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Von Menschen, Drachen und Spuren
Irgendwann im Dickicht der Vergangenheit hatte es diese eine Spur gegeben und er war ihr gefolgt. Sie hatte ihn zu einem Wesen geführt, halb verborgen in hüfthohem Gras, nackt, blutend und mit Augen, die zu sagen schienen, ich weiß, wer du bist. Nachdem das Wesen einen letzten Atemzug getan hatte, wusste auch er es. Der Menschentod fügte seinem Äußerden diese dunklen Augen als Erinnerung hinzu, nahm die Seele an sich und verstaute sie behutsam im Inneren seines Umhangs. Dann machte er sich auf den Weg.
Er folgt den Spuren in Höhlen, Nischen, Kammern, Paläste. Manchmal ist den Menschen selbst im letzten Moment nicht bewusst, dass es geschehen wird, manchmal erwarten sie ihn. Manchmal rufen sie nach ihm, manchmal nach ihren Müttern.
Und dann gibt es Momente wie diesen, da steht ein Mensch vor einem Drachen und anstatt zu fliehen oder Schutz hinter seinem Schild zu suchen, vor den Krallen, Zähnen, dem verheerenden Feuer, streckt er seine Arme zur Seite und ruft über den brausenden Wind hinweg: „Legg me am Arsch!“
Der Drache schnellt hervor, sein Maul verfehlt den Menschen um Haaresbreite und gleichzeitig greift die gewaltige Hinterpranke mit einem Schnappen ins Leere. Die Worte, die sie brüllend und blechern wechseln, verschwinden im Wind, und der Menschentod hat schon zu viele von ihnen gehört, um noch neugierig zu sein. Sie haben nie etwas geändert und auch jetzt vergehen nur Momente, bis Drache und Mensch wieder aufeinander zu stürmen.
Er spürt sie, bevor er sie hört. „Oh, so knapp.“ Sie riecht nach Blut, Wind und Gold, so wie die Seelen, die sie einsammelt seit dem Tag, an dem der erste Drache fiel. „Hallo Boandlkramer“, sagt sie mit warmer und rauchiger Stimme.
Er wendet den Blick nicht vom Kampf ab und spürt sie wie Sonnenstrahlen im Rücken. Wie immer ein wenig zu nah.
Als er sie nach ihrem Namen gefragt hatte, war es ein unbeholfener Versuch, die Stille zwischen ihnen zu brechen. Er hatte nicht ahnen können, dass ein Name für Drachen und ihren Tod keinerlei Bedeutung hat, dass Namen gewiss für solch kurzlebige und umtriebige Wesen wie Menschen Sinn machen, denn, bei allem Respekt, sie sehen doch alle irgendwie gleich aus, aber Drachen, Drachen sind einzigartig und wenn einer von ihnen schlüpft, ist es nur, als wäre er an einem neuen Morgen aufgewacht, hinter und vor ihm liegen ungezählte Tage und wenn sie über den Himmel gleiten, dann weichen die Wolken vor ihnen zurück.
Insgeheim nennt er sie Katla, wie der Vulkan auf einer eisigen Insel im Norden und er hatte damals gehofft, sie ließe die Sache auf sich beruhen. Kurz danach aber grüßte sie ihn mit Hallo, Hein Klapperbein, dann mit Schnitter, Thanatos, Schlafesbruder, Charon, Shinigami und er ahnte, dass sie die Beharrlichkeit ihrer Drachen in sich trug.
Besonders Boandlkramer hat es ihr angetan. Keinen anderen Namen nutzt sie so oft und auch wenn er ihn nicht mag, behält er es für sich, denn in Katlas Stimme liegt jedes Mal ein unterdrücktes Kichern und er hofft, dass es einmal ausbricht.
Der Mensch reißt das Visier hoch und Katla flüstert: „Ja, so wird es leichter.“
„Es sind viele Glieder, auf die er achten muss“, erwidert Boandlkramer, denn er hält nichts von den Zweideutigkeiten, die sie so mühelos gebraucht.
„Und das Feuer. Sein Gesicht würde schmelzen wie Wachs.“ Die Begeisterung in ihrer Stimme ist so leise, so unauffällig wie die Nähe zu ihm. Es ist immer genug Platz für Zweifel.
„Er hat den Drachen vorhin an der Kehle verwundet. Da kommt kein Feuer mehr.“ Für einen Moment wollte Boandlkramer sich da zurückziehen. Doch wie der Mensch wusste auch er, dass man verletzte Drachen niemals unterschätzen darf.
„Ah, darum hat sich mir die Spur offenbart.“ Katla tritt neben ihn. „Seit wann bist du hier?“ und er antwortet: „Seit er vom Pferd gestiegen ist.“ Ihr Lachen zieht ihn an, lockert seine Zunge und schafft so viel Verbundenheit, dass er sie teilen will, die Geschichte dieses Menschen vor ihnen. „Ich war bereits da, als er geboren wurde. Beinah hätte ich seine Seele mitgenommen, aber eine kundige Hebamme brachte ihn in den nächsten Tag. Als Junge stürzte er von einem Baum und spießte sich das Bein auf einem Ast auf. Ich wartete drei Tage neben seiner betenden Mutter am Bett.“
Katla sagt: „Drei Tage? Die Ausdauer der Verzweifelten“, und er kann sich gut vorstellen, wie sie das Gesicht verzieht. Dabei wissen beide, dass jeder Drache abergläubischer ist, als diese Mutter auf den Knien vor ihrem ersten Kind. Es ist das unermüdliche Streben der Menschen nach Halt und Gewalt über ihr Schicksal, das Boandlkramer immer wieder fasziniert, wenn er eine Seele einsammelt, wenn die Spur verlöscht und er weiterziehen könnte und trotzdem verweilt, mit denen, die zurückbleiben und ihren Worten von Vorsehung, Heimkehr oder einem großen, allumfassenden Plan.
„Als Knappe geriet er in ein Scharmützel mit Dieben, doch am Ende nahm ich zwei von ihnen mit und er gelangte unbehelligt zum Gut seines Vogtes. Als er schließlich zum Ritter geschlagen wurde, stand ich in der letzten Reihe.“
Der Mensch weicht dem Maul des Drachen aus, rollt sich unter ihm hindurch und zerfetzt die linke Schwinge mit einer Drehung seines Schwertes.
Katla klingt unbeschwert. „Hattest du mir nicht erzählt, der Ritterschlag sei nur ein harmloses Ritual?“
„Mehrere der Menschen dort trugen den dunklen Atem in sich. Die Spuren waren noch dünn, aber du weißt ja, wie schnell es geht.“ Selbst die Drachen hatten sich zurückgezogen, als die Seuche ausbrach, als brennende Leichengruben den Himmel verdunkelten und Boandlkramer sich wieder und wieder aufspalten mussten, um den vielen Spuren zu folgen, bis er glaubte, kein Mensch bliebe mehr übrig.
„Ich habe es gesehen.“ Er weiß den Kummer in ihrer Stimme zu schätzen. „Kein Drachenfeuer hat je so unerbittlich unter den Menschen gewütet.“
Er kann sich nicht mehr daran erinnern, wo sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Sie war damals schon uralt gewesen, er hatte es wie ein unsichtbares Gewicht gespürt oder wie den Druck in der Luft vor einem Unwetter. Erst hatte er es auf die schiere Menge ihrer Begegnungen geschoben, eine Gewohnheit.
Es hatte Äonen gedauert, bis ihm aufgefallen war, wie nah sie plötzlich beieinanderstanden und noch einmal so lange, bis er verstand, warum es bei niemandem sonst der Fall war. Wenn es ums Töten ging, waren die Menschen den Drachen ebenbürtig geworden. Daraus war Respekt entstanden und die gemeinsame Ratlosigkeit darüber, warum sie sich in dieser Hinsicht so von den Seelen unterschieden, die sie auflasen.
Sie warteten, schwiegen, dann taten sie es gemeinsam und es bekam Bedeutung.
Der Schild des Menschen bricht unter einem Hieb des Drachen, trifft ihn an der Schulter und die Wucht zwingt ihn in die Knie. Der Drache setzt nach, seine Pranken graben sich tief in den Boden, sein Maul ist weit geöffnet, voller glänzender Zähne und blutdurchzogenem Geifer. Boandlkramer sieht die Spur aufleuchten, spürt, wie es ihn auf die Klippe zieht, nur für einen Atemzug, dann treibt der Mensch ein keilförmiges Stück des Schildes in den Rachen seines Gegners und das Licht ebbt wieder ab. Boandlkramer kann nur die Spur des Menschen sehen, aber er stellt sich vor, wie sie mit der Drachenspur tanzt, ineinder verschlungen, an und abschwellend, bis eine von ihnen erlöscht.
Katla schweigt und er kann das Gefühl nicht abschütteln, dass sie seine Gedanken lesen kann. Es ist irrational, er weiß es. Sie beide gehören einer Art an. Trotzdem durchbricht er die Stille. „Ich habe seinen zweiten Sohn geholt, bevor er den ersten Sommer sah und seine Tochter nahm ich zusammen mit seiner Frau im langen Winter. In den Jahren, die sie Hungerkriege nennen, strich ich unzählige Male über die Schlachtfelder, aber auch da hat mich nie eine Spur zu ihm geführt.“
„Sie sind wie Drachen, die durch den Sturm fliegen, Windböen, Blitze um sie herum, doch sie fliegen weiter, als könnte ihnen nichts und niemand etwas anhaben.“
„Diese Sturheit macht sie nicht nur erfolgreich, sie treibt sie auch schneller in den Tod.“ Nicht, dass er die Menschen deswegen weniger liebte. Wie trostlos wäre all dies, wenn sie nur an ihrem Feuer sitzen und auf ihn warteten?
Katla sagt: „Nenn es nicht Sturheit. Es ist Mut. Drachenmut“, und vielleicht ist das der Grund, warum er sich ihr so nah fühlt. Die Ähnlichkeit der Wesen vor ihnen, ineinander verschlungen, Metall auf Schuppen auf Haut auf Fleisch.
„Bist du auf seiner Seite?“, fragt er und der Gedanke lässt ihn lächeln.
„Er stellt sich einem riesigen Wesen entgegen, das Feuer speien kann, dessen Klauen ihn einfach so zerreißen könnten, Rüstung hin oder her. Ich bin ... amüsiert. Und erstaunt darüber, wie oft die Menschen siegreich aus diesen Kämpfen hervorgehen.“
Der Drache schleudert den Menschen von sich, brüllend, blutend und versucht vergeblich wieder in die Luft zu kommen. Mit verzerrtem Gesicht kämpft sich der Mensch auf die Beine, sein Schwert zittert, aber er lässt es nicht sinken. Er läuft auf den Drachen zu und sein wütender Kampfschrei vermischt sich mit dem Fauchen seines Gegners.
Boandlkramer hört das Seufzen Katlas und so etwas wie Schwere in der Stimme, als sie sagt: „Tatsächlich sehe ich die Zeit der Drachen enden. Die Menschen, sie werden immer mehr und in ihrer Gier stehen sie den Drachen in nichts nach.“
Er hat es natürlich bemerkt. Jede ihrer zahllosen Begegnungen ist der Schauplatz blutiger Kämpfe. Menschen und Drachen streiten um Platz, Gold, um das bloße Gefühl des Sieges und keiner von ihnen scheint ruhen zu wollen, bis der andere ausgelöscht ist.
"Das heißt, irgendwann werde ich dich nicht mehr sehen.“ Selten klingt Boandlkramer so sehr wie die Essenz in seinem Innersten, selten sind seine Worte so weit weg von seiner Aufgabe und so nah bei ihm selbst.
„Ja, aber auch wenn ich das zwischen uns genieße, so wünsche ich mir, dass du nicht in der Nähe bist, wenn der letzte Drache geht. Ich dachte an eine Höhle, auf einem Berg hoch in den Wolken, unter seinem Leib tausende Münzen und er selbst so alt wie das Gold unter ihm. Sein letzter Atemzug hingehaucht in die kalte Nachtluft und sein schwindender Blick auf den Mond gerichtet.“
Boandlkramer erwidert: „Das klingt wunderschön“, und meint so viel mehr.
„Was wünschst du dir für ihn?“, fragt Katla sanft und er verfolgt die Hiebe und Schläge des Menschen, während der Drache wieder und wieder zurückweichen muss. Beinahe keimt die Hoffnung in ihm, dass er hier kein Menschenleben verlöschen sehen wird, denn auch wenn seine Aufgabe an den Schluss geknüpft ist, so liebt er ihre Wege dahin. „Ein warmes Bett, seinen jüngsten Sohn an der Seite und trotz allem ein Lächeln im Gesicht, wenn er an sein Leben zurückdenkt.“ Vielleicht wird Boandlkramer auch heute unverrichteter Dinge abziehen und seinen Erinnerungen an dieses unerschrockene, volle Leben eine weitere Facette hinzufügen.
Sie sagt: „Es tut mir leid.“
Er dreht den Kopf, sieht Katlas gelbe Drachenaugen und ihr Blick liegt fest auf ihm, so als wäre er für einen grandiosen Moment wichtiger als die Seelen dort auf der windumbrausten Klippe. „Was?“, fragt er. Als würde er es nicht schon ahnen.
„Dass es so nicht enden wird.“
„Hm?“ Als könne er den Lauf der Dinge abwenden.
Er hört ein leises Schnauben und stellt sich vor, dass es ein Lachen ist.
„Du bist ihnen so ähnlich.“ Es könnte ein Kompliment sein. Oder Spott. „Dort hinten in den dunklen Wolken. Sieh genau hin.“
Er folgt der Bewegung ihrer Augen und spürt, wie ein winziges Gewicht an seinen Schultern zieht. „Ich verstehe.“
Sie wendet sich schweigend ab. Für einen Augenblick berührt ihre Essenz ihn dabei und er weiß, dass es kein Zufall ist.
„Boandlkramer“, hört er sie hinter sich.
„Ja?“
„Wie heißt er?“
„Sein Vater hat ihn Lotrecht getauft, seine Frau nannte ihn Lot.“
Er blickt ihr nicht hinterher, spürt bereits, dass sie verschwunden ist, und macht sich auf den Weg. Die Bewegungen des Menschen lassen Müdigkeit erkennen, aber auch Zuversicht. Es ist das Selbstbewusstsein in der Art, wie er das Schwert immer wieder sinken lässt, wie er den Drachen mit klugen Hieben und Ausfallschritten in die Reichweite seiner Waffe lockt. Seine Rüstung reflektiert Blitze in der Ferne. Metall kracht auf steinharte Schuppen, als plötzlich ein unheilvolles Brüllen über ihnen erklingt. Es übertönt den Donner und lässt den Menschen innehalten. Sein Blick ruckt nach oben in den Himmel, zu den Wolkentürmen im Osten. In einem Wimpernschlag ist Boandlkramer bei ihm auf der Klippe, als fünf Drachen durch die Gewitterwolken brechen und das Zwielicht mit Feuerstrahlen zerreißen.