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Von Glocken und Vögeln
Wer bei der Überschrift dieser Geschichte an Dinge denkt, an die er an dieser Stelle besser nicht denken sollte, an die er aber lieber denken würde, sollte die Kategorie wechseln.
Was wollte ich gleich erzählen? Ach ja: ich bin nicht besonders stolz darauf, aber ich bin unheimlich vergesslich. Das ist umso bedauerlicher, als in Zeiten von passwortgierigen Onlinebanking-Programmen, sozialen Netzwerken, E-Mail-Programmen und Internetauktionshäusern das Gehirn eines durchschnittlichen Internetnutzers ungefähr so gut entwickelt sein muss wie das von Albert Einstein oder zumindest das meiner Frau, wenn es darum geht, aufzuzeigen, an welchen Tagen ich vergessen habe, den Müll heraus zu schaffen.
Nun ist beides für mich entweder nicht machbar oder aber nicht erstrebenswert. Ich hatte es mir daher zur Angewohnheit gemacht, meine Passwörter in ein kleines Büchlein einzutragen.
„Du trägst doch nicht etwa deine Passwörter in ein kleines Büchlein ein?“, fragte mich einmal Max, ein Geschäftsfreund, der bei mir zu Hause weilte, weil wir ein Projekt besprechen wollten und den ich auf diese Thematik ansprach.
„Ach Unsinn“, lachte ich. „Wie kommst du denn darauf? Aber sag' mal, wie merkst du dir all die Passwörter?“
„Mnemotechnik oder assoziieren“, sagte er.
„Natürlich“, nickte ich wissend und nahm wir vor, mir diese Wörter, gezwungenermaßen vorerst ohne Zuhilfenahme dieser Technik, zu merken. Gott sei Dank braucht man bei Wikipedia kein Passwort.
Ich ging zur Toilette und ließ Max eine Weile an meinem Laptop zurück.
„Hör mal!“, sagte er jovial, als ich zurückkehrte, „bei euch ist wohl ein wenig Ebbe auf dem Konto, was?“
Ich sah ihn ungläubig an.
„Na ja“, sagte er, offensichtlich bar jeden schlechten Gewissens. „Dein Onlinebanking-Programm ist im Verlauf deines Browsers, deine Kontonummer ist als Cookie voreingestellt, und das Geburtsdatum deines Sohnes als Passwort zu nehmen, ist nun wirklich nicht sonderlich schlau. Du solltest das dringend ändern!“
Dies leuchte sogar mir in meiner Eigenschaft als Digital Immigrant ein. Wenn sogar Max mit seinen eher bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten meine Passwörter knacken konnte, brauchte ich mir wohl eher geringe Hoffnungen machen, dass die russische Mafia dies nicht schaffen könnte.
„Mnemotechnik“, sagte Max erneut, doch die Wiederholung dieser Aussage machte den Zweck derselben für mich unbedingt nicht greifbarer.
„Du nimmst den Anfang irgendeines Gedichts oder Liedes und davon jeweils den Anfangsbuchstaben“, erklärte Max jetzt. „Zum Beispiel: Fest gemauert in der Erden steht die Form, aus Ton gebrannt. Ergibt also als Passwort FgidEsdF,aTg. Alles drin, Groß- und Kleinschreibung. Sonderzeichen, nicht zu knacken, für Hacker“.
„Lehm“, korrigierte ich überlegen.
„Wie bitte?“
„Ich wette, dass es jeden Hacker dieser Welt völlig irritiert, denn jeder halbwegs gebildete Mensch weiß, dass es heißt: steht die Form, aus Lehm gebrannt, nicht aus Ton“. Irgendwie musste ich ihm schließlich die Sache mit dem Konto heimzahlen.
„Das ist doch jetzt völlig egal“, behauptete der Literaturverweigerer und offenkundige Schillerbanause beleidigt. „Es geht doch um das Prinzip“.
Das hatte ich verstanden. „Aber wie bitte schön“, fuhr ich fort „merkt man sich Passwörter, die man nicht selbst bestimmen kann? Beispielsweise die PIN der EC-Karte?“
„Welche Nummer hast du denn?“
Da nun sowieso schon alles zu spät war und Max die ebenso düsteren wie traurigen Geheimnisse meines Kontos bereits enthüllt hatte, sagte ich sie ihm: „9054“.
„Das ist doch ganz einfach“, sagte er mit einem belehrenden und immer noch leicht beleidigten Ton, der mir gar nicht gefiel. Was kann ich dafür, dass er Schillers Glocke nicht vernünftig kennt?
„Du gehörst ja hoffentlich nicht zu den Leuten, die sich die Pin als Telefonnummer getarnt in den Kontakten des Handys speichern. Jeder Dieb, der beides klaut, lacht sich ins Fäustchen. Meistens kommen sich die Leute auch noch unheimlich schlau vor, wenn sie den Namen als „Eckart Müller oder Meier oder so abspeichern. Dabei weiß doch jeder, dass „Eckart“ für EC-Karte steht".
„Natürlich“, lachte ich. „Wie blöd muss man eigentlich sein, um so etwas zu tun?“
Ich begann, darüber nachzudenken, die Kontakte in meinem Handy gelegentlich einmal zu überarbeiten. Überhaupt, was wusste Max schon von der Notwendigkeit, einen Rettungsanker für Notfälle zu schaffen. Wer einmal am Tag vor Heiligabend, jenem Tag also, an dem geschätzt zwei Drittel der Weltbevölkerung genau in dem Supermarkt einkauft, in dem ich gerade drei Einkaufswagen voll beladen habe, wer also einmal an diesem Tag eingekauft hat, der weiß, wovon ich rede. Nur recht ungern erinnere ich mich an die Schlange mit geschätztem Ausmaß des Längenverlaufs des Amazonas an der Kasse, die ich hinterließ, nachdem ich bereits zwei Mal die falschen Pin eingegeben hatte. Zur Vermeidung des Supergaus blätterte ich in meinem Handy unter „Eckart Wagner“. Während ich noch scrollte und mir durch den Kopf ging, dass ich den Namen wohl besser in Eckart Aumüller ändern sollte, weil man erheblich schneller zu A als zu W gelangt, ertönte eine Stimme aus der Ferne vom hintersten Ende der Schlange: „Was ist, wohl zu blöd, dir die Pin zu merken, oder was?“
„Ja, aber nicht zu blöd, um mir deine Visage zu merken, um sie draußen auf dem Parkplatz zu polieren“, wollte ich entgegnen, unterließ dies aber aus strategischen Erwägungsgründen nach einem Blick auf den einen Kopf größeren und offenbar Fitnessstudios besuchenden Hünen.
„Du bist doch Fußballfan“, unterbrach mich Max in meinen Gedanken.
Recht verständnislos sah ich ihn an. „Wann wurde denn Deutschland Weltmeister?“
Das war natürlich eine einfache Übung für mich: „1954, 1974 und 1990“, antwortete ich.
„Na also, damit kannst du dir leicht deine Pin-Nummer merken. 90 + 54, du verstehst?“
Am Abend änderte ich erst einmal meine Passwörter. Das Büchlein würde ich nun nicht mehr benötigen, befand ich im Überschwang meiner neu erfahrenen Mnemotechnikgefühle.
Wohl aber benötigte ich am nächsten Tag Bargeld und begab mich zwecks Beseitigung dieses Problems, mit zwei Kontakten meines Handys weniger und ohne die moralische Unterstützung von Eckart Aumüller und Eckart Wagner, zu einem Geldautomaten.
„Deutschland wurde 1974 und 1990 Fußballweltmeister“, informierte ich die hinter mir wartende Frau und tippte 7490 ein. Die Frau schien allerdings nicht sonderlich an dieser wertvollen Information interessiert zu sein, ebenso wenig wie der Computer, der mich belehrte, dass die eingegebene Zahl falsch sei.
„Natürlich“, teilte ich der Frau mit und schlug mir mit der Hand vor den Kopf. „Haben Sie etwa noch nie vom Wunder von Bern gehört?“
Die Frau schien auch an Wundern nicht interessiert zu sein und blickte leicht genervt. Wohlgemut gab ich als 5490 ein, doch der unbarmherzige und offensichtlich fußballunkundige Automat weigerte sich, mir Geld auszuzahlen.
„Also schön“, knurrte ich den verständnislosen Automaten an, hämmerte 5474 in die Tastatur und wurde sogleich Zeuge, wie der Geldautomat meine Karte einzog und eine innere Leere in mir hinterließ. Mir ging nur noch ein Lied der Sportfreunde Stiller durch den Kopf, was das Problem allerdings nicht wirklich lösen konnte.
Nach diesem kolossalen Misserfolg beschloss ich, wieder zu Hause angelangt, eine Onlineüberweisung vorzunehmen. Ich entsann mich des schönen Volksliedes „Alle Vögel sind schon da“ und tippte Avssd,aVa ein. „Zugriff verweigert“, lautete die, wie ich fand, unpassende Antwort in der recht unerquicklichen Konversation.
Es kamen, so war ich überzeugt, Vögel in dem Lied vor, und so tippte ich „KeVg,ssnadF“ und sang gedanklich das Lied „Kommt ein Vogel geflogen“ weiter. Das waren noch Zeiten, als schriftliche Kommunikationen noch per Brieftaube und nicht per E-Mail übermittelt wurden, seufzte ich bei der Textzeile „hat ein Brieflein im Schnabel“, war aber im nächsten Moment froh dass „von der Mutter ein Gruß“ per E-Mail mangels bei ihr vorhandener technischer Kenntnisse nicht zu befürchten war. Betroffen registrierte ich, wie der sprachlich recht eindimensionale Computer vermeldete: Zugriff verweigert“.
„Kennst du Lieder mit Vögeln?“, fragte ich meine Frau, die soeben das Zimmer betreten hatte.
Sie sah mich irritiert an und sagte „Du Ferkel, du denkst auch nur an das Eine!“ und verließ sofort wieder den Raum.
Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich Opfer eines Missverständnisses geworden war, als ich sie so etwas wie „wie konnte ich dich nur heiraten“ murmeln hörte.
Immerhin hatte sie mich mit dieser hoffentlich rein rhetorisch gemeinten Frage auf die richtige Fährte gebracht. Ich tippte das Passwort ein und flötete „Ein Vogel wollte Hochzeit halten“.
Gestern habe ich mir ein neues Büchlein gekauft. Fiderallala!