Von der Weisheit der Eichenbäume
Als die Welt jung wie der Morgen und Sonne und Mond noch nicht lange in ihren ewigen Streit verfallen waren, erforschte die Herrin Ilva die Geheimnisse der Welt, welche ihr damals noch so verborgen waren wie die alte Schlange im salzigen Meer. So wollte sie nun prüfen, welches der vielgestaltigen Geschöpfe wohl das weiseste sei, denn in Ilva pochte jener Wissensdurst, der sich noch heute in den Gemütern der Forscher und Gelehrten zeigt. Darum lud sie zu sich alles, was Beine hatte, auf dem Boden kroch oder mit leichten Schwingen in den vier Winden glitt. Daraufhin kamen die koboldgleichen Mäuse, die Adler der alten Zeit, die Füchse des Milux, die sorglosen Einhörner und selbst das Gewürm. Die Gemahlin Tioris wollte nun prüfen, welches Geschöpf wohl am meisten mit Klugheit und Weisheit gesegnet sei, indem sie sie sprechen ließ. Dem klügsten unter ihnen versprach sie das ewige Leben.
Die Maus piepste sie sei ein Wesen von großer Klugheit, da sie ernten könne ohne zu säen. Darauf sprach der rote Fuchs, sie sei aber nicht klug genug um den Fängen eines Fuchses zu entfliehen. Doch dann kam der sich ringelnde Urwurm zu Wort, der gleichermaßen Vater und Mutter der Lindwürmer, Egel, Salamander und Maden war, und voll von Hochmut sprach zu dem Fuchs und selbst zur Göttin Ilva, es sei die Verschlagenheit des Wurmgeschlechtes die größten Geschöpfe auf jede nur erdenkliche Weise zu necken, sich in winzigen und unscheinbaren Gestalten aller Augen zu verbergen und obendrein die ältesten Geheimnisse des Himmels und Erde zu kennen, sich geschickt in der Tiefe der Welt und in den Flammen des Brandes zu schlängeln, geheime Runen in den Windungen des spindeldürren Leibes abzubilden, mit Feuer und Rätselworten zu sprechen und dabei Weisheit und Verderben zugleich unter Lebende und Tote zu bringen. Die zischenden Worte der gespaltene Zunge unterbrach ein Adler, der sprach, es sei ihm wohl ein leichtes die Verdorbenheit eines Wurmes mit seinen scharfen Augen zu erkennen, dem bösen Blick einer Schlange eine spitze Klaue entgegenzusetzen und selbst den Madenkönig Urwurm an Kenntnissen über die Welt zu überbieten, die er doch hoch oben, sich Seite an Seite mit dem Herrn Tiori, dem Fürsten der Wolken, bewegend, leicht überblicken und mit der Leichtigkeit eines Flügelschlages erklären könne.
Allein das Einhorn widersprach dem Adler, denn es war sittsam und tugendhaft, es wäre wohl nichtig, ob ein kluger Fuchs eine Maus fange oder der Adler dem Gewürm die Augen ausbeißen könne, denn letztlich sei es doch nicht Klugheit, sondern Verschlagenheit, nicht Edelmut, sondern Hochmut, nicht Weisheit, sondern Wüten, womit die Geschöpfe hier einander maßen. Sei es nicht die Weisheit des Einhornes, auf grünen Lichtungen zu äsen anstatt sich an den Kämpfen der wilden Tiere und Würmer zu beteiligen, statt blutiger Klauen und Zähne ein in sich verschlungenes Horn zu tragen, welches nicht durch Angst und Schauder sondern allein durch Schönheit und Friedfertigkeit die Augen des stillen Betrachters fessele. Die Worte des Einhornes gefielen der Göttin Ilva und so sprach sie, es liege wohl große Weisheit auf den Zungen der weisen Pferde der geheimnisvollen Haine.
Daraufhin brach großer Streit aus unter den Vögel, den Würmern, den Fischen und den Tieren des Waldes und des Ackers. Es kämpften die Hähne untereinander und mit den Füchsen. Die Bilche stritten mit den Mäusen und der Urwurm selbst rang mit den Wölfen, die seinen giftigen Atem und seine verschlagenen Gedanken beneideten. Über dem lärmenden Getümmel erhob ein gewaltiger Eichenbaum, dessen ausladende Krone den Zorn der Tiere mit der Ruhe der rauschenden Blätter bedeckte. Ilva verzweifelte an den Gemütern der Tiere und frug daher den hohen Baum, worin den wohl die Weisheit der Eichen läge. Der Eichenbaum antwortete mit langsamen und knackenden Worten, es liege wohl keine Weisheit im hohlen Holze und er wisse nichts weiter als, dass im Lauf der Jahre Winter und Sommer einander folgen, dass der frische Morgen die dunkle Nacht verjage und dass da ein Unten und Oben sei in dieser ruhelosen Welt, doch stumpf und unbeweglich sei das Leben der Bäume, sodass da nichts sei, worüber es sich zu erzählen lohne, außer dem langsamen Ablauf der Zeiten, weshalb eine Eiche still und stumm verharre, während um sie herum die Gestirne und Geschöpfe jagen. Die Worte der Eiche gefielen der Göttin und sie sprach mit der lauten zauberischen Stimme des Göttergeschlechtes, auf das das Fauchen und Kreischen der Geschöpfe verstummen musste. Sie habe das weiseste aller Geschöpfe in diesem Baum gefunden, denn die Eiche wüsste, dass sie nichts wüsste und sei daher klug und weise, während alles, was da laufe, krieche und fliege in dieser Welt voll Hochmut, Neid und Eitelkeit sei, weshalb sie, die erhabene Göttin Ilva, dem Volk der Eichen das ewige Leben verleihe.
Nun wunderten sich die Geschöpfe über die Entscheidung der Göttin sowie die Weisheit des Baumes und der Urwurm verfiel in großen Zorn, welcher beinahe von gleicher Stärke war wie die Stürme Tioris. Er verfluchte die Bäume und rief seine Kinder zum Kampf. Würmer sollten die Eichen quälen, ihnen als Plagegeister inne wohnen, ihren zähen Lebenssaft saugen, ihr ewiges Wachsen mit spitzem Gewühle hindern und mit dem feurigem Atem des Salamanders gegen sie wüten, auf dass das hölzerne Geschlecht vergehe. Von nun fielen böse Alben und Würmer über die Bäume her und bewohnten sie, sodass aus den friedlichen Wäldern der alten Zeit Heimstätten übler Krankheiten und schändlicher Würmer wurden. Die Bäume erwehrten sich jedoch des Gewürmes und hin und wieder schießen sie mit Holzböcken und Würmern, als ob sie Pfeile wären, auf vorübergehende Tiere und Menschen um sich von ihrer langen Qual zu erlösen. Seit dem Fluch des Urwurmes liegt über den Eichen wieder der Schatten des Todes und die Seuchen der Würmer wüten unter allen Völkern außer denen der Walfische und Alke. Freud und Leid, Güte und Missgunst, liegen eng beieinander, so wie auch der Preis der Weisheit nicht ewiges Glück sondern ruhelose Qual bedeutet, weshalb die Eichen noch heute den Drosseln und Elstern, die in ihren Wipfeln nisten, zumurmeln, wahre Torheit wäre wohl das größte Glück.