrieben hat. Unser Pastor hat mir es genau vorgelesen. Es heißt auf amerikanisch Homestead-Act. Einwandernden Bauern werden über 250 Morgen Land geschenkt.“
„Aber warum?“
„Amerika ist riesengroß. Sie haben gerade einen schrecklichen Bürgerkrieg hinter sich und dabei furchtbar viele Menschen verloren. Ohne Menschen kannst du aber nichts säen und nichts ernten.“
Martens versprach ihm dabei zu helfen, wenn er seine norddeutsche Heimat verlassen wolle. Für immer, denn zurück würde niemals jemand kommen können.
Als er am nächsten Tag nach Sittensen zurück ritt, hielt er irgendwo in der Feldmark. Ein weißgelbes Meer von Kamille wogte vor seinen Augen im Wind. Kamillensud linderte Entzündungen, aber nur dann, wenn man sie bei bewölktem Himmel schnitt. Es passte. Er nahm seine Sichel und füllte rasch einen Sack. Vielleicht könnte das Heilkraut Gesche helfen sich zu erholen. Bei diesem Gedanken fasste er seinen Entschluss.
Im Spätherbst 1847 stand die Famlie Ehlen vor einer Dreimastbark namens „Bremen“, also doch kein Dampfschiff namens „Emden“.
Auf der Passage war für jede Familie nur ein Jutesack Reisegepäck zugelassen - Decken und Essgeschirr musste mitgebracht werden - , für Einzelpersonen nur Kleidung zum wechseln, soweit diese darüber überhaupt verfügten. Als das Segelschiff auf Höhe der Wesermündung in den Wind drehen konnte, blähte sich sein Spinnaker durch eine frische ablandige Brise. Kabinen gab es nicht. Man schlief zusammen im Zwischendeck in zweigeschossigen Holzkojen bei einer lichten Raumhöhe von 1,70 Metern. Zwischen den etwa hundertvierzig Passagieren wurde weder nach Familien noch nach Geschlechtern getrennt, aber sie hatten es geschafft, in einer Ecke wenige Quadratmeter für sich allein zu reservieren.
Höchstens auf einer kleinen Flussfähre mochten einige von ihnen einmal das Gefühl gehabt haben, auf Planken über einem Wasser zu gleiten, aber eine in bewegter See schwankende Bark verursachten bei vielen von ihnen Seekrankheit und damit Erbrechen als auch unkontrollierbare Darmentleerungen. Das Deck wurde fast untentwegt von den Frauen mit Salzwasser geschrubbt, weil man berechtigte Angst vor dem Ausbruch einer Seuche hatte. Martens hatte von einer Überfahrt gehört, auf mehr als die Hälfte der Passagier gestorben war. Aus ihrer eigenen Sicht Halbverhungerter war das Essen üppiger als bei ihnen zu Hause, auch wenn es nur aus Stockfisch, Kartoffelmus mit Roten Beeten, getrockneten Pflaumen und Grütze bestand.
Wegen der späten Jahreszeit vermied man eine Nordpassage und war länger unterwegs als geplant, weil zudem noch Flauten auf dem südlicheren Nordatlantik die Reise verlängerten. Wenige Tage vor der Ankunft musste das Essen rationiert werden und man hungerte wieder einmal.
Als Ludwig eines Morgens aufs Oberdeck stieg, hockten zwei Vögel auf der Reeling, Vögel, die er vorher noch niemals gesehen hatte. Gegen Mittag sah man einen schmalen Streifen am Horizont.
Amerika.
Am nächsten Tag erreichte die Bark die Mündung eines Flusses namens Hudson. Wenig später kam eine Stadt in Sicht, unvergleichlich größer als Bremerhaven. Ihr Schiff machte am Fulton Fischmarkt fest. Die meisten der unzähligen Menschen lebten im Stadtteil direkt vor dem Kai. Er hieß Lower Manhattan und es stank hier fürchterlich durch ebenfalls unzählige Latrinen.
Einigen von ihnen bot man Holzverschläge, anderen muffige Zelte an. Ihr Treck nach Minnesota sollte in einer Woche zusammen gestellt sein. Martens und Ludwig erkundeten tagsüber die riesige Stadt. An einer gewaltigen Straße namens Broadway, die eine einzige Baustelle war, ragten Steinhäuser mit fünf Geschossen in den Himmel, deutlich höher als die Kirche von Sittensen. Man sprach hier Englisch, aber traf auch viele Deutsche, manchmal sogar Menschen, die plattdeutsch beherrschten. Auf einer Flußinsel, die Ellis Island hieß, wurden von allen Einwanderern die Namen, Geburtsdaten und die Schiffspassage notiert.
Red Wing bedeutet eigentlich roter Flügel. So hatte sich ein Indianerhäupting wohl genannt und nach ihm hatten die wenigen Einwohner ihren Ort getauft. Er lag in einer Ausbuchtung des oberen Mississippi, der hier noch nichts von seiner mündungsnäheren Mächtigkeit enthüllte. Für den letzten Abschnitt ihrer wochenlange Reise in einem Treck über weites leeres Land hatten ihre Führer sie mit kleinen Segelbooten flussaufwärts geschifft. Die ersten Deutschen waren auch auf diesem Weg vor einigen Jahren - 1855 - hier her gelangt.
Minnesota, „Blauer Himmel über dem Wasser“. Während Red Wing bei ihrer Ankunft aus einer ungeordneten Anzahl von Blockhütten bestand und bestenfalls als winzige Ansiedlung bezeichnet werden konnte, war das wenige Meilen entfernte Godhue ein richtiges großes Dorf mit einer Holzkirche und einem Friedhof herum, so wie es Ludwig auch aus seinem Geburtsort Sittensen her kannte. Man begrüßte die Neuankömmlingen freundlich, vielleicht der Einsamkeit geschuldet fast freudig. Stabile wetterfeste Zelte mit sichtgeschützten Latrinen in der Nähe waren für sie vorbereitet. Weil das Wasser in der flachen Bucht für ehemalige Norddeutsche durch eine ungewohnte Sommerhitze angenehm warm war, erfrischten sich die meisten von ihnen lange und ausgiebig an den Ufern des Mississippis.
Als die Bewohner hörten, dass Martens ein gelernter Braumeister war, beratschlagten sie mit ihm, welches Getreide und welche Zutaten er für bierartige Getränke benötigte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass sein Verfahren Bier aus einem besonderen Malz zu brauen, mit frischem, immer abgekochtem Quellwasser, Gerste, Hopfen, Hefe und auch Essenzen vom Gagelstrauch, den er Nähe der Sümpfe fand, ihn in den nächsten Jahren zu einem wohlhabenden Mann machen sollte, der zunächst Bier in 60 Liter-Fässern, später aber seine Braumethode selbst verkaufte. An einen Mann namens Samuel Adams aus Boston, einen der ersten amerikanischen Bierfabrikanten. Er ließ sich Martens Verfahren patentieren.
„Samuel Adams“ ist heute noch eines der besten Biere der USA nach europäischer Brauart.
Einige Monate arbeitete Ludwig noch als Farmhelfer bei der Welschkornente bis man ihm sein eigenes Land zusprach. Aber selbst in dieser Zeit erging es ihnen besser als jedem Köthner auf der norddeutschen Geest, die sich fast alle in den Tod hungerten.
Er bekam einen guten Lohn, einen Dollar am Tag, wovon er endlich seine Familie ohne ständige Ansgt vor Hunger und Not ernähren konnte. Seine Kinder hatten sich in die buttergelben süßen Maiskolben verliebt und Gesche konnte an Sonntagen Fleisch braten oder ein gutes Stück davon die Suppe stecken. Morgens traf sich am Tag des Herrn die ganze deutsche Gemeinde in der selbst erbauten Kirche, nachmittags brachte ihm Pastor Klinkenberg lesen und schreiben bei. Ein Jahr später verschickte er seinen ersten Brief von Amerika nach Sittensen. Er wußte nicht, ob seine Verwandten die Jahre der Entbehrungen überlebt hatten.
„Iss man tou scheun, datt wi wedder watt Lütsches anfoten könnt.“
[Es ist doch wunderbar, dass wir wieder ein Baby in den Armen halten können.]
Vorher hatte Gesche sich noch niemals nach ihrer ersten auf eine weitere Schwangerschaft gefreut.
Mehrheitlich waren die Menschen in dieser Gegend schwedische oder deutsche Einwanderer. Zwei Generationen vor ihnen hatten hier noch Franzosen und Engländer um ihre überseeischen Ländereien gekämpft. Ureinwohner, also Indianer, gab es hier nicht mehr viele, man hatte sie in den Westen oder in sogenannte Reservate verdrängt. Es hieß immer wieder in den Geschichten von Händlern, eines Tages würden sie ihr Land zurückerobern und alle Langmesser töten. Ludwig hielt das nur für Schauermärchen. Hier hatte es vor zwanzig Jahren die letzten Kriege mit Indianern gegeben, wobei viele von ihnen am Galgen endeten.
Langmesser. Die Weißen hatten ihren Namen also nach den Bajonetten auf ihren Gewehren bekommen. Kein Kompliment.
Zwei Jahre später, tief in seinen eigenen Maisfeldern beschäftigt, fielen ihm die Händlererzählungen schlagartig wieder ein. Ohne es bemerkt zu haben, stand plötzlich vor ihm ein Reiter, ein alter korpulenter Indianer auf einem weißen Schimmel. Er schien nicht bewaffnet zu sein.
„Du reitest mir ja mein ganzes Maisfeld zusammen. Was machst du auf meinem Land?“
„Einem Menschen kann kein Land gehören, aber Menschen können anderen Menschen das Land rauben, auf dem diese bereits lange vor ihnen gelebt haben. So gesehen frage ich dich, was machst du auf meinem Land?“
In seiner Stimme schwang kein Vorwurf mit. Er stellt ihm einfach eine einfache Frage. In seiner ruhigen Art flößte er ihm Respekt ein.
„Ich bin Ludwig Ehlen. Wer bist du?“
„Ich war Taoyateduta.“
Er wollte ihn fragen, warum er von sich selbst in der Vergangenheitsform sprach, aber der Alte hatte still sein Pferd gewendet und verschwand im wiegenden Maisfeld. Er sah ihm lange nach, bis er ganz vom grünen Pflanzenmeer verschluckt wurde. Richtung Norden. Ludwig sah zum Himmel und hatte den Einruck, hoch oben in den Lüften folge ein Adler denen Spuren der Rothaut.
Ludwig hörte das Wort Taoyateduta später noch einmal, als einige Leute sich zur Eröffnung des ersten Wirthauses in Red Wing nach einigen Bieren schon etwas lautstärker unterhielten. Er fragte nach der Bedeutung.
„Taoyateduta? Wir Weißen haben ihn kleine Krähe getauft, Little Crow. Keiner weiß, wo er nach in den Kämpfen in Minnesota geblieben ist. Er lebt wahrscheinlich gar nicht mehr. Er war der berühmteste Häuptling aller Sioux, vielleicht auch aller Indianer.“
Als Gesche Ehlen ihren Mann im Jahre 1911 auf dem Friedhof an der Beuge des Mississipis begraben lassen musste, wünschte sie sich, sie könne Buschwindröschen und Veilchen unter seinem Kreuz pflanzen, aber diese gab es in ihren Arten nur in ihrer alten Heimat.
Trotzdem war sie Ludwig unendlich dankbar, weil sie ihn damals nicht von ihrer Auswanderung abhalten konnte. Hier in Red Wing war keines ihrer Kinder mehr gestorben und ihre Jüngsten wussten nicht mehr wie sich Hunger anfühlt.