Von Kriegern und Katzen
Einsam ragte der krumme, schneebeladene Baum in den kalten Februarhimmel. An Einsamkeit übertraf ihn nur noch die kleine Kate, die hinter ihm Schutz zu suchen schien. Feuerholz war davor gestapelt;
Er vergaß einen Augenblick das beklemmende Gefühl, welches gejagte Kreaturen nach vorne treibt, von den Jägern weg, und hielt inne. Sein Atem ging stoßweise, aber flach, und die eisige Luft schnitt in seine Lunge, verursachte einen krampfhaften, kräftezehrenden Hustenanfall. Wolken weißen Dampfes stoben zwischen seinen bläulichen Lippen hervor und verschwanden, ständig neue Wolken; wie auch alles andere verließen sie ihn und wurden eins mit dem stahlgrauen Himmel.
Die Geräusche verhallten in der Eiswüste.
Er verstummte für eine ganze Weile und lauschte. Schließlich, in der oberflächlichen Überzeugung, dass sie ungehört geblieben waren, fingerte er mit seinen dick mit Lumpen umwickelten Händen an seinem Karabiner herum und fand ihn trotz des Frostes funktionsbereit. Ein metallisches Klicken, und eine seiner letzten Kugeln verschwand in der Kammer, als er ihn, keuchend wie ein Tier, repetierte.
Der Winter stach auf ihn ein, und die schmerzende Kälte trieb ihn voran, auf das Gebäude zu. Er stampfte zuerst bedächtig, zum Schluss immer schneller werdend, den Karabiner in beiden Händen, schwankend durch den kniehohen Schnee. Einzig das knirschende Geräusch und das Rasseln seines Atems begleiteten ihn, vielleicht noch der klamme Schmerz in seinem rechten Zeigefinger, welcher auf dem kalten Stahl des Abzuges lag.
Er erreichte die windschiefe Kate, die unter der Last des Winters zusammenzukauern schien, und horchte abermals für einen Moment. Als er nichts Verdächtiges vernahm, genauer: als er überhaupt nichts hörte, nicht einmal den Wind, und erleichtert feststellte, dass er durch die vereisten, kleinen Fenster nicht hatte gesehen werden können, stieß er die Tür auf.
Das plötzliche Knarren ließ ihn für einen Augenblick erschrecken, doch wohin er seine Waffe auch richtete, er fand den einzigen Raum der Behausung leer.
Seit einiger Zeit verlassen bis auf zwei unscheinbare Fellbündel, welche auf dem primitiven Bett lagen und sich regten. Schnell schloss er die Tür hinter sich, sie im Auge behaltend. Auch sie fixierten ihn mit zwei dunklen Augenpaaren, und er lächelte.
Es war hier drinnen fast genauso kalt wie draußen, und es roch nach Urin und etwas anderem, das er mit seiner halb erfrorenen Nase nicht einordnen konnte.
Vielleicht war es die Erkenntnis, verloren zu sein, die sich ihm mit überraschender Klarheit aufdrängte. Vielleicht aber auch einfach nur der seit Tagen an ihm nagende Hunger und die damit verbundenen Urtriebe, oder das verzweifelte Bedürfnis nach Wärme.
Die beiden Katzen waren bis auf das Skelett abgemagert. Die Mutter war trotz aller Wachsamkeit dem überraschenden, rohen Angriff des Fremden nicht gewachsen und fiel gleich dem ersten Schlage des niedersausenden Gewehrkolbens zum Opfer.
Ein unfeines, knackendes Geräusch, ein seltsamer Schrei des jungen, flüchtenden Kätzchens neben ihr, als ihr Schädel brach und Blut, dampfendes rotes Blut die schmutzige Matratze tränkte. Das Gewehr landete neben dem zuckenden Körper, und noch bevor dieser endgültig erstarrte, nahm ihn der Eindringling und labte sich wie ein Tier an dem heißen Blut, welches immer noch aus dem zerschlagenen Kopf sprudelte, schließlich nur noch floss. Gieriges Schlucken, das belebende Gefühl einer warmen, wenn auch leicht haarigen Mahlzeit nach so langen Tagen des Hungerns. Blut besudelte die zerschlissene Uniform, rann seinen Hals hinunter, ohne dass er abließ. Als der neu entfachte Wind eine Ladung Schnee vom nahen Baum zur Erde warf, ließ er den Kadaver erschreckt fallen, spuckte die Knochensplitterchen aus.
Mit einer hastigen Bewegung griff er nach seinem Karabiner und ging nach draußen. Der Wind heulte. Nach einer Weile kam er wieder hinein, die Waffe über der Schulter, am Kolben blutbeschmiert, und in den umwickelten Händen einige Stücke Brennholz.
Die kleine Katze, ebenfalls kaum mehr als Haut und Knochen, lungerte trauernd neben dem toten Etwas vor dem Kamin herum und miaute kläglich, schwächlich. Er scheuchte das hilflose Tier fort, nahm den Körper und genoss noch einmal den Rest von Wärme, den er immer noch hatte. Schließlich legte er ihn auf den einzigen, groben Tisch am vereisten Fenster, kramte sein Messer hervor und stieß es daneben in das Holz.
Dann machte er Feuer; es dauerte eine Weile, bis er es mit seinen klammen Fingern schaffte. Zwei von ihnen schmerzten fürchterlich, einer schien, der Farbe nach zu urteilen, gänzlich erfroren, was er nach einem kalten Schauer auf dem Rücken mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm. Bald züngelten kleine Flammen. Er wußte, dass der Rauch ihn verraten könnte, doch hatte keine Wahl.
Der Schmerz nahm zu, als er die Hände ans prasselnde Feuer hielt, und so überließ er schon nach einer Weile dem verwaisten Kätzchen das Feld am primitiven, warmen Ofen, während er sich beeilte, die Mutter zu zerlegen, bevor sie völlig verhärtete. Die mangelnde Geschicklichkeit machte er mit seiner Erfahrung beim Schlachten von Lämmern auf dem väterlichen Bauernhof wett. Die Schnitte waren gut geführt und zielstrebig, und während dunkles Blut und einzelne Haare in der Schüssel landeten, ließen ihn bruchstückhafte Erinnerungen an Zuhause vergessen, dass Teile seiner Nase und mindestens ein Finger, vielleicht auch zwei oder drei, verloren waren.
Er seufzte; widerstand der Versuchung, die kleinen Haare aus der roten Schüssel zu suchen. Stattdessen wickelte er einen Teil des Fleisches und die Organe in das Fell ein, so gut es ging, und trug es nach draußen. Das Herz flutschte heraus und landete im Schnee, er grunzte ärgerlich. Als er es mühevoll aufzulesen versuchte, fiel ihm ein, dass es doch besser wäre, die Vorräte im Haus selber zu verstauen.
So kam er wieder herein, und sein Blick fiel auf das kleine, hilflose Kätzchen, welches ihn mit unergründlichen Augen fixierte. Ein schmerzliches Lächeln huschte über sein Gesicht. Das Tier antwortete nicht auf sein gutes Zureden.
Schließlich briet er den Rest des Fleisches und verschlang auch ihn, ungewürzt. Der Bratengeruch vermischte sich mit dem stechenden des Urins, er versuchte mühsam, sich aus einem kleinen Rest mit Tabak vermischten Tees aus einer seiner Taschen eine Zigarette zu drehen.
Wie beiläufig sah er sich um. Zufällig fiel sein Blick auf drei weitere, regungslose Büschel Fell in einer Ecke nahe des Tisches. Ihre Augen waren trübe und tot. Der Größe nach mussten sie und die kleine Minka Geschwister sein. Früher – es erschien ihm wie in einem unwirklichen Traum – früher hatten sie auch einen Kater gehabt, der hieß Minka. Sein Sprechen klang rostig, aber er gab sich alle Mühe mit einem weichen Klang. „Minka, komm.“
Er drückte die Zigarette aus, legte Feuer nach. Zertrat einen kleinen, blanken Knochen auf dem Boden. Vermutlich hatte es hier Mäuse gegeben.
Nachdem er abermals seine Waffe geprüft hatte, legte er sich auf das stinkende Bett, wobei er darauf verzichtete, die Stiefel auszuziehen. Es war warm geworden, und so schmerzten seine erfrorenen Körperteile dumpf. Besonders die Füße, aber sie aus den Stiefeln zu befreien, würde nur dazu führen, dass sie anschwollen und er sie nicht mehr anziehen könnte. Minka schien zu erkennen, dass sie sonst keine Chance hatte und kam zögernd zu ihm. Sie war warm, und er streichelte ihr struppiges Fell. Das ferne Dröhnen von Flugzeugen, vom Wind herangetragen, wiegte ihn in den Schlaf.
Ungewiss, was ihn weckte, aber weitaus wichtiger, dass es ihn aufschrecken ließ. Sein Schlaf war tief und traumlos gewesen, er brauchte eine Weile, sich wieder zurechtzufinden.
Dunkelheit, das Feuer erloschen. Draußen das Wiehern von Pferden, ansonsten nichts außer Wind. Trübe graue Schwärze vor den eisigen Fenstern.
Ohne zu bemerken, dass Minka fort war, tastete er nach seinem Gewehr. Das Messer war auf dem Tisch.
Plötzlich Stimmen von draußen, die ihn hellwach werden ließen. Fremde Laute, leise gesprochen. Das laute metallische Geräusch eines Gewehres, das durchgeladen wird, dann wieder Stille. Er konnte kaum etwas sehen, lag da in der Finsternis. Kaltes Blut auf dem Kolben, auf seiner Wange. Ganz sachte sein Atmen und der Wind, dann im Schnee knirschende Schritte. Eine Bewegung vor dem Fenster, nicht mehr als ein Schatten.
Die Tür ging knarrend auf. Es wäre schön gewesen, wieder ein menschliches Gesicht zu sehen. Stattdessen nur ein Gedanke, ein gellender Knall.
Für die Dauer eines langen Herzschlages der Raum im gespenstischen Licht des Mündungsfeuers. Eine Gestalt greift an ihre Kehle. Etwas scheppert auf dem Boden, ein gurgelndes Seufzen, dann ein dumpfer Aufschlag, wie von einem Sack Mehl.
Neue Patrone nachgeladen. Lauschen, nicht atmen. Das Gurgeln stirbt ab. Dann das Knirschen von eisverkrustetem Schnee, etwas durch den grauen Türrahmen. Das wütende Knattern einer Maschinenpistole schmerzt in seinen Ohren. Kugeln jagen in Holz, Splitter und Querschläger überall. Etwas Spitzes sticht in seine Wange. Ein weiterer Schuss des Karabiners. Jemand ruft: „Konstantin?“ Dann flieht der Schütze durch den Schnee, er kann wieder die Pferde hören.
Er springt auf, ist am Tisch, das Messer verschwindet in seiner Tasche. Wirft sich am Türrahmen entlang nach draußen. Wie ein Leichentuch reflektiert der Schnee das wenige Mondlicht, glitzert wie der Sternenhimmel.
Der Wind hat ihn, doch er friert nicht, sieht eine Gestalt zu einem nahen Pferdeschlitten laufen, zielt und trifft. Ein Schrei hallt über die Ebene, verliert sich in der Ferne. Der Fremde bricht zusammen, fällt in den Schnee. Über ihm nur noch die Wolken seines Atems.
Wieder repetieren, eine rauchende Hülse fliegt heraus, eine neue Patrone landet im Verschluss. Das Schreien des Getroffenen, abermals, länger. Etwas fliegt aus dem Pferdeschlitten, begleitet von einem fremden Fluch, er springt zurück in die Kate, landet hart auf dem Boden. Sekunden später die Explosion einer Handgranate direkt beim Feuerholz, sämtliche Scheiben zerbersten, einige zerschneiden seine Uniform an der Schulter. Holzscheite sprengen auseinander, durch die Luft, auf das Dach. Das Klirren von Glas auf dem Boden nimmt er nicht wahr, halb betäubt, halb taub vom dröhnenden Knall.
Als er sich wieder aufrafft, sich die Hand an den Scherben zerschneidet, ist das Schreien des Verwundeten nur noch eine unerhörte Anklage, während der Pferdeschlitten am Horizont verschwindet.
Es sind noch mal zwei Schüsse, mit denen er sich für die Stille entscheidet. Er schleift die Leiche aus der Tür, nimmt ihre Waffe mitsamt zwei vollen Trommelmagazinen an sich, durchsucht die Taschen. Außer einer Krumme Brot nur ein kleiner Revolver.
Es ist leichter, sich damit umzulegen, als mit dem Karabiner, denkt er. Die zerschnittene Hand schmerzt, er umwickelt sie mit seinem verkrusteten Taschentuch, nimmt es bald darauf, auf dem Bett kauernd, wieder ab. Immer noch rast sein Herz, doch er sitzt regungslos. Erleichterung, Minka kommt wieder.
Sie saugt, kaum beachtet, an seiner Uniform, als er sie in den Armen hält. Als er es leise schmatzen hört, gibt er ihr den blutigen Finger. Nach kurzem Zögern leckt eine raue, kleine Zuge darüber. Durch die Fenster dringen Frost und schwach, da weit entfernt, einige dutzend Panzermotoren, sich nach einer Ewigkeit des Wartens wieder in der Ferne verlierend.
[ 06.06.2002, 10:44: Beitrag editiert von: Paranova ]