- Beitritt
- 10.09.2014
- Beiträge
- 1.782
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 23
Von der Schönheit des Wassers
Wir schwirren ab, libellengleich!
Raus aus den Großraumbüros, aus den U-Bahn-Gruselstätten, den Hyper-Märkten, aus dem ganzen Gewusel, urbanes Leben genannt, das wir mehr ertragen als genießen.
Raus aufs Land, zu Mutter Grün, wo schon das Luftholen eine Freude ist.
Zu zweit beanspruchen wir die alte Landstraße in ihrer vollen Breite. Wenn man nebeneinander fährt, redet es sich leichter. Sollte tatsächlich der Schulbus oder ein Traktor als dritter Verkehrsteilnehmer auftauchen, werden wir großzügig eine Fahrbahn freigeben.
Durch die neue Umgehungsstrecke hat die alte Landstraße ihre Wichtigkeit für alle Zeiten verloren, aber als Flaniermeile des Dorfes stellt sie immer noch etwas dar. Die Tankstelle ist verbrettert, doch es gibt „Zur Wassernixe“, ein blaugefärbter Dorfkrug mit Disco, einen Italiener, der auch Gyros, Hamburger und Döner serviert und einen echten Drugstore mit ‚Coffee tu go’, Donuts und Icecream. Wir lassen unsere Räder rollen und Karin macht Fotos vom schönsten Haus des Dorfes und vom Coffeeschild.
Am Ortsende ist seitlich ein Erdwall aufgeschüttet, überwuchert von Klatschmohn und blau blühenden Disteln, der offensichtlich als Sperre dienen soll und deshalb unser Interesse weckt. Nach zwei Verbotsschildern führt, leicht abfallend, eine prächtige Kastanienallee zu einigen verlassenen Gebäuden.
Die gehören jetzt uns.
Ja wirklich - seit ein paar Wochen sind wir stolze Mühlenbesitzer. Gekauft wie besehen. Eingeschossiges Haupthaus, zwar mit Strom und fließend Wasser, doch mit schlechtem Dach; zwei Scheunen in beklagenswertem Zustand und ein paar zusammenbruchnahe Ställe – alles eingerahmt von herrlichen uralten Nussbäumen!
Ich bin ein Verrückter, Bäume becircen mich. Die öffnen mein Herz, meine Sinne – da mache ich mir um den ‚baulichen Zustand’ der Gebäude keine allzu großen Sorgen.
Karin ist besonnener, macht mich trotz aller Freude auf dies und jenes aufmerksam, doch ich bin in Hochstimmung und lasse keine Bedenken an mich heran. Ich packe sie an den Schultern, bemühe mich um ein entschlossenes Gesicht und sage: „Wir zwei schaffen das.“
Das Mühlengesetz, wonach der Müller kein Korn hat, wenn er Wind hat und keinen Wind, wenn er Korn hat, hat bei unserer Wassermühle keine Gültigkeit - wir haben immer mehr zu tun, als wir schaffen können, auch wenn der Mühlbach ausgetrocknet ist.
Wollen wir ein paar Dutzend Dachschindeln austauschen, brechen wir ein - samt morscher Dachlatten und ehemals tragendem Gebälk. Die bröseligen Holzdielen des Bodens können unseren Absturz nur verzögern und wir durchbrechen auch sie, bis wir endlich auf die Feldsteine des Kellers krachen. Wimmernd und fluchend und die ganze Mühlenromantik verwünschend, verarzten wir uns notdürftig; Ausfall können wir uns nicht erlauben.
Da wohl der gesamte Dachstuhl ausgetauscht werden muss, suchen wir risikoärmere Tätigkeiten. Wir schleifen alte Farbe und Tapetenreste ab, schlagen alten Putz von grindigen Mauern - doch je mehr wir klopfen, desto bröckeliger wird die Wand. Salpeter, Einsturzgefahr! Jahrhundertealte Feuchtigkeit frisst wie Säure am Stein.
Brotzeit. Meist essen wir kalt. Nichts ist fertig, die Küche noch im Rohzustand. Aber was soll’s – zum Kochen hätten wir eh keine Zeit. Ziemlich geschafft sind wir schon, trotz anfangs bester Kondition und grenzenlosem Optimismus. Ätzend, nur schneller als Salpeter, fressen Enttäuschungen und ständige Rückschläge an unserem Selbstbewusstsein.
Der letzte Sex liegt Monate zurück. Wir sind zu verspannt, sind Mimosen geworden, berühren uns fast nicht, wählen nur die zartesten Worte und vermeiden, die Stimme zu heben. Noch sprechen wir nicht über unser Fiasko, sondern reden uns ein, dass es nach Beheben der letzten Katastrophe nur noch besser werden kann. Fachleute sind dabei, zu retten, was zu retten ist – wir zahlen für Steinmetze, Zimmerleute, Dachdecker, Installateure, Maurer, Maler, Schreiner. Ob es das wert ist?
Bedenken kommen auf. Unser Geld schmilzt, die Zinsen sind hoch.
Am späten Nachmittag packen die Handwerker ihre Sachen weg. Das Bohren, Hämmern, Poltern verstummt. Wohltuend still wird es und meist trinken wir einen Kaffee. Karin geht danach hinter die Scheunen, um voranzukommen beim Anlegen ihrer Beete und Rabatten. Ich bin dabei, den unebenen Kellerboden mit alten Ziegeln auszulegen.
Doch heute ziehe ich sie am Ärmel: „Ich hätte Lust auf einen Wein. Wir sollten mal innehalten und Luft holen.“
Sie schaut mich skeptisch an. Ich versuche, sie zu überzeugen: „Lass uns was trinken, mal ein bisschen an uns denken.“
„An uns denken?“ Meine Frau verliert die Haltung. Sie lehnt sich an mich, ruckt und bebt.
Lange stehen wir so, ich streichle ihr Haar, ihre Schultern. Meine scheinbare Ruhe überträgt sich ein wenig auf sie. Ich weine nur nachts.
Was bin ich doch für ein Idiot! Weltfremd, spinnert, eine Mühle mit alten Bäumen als Lebensglück! Morgen kommt dieses Arschloch von der Bank. Eine Flasche Wein? Himmiherrgott, ich brauch eine Flasche Schnaps. Eine Magnum!
Aber ich könnte gar nicht so viel saufen, wie ich saufen müsste, um für Stunden weg zu sein, besser für einen ganzen Tag. Oder noch besser: für immer. Eine Scheißidee, eine Scheißmühle. Der Bulldozer soll kommen und diesen ganzen Romantikfurz zusammenkloppen und ab damit. Mich gleich mit. Hier kann ich mich ja noch nicht einmal aufhängen, an diesen morschen Balken!
Sonntag. Ich habe mich wieder im Griff. Wir werden heute absolut nichts tun, beschlossene Sache. Wir vertrödeln den Tag wie andere Leute auch.
Früher sind wir sonntags gesegelt, haben Minigolf gespielt, gegrillt, ausgeschlafen, gelesen – lang lang ist’s her. Es ist dumm, daran zu denken.
Die grelle Sonne treibt uns in den Schatten unserer Leibwächter, unserer Nussbaum - Methusalems. Jeder Ast so dick wie ein Baum, ein Blätterdach wie ein Himmel. Feinherb und würzig ist die Luft.
Nüsse werden wir im Überfluss haben, ich will mein eigenes Nussöl pressen.
Karin hat schon die Etiketten entworfen - kein Problem für eine Grafikerin. Auch anderes wollen wir fabrizieren: tolle Konfitüren, Nusskerne in Akazienhonig, im Kupferkessel geschmortes Pflaumenmus – Ideen haben wir genug, nur die Schwierigkeit ihrer Ausführung haben wir unterschätzt.
Wir schlendern über unser Grundstück. Trotz aller Probleme empfinden wir Besitzerstolz. Ich will einen Teich anlegen, Obstbäume pflanzen.
Auf einem schmalen Steg balancieren wir über den Mühlgraben. Früher floss hier ein starker Bach, der das Mühlrad in Gang hielt. Doch nach Inbetriebnahme der Kohlegruben weiter oben in den Hügeln ist er versiegt. Da war vom Absenken des Grundwassers die Rede - in dieser wasserreichen Gegend vielleicht unumgänglich.
Wir müssen glauben, was man uns erzählt. Fotos gibt’s nur wenige, und ein paar Dias. Das eindrucksvollste Bild zeigt das rotierende Mühlrad, gegen die Sonne fotografiert. Jede Schaufel schleudert einen ganzen Kosmos blitzender Tröpfchen ins Licht. Wasser als Lebenskraft; einfach brillant. Diese Symbolik erreicht mich unmittelbar.
Wir genießen das gute Gefühl, einen ganzen Tag für uns zu haben - echte Sonntagsstimmung kommt auf.
Karin erscheint mit zwei gefüllten Sektgläsern und uns geht es gut wie schon lange nicht. Wir spazieren über die Wiesen und nehmen einen Schluck. Ganz so traurig sieht die Welt doch nicht aus: Die Mühle hat ein neues Dach, neue Fenster ebenfalls. Irgendwann wird sie in Sonnenblumengelb und mattem Weiß angestrichen – und fertig ist das Schmuckstück! Dass das Innere fast noch im Urzustand ist, vergessen wir beiläufig.
Wir planen noch Hecken, Rondelle, ein neues Tor – spinnen fast so hemmungslos, wie wir’s am Anfang taten, als alles möglich erschien. Wirkt so der Sekt, ist das die Sehnsucht nach einem geordneten Leben ohne Unwägbarkeiten, oder Flucht in vermutlich unausführbare, herbeifantasierte Pläne? Trotz des schönen Tages und eines Anflugs von Sektlaune nagt in uns etwas Verzagtes, eine Ungewissheit – schlicht gesagt: Wir haben Angst um unsere Zukunft. Haben wir uns übernommen, Träumerei gegen Realität getauscht?
Karin ist morgens die Erste, stets rücksichtsvoll und leise. Heute nicht! Sie poltert über die Dielen, reißt die Tür auf und schreit außer Atem: „He, Schatz, wach auf, wach auf! Ich glaub’ das nicht! Wir haben eine Quelle! Da ist ...“
„Wie, was, Quelle?“, fahre ich schlaftrunken in die Höh’. „Was denn für eine Quelle?“ , schicke ich geistreich hinterher, bin aber schon aus dem Bett. Wir spurten los. Karin zieht mich mit aller Kraft, ich kann kaum folgen.
Wirklich! Der reine Wahnsinn! Wasser quillt aus unserer Erde!
Haben wir doch das richtige Objekt gekauft? Hat der Bach zurückgefunden? Die Gruben sind seit zwanzig Jahren stillgelegt. Der Grundwasserspiegel ist seitdem wieder gestiegen - bei all den Hügeln, Bergen und Wäldern! Das ist der Glücksfall unseres Lebens!
Wie ein Narr stippe ich den Finger ins Quellwasser und koste umständlich. So gewinne ich etwas Zeit, die Dimension dieser Tatsache zu erfassen. Der ehemalige Mühlbach ist zurückgekehrt! Mir ist nach einem starken Kaffee. Karin und ich – Kinder des Glücks!
Stundenlang erleben wir inneren Aufruhr, die unterschiedlichsten Gefühle bedrängen uns. Zwischendurch gehen wir immer mal wieder hin zu unserem Schatz, um uns von der Wahrheit, von der Beständigkeit unseres Glücks zu überzeugen. Das quellende Wasser läuft ziellos in wechselnde Richtungen. Ich muss für einen Abfluss sorgen. Mit der Spitzhacke schlage ich eine Rinne zum Mühlgraben. So fließt es beruhigend gleichmäßig dorthin, wo es schon immer floss. Jetzt nimmt auch meine Idee, einen Teich anzulegen, realistische Formen an.
Diese Quelle verändert alles! Gibt uns Zuversicht wie ein Freund, wird eine feste Größe in unserem Leben, ein Pfand dafür, dass alles gut geht mit unseren Plänen.
Unser Born soll eine steinerne Einfassung bekommen. Das habe ich schon anderswo gesehen - die Krönung eines jeden Anwesens.
Eine alte Wassermühle mit zwei großen Scheunen und einer zwar bescheidenen, doch wunderschönen Quelle; eingefasst wie ein Edelstein – wenn auch nicht in Gold, obwohl sie es wert wäre, aber immerhin in Sandstein. Unaufhörlich quillt herrlich klares Wasser aus der Erde, Lichtkringel flirren darin; sooft wir können, genießen wir dieses schöne Bild.
Karin und ich sind nicht wiederzuerkennen. Wir sind uns wieder nahe, wunderbar nahe. Was haben wir alles vermisst in dieser verdammten Anfangszeit! Statt Tee gibt es abends Wein. Ich werde ein Labor mit einer Wasseranalyse beauftragen – möglicherweise handelt es sich bei unserem Kleinod um eine mineralische Quelle. Das wäre eine Gelddruckmaschine. Wir füllen das Wasser in hübsch etikettierte Flaschen und verkaufen es. Und dann wäre der Kaufpreis unseres Traums von 1780 keineswegs zu hoch gewesen.
Mit dieser neuen Perspektive sind Karin und ich wieder voller Tatkraft, wir kommen gut voran. Unser Elan reißt die Handwerker mit und früher als gedacht feiern wir die Einweihung unserer neuen alten Mühle.
Karins Studio befindet sich in der ehemaligen Tabakdarre. Ihr hochtrabend ‚Orangerie’ genanntes Gewächshaus hat sie in der alten Räucherei eingerichtet. Sie läuft wieder mit federnden Schritten, sportlich und schön, in einem Pullover, der ausschaut wie Erdbeersahne. Ihr dichtes blondes Haar hat sie kürzen lassen, der Teint einer Landfrau steht ihr bestens. Ich bin der glückliche Ehemann, der stolz auf seine Frau ist und letztlich auch auf sich.
Im Keller errichte ich meine Ölpresse. Ich habe unendlich viel Platz hier unten, werde früher oder später auch schöne Schnäpse destillieren. Immer geschmückt mit den künstlerischen Etiketten meiner Frau. Das wird ein erfülltes Leben! Nur die ständig über uns schwebende Frage, ob denn dieser zauberhafte Ort geeignet wäre für ein schnuckeliges Bio-Café, mit Mandelkuchen, Zitronentarte und Himbeer-Baiser, wollen wir später beantworten – wenn wir uns ein bisschen erholt haben. Na ja, ein beschwerlicher Anfang ist bei so einem Objekt nicht zu vermeiden.
Montags wird unser Briefkasten immer mit Reklame zugestopft. Heute sind zwei Briefe dabei. Der erste kommt vom Labor – wegen des Mineralwassers. Sehr verehr ... usw. Normale Trinkwasserqualität, leider mit etwas zu hohem Chlorgehalt. Erlauben uns zu berechnen ... Punkt. Kein Mineralwasser.
Der andere Brief ist eine Rechnung vom Wasserwerk - Endabrechnung für’s abgelaufene Jahr.
Ein irrsinniger Betrag. Karin schaut mir über die Schulter, sagt „Nein!!“ und rutscht an mir in Zeitlupe herunter. Ich schaue auf meine Fingernägel, an die Decke, auf den Boden, nochmals auf die Rechnung mit dem silberblauen Logo. Wie einen Flieger, wie eine Libelle falte ich sie und schicke sie auf die Reise.
Sie hat keine Lust auf einen Looping, macht nur einen Hopser und fällt auf die Nase.