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Von der Pflanze, die gern ein Tier sein wollte
Es ergab sich einst, dass ein zartes, grünes Pflänzchen am Rande eines großen Mischwaldes sich seinen Weg aus den Tiefen der kalten und dunklen Erde zum lebensspendenden Licht bahnte. Zuerst kam sein spitzer Kopf zum Vorschein, der sich im Nu in zwei kleine grüne Blätter ausbreitete. Kurz darauf kam sein dünner Stiel hinterher und reckte die beiden zarten Blättchen in die Höhe. So wuchs es da zwischen dem Gras, den Gänseblümchen und wunderbar duftenden Veilchen und vielen weiteren bunten Blumen. In seinem Rücken die mächtigen Fichten, Tannen und Buchen, vor ihm die unendliche Weite der Welt. Das Pflänzchen genoss seinen Standort und bewunderte die Schönheit, die es umgab.
Es dauerte nicht lange, da machte es die Bekanntschaft mit den ersten Waldtieren. Füchse, Rehe, Wildschweine, Hasen und die vielen Singvögel streiften seine Aufmerksamkeit. Doch wie das häufig so ist, teilten nicht alle das Interesse des Pflänzchens und das Augenmerk der Tiere lag oft ganz woanders, wodurch sie es oft gar nicht bemerkten und einfach niedertrampelten. Das kleine Pflänzchen war aber ein Steh-auf-Männchen und trotz der Verletzungen oder vielleicht auch genau deswegen, war es sofort in deren Bann gezogen. Diese Anmut, diese Beweglichkeit und Kraft beeindruckten es noch viel mehr als die Blumen in seiner Umgebung. Immer mehr keimte in dem Pflänzchen der geheime Wunsch heran, doch selbst ein Tier zu sein, damit es nicht mehr übersehen würde und ebenfalls von Bewunderern umgeben wäre. Jedoch, der Unterschied war zu groß und niemals würde einfach so ein Tier aus ihm werden. Es träumte tagein und tagaus und stellte sich vor, wie es wohl wäre, so ein großartiges, mächtiges Tier zu sein.
Voller Hoffnung fragte es dennoch nach einiger Zeit seine blumigen Nachbarn, ob diese nicht wüssten wie eine Pflanze zu einem Tier werden könne. Doch deren Antwort war nur Gelächter. Das Pflänzchen schämte sich, doch der Wunsch war so stark in ihm, dass es den Mut nicht verlor und bald darauf ein vorbeilaufendes Reh ansprach. Das Pflänzchen dachte: „Ein so großes und anmutiges Tier müsse doch sicherlich wissen, wie eine einfache Pflanze zu so einem wundervollen, gottgleichen Geschöpf werden könne.“
Das Reh blieb stehen und sah von oben auf es mit einem hochmütigen Blick herab. Das Pflänzchen fühlte sich in diesem Moment noch viel kleiner als es eigentlich war. Die Antwort der hochnäsigen Ricke verletzte das zarte Pflänzchen zutiefst: „Du dummes Ding! Keine Pflanze kann jemals zu einem Tier werden. Ihr grünen Wesen seid lediglich gut genug, um uns lebende Geschöpfe zu nähren.“
Das Reh ging seines Weges und hinterließ das Pflänzchen in seiner tiefen Enttäuschung und in seinem Seelenschmerz sich selbst.
Nicht einmal die hellen, wonnigen Sonnenstrahlen konnten es mehr aufheitern. Die Blumen und Gräser und auch die Bäume hatten Mitleid mit ihm. Seine hauchzarten Blätter hingen nun kraftlos an seinem grünen Stiel und das arme Pflänzchen drohte in seinem Kummer einzugehen, doch weil sich sein Elend im Wald herumsprach und die Natur ein liebes Herz hat, kam ein Heinzelmännchen aus dem Wald heraus. Es hatte, so wie man es sich vorstellt, einen langen, weißen Rauschebart und auf seinem Kopf ragte eine rote Zipfelmütze empor, darunter sein ebenfalls weißes, gepflegtes Haupthaar. Das Heinzelmännchen trug ein, für diese Zwerge übliches, blaues Hemd und eine braune Hose mit bequemen dunklen Stiefeln.
Die Pflanzen verneigten sich, als sie es sahen, denn die Heinzelmännchen waren nicht nur weise, sondern auch heilig für die Pflanzen, Tiere und auch für die Menschen.
Es herrschte eine Ruhe und Harmonie, die das kleine Pflänzchen zuvor noch nie verspürt hatte. Das Männchen mit der roten Zipfelmütze setzte sich vor es auf einen kleinen Stein und sah es lange an. Sein Blick war warm und gutmütig, doch es lag auch etwas Sorge mit darin. Kein Heinzelmännchen sieht gern seine Schützlinge leiden, so wie eine Mutter ihr Kind nicht leiden sehen mag.
„Nun kleines Pflänzchen, erzähl mir, was dich so bedrückt, was dir die Lebensfreude raubt und dich welken lässt trotz nahrhaftem Boden und Sonnenschein“, durchbrach das Männchen die Stille.
Das Pflänzchen erhob seine welken Blätter und erzählte ihm alles. Es erzählte von der Schönheit, die es umgab, die Tiere, die es nicht wahrnahmen, von seinem aufflammenden Wunsch doch selbst ein Tier zu sein und von der schmerzenden Antwort der hochnäsigen Ricke.
Das Heinzelmännchen hörte aufmerksam zu und nickte verständnisvoll. Dann sagte es dem traurigen, schon fast verdorrtem Pflänzchen, dass jede Pflanze etwas ganz Besonderes ist und ihren Sinn in dieser Welt hat. Jede Blume, jeder Baum und jeder Grashalm hat seine Aufgabe. Sie sind nicht nur da, um als Futter zu dienen. Sie sind viel mehr. So auch das kleine Pflänzchen. Das Heinzelmännchen wusste, welche Kraft in diesem zarten Geschöpf steckte und dass es nur einen kleinen Stups in die richtige Richtung bräuchte. Es unterhielt sich sehr lange mit dem Pflänzchen. Durch dieses Gespräch wurde beiden klar, dass der eigentliche Wunsch ein Tier zu sein, nur ein Wunsch war, größer und stärker zu werden, um von den anderen, den Pflanzen, Tieren und auch den Menschen wahrgenommen und nicht immer nur niedergetrampelt zu werden.
Das Männchen hielt kurz inne und sah das Pflänzchen nachdenklich an. Dann hatte es eine Idee. Es würde etwas beim Wachstum nachhelfen und ihr ein paar tierische Eigenarten hinzufügen.
Die verdorrten Blätter des Pflänzchens wurden mit der Idee, des schnelleren Wachstums und den Besonderheiten wieder etwas frischer und das Pflänzchen schöpfte Hoffnung. Da kramte das Heinzelmännchen in seiner Hosentasche und holte ein Fläschen mit einer sonderbaren Flüssigkeit heraus und schüttete sie auf den Boden, wo das Pflänzchen seine Wurzeln hatte, damit es davon trinken konnte. Dies tat es auch sofort und nahm große Schlücke davon.
Dazu sagte es einen magischen Spruch:
„Wachse hoch und wachse stark, dass niemand dir was antun mag. Bring Heil und bring den Segen für alle Lebewesen. Das Böse wehre und lass nur das Gute sich mehren.“
So war es geschehen. Das einst so kleine Pflänzchen wuchs zu einer stattlichen Pflanze mit gezackten Blättern heran. In ihr war nun so viel Eisen, wie es nur im Blut der Tiere und Menschen zu finden ist, damit der Geist in deren Körpern bleibt und nicht ständig in der Welt umherschwirrte. So geschah es auch mit ihr und sie wurde klarblickend, sie blieb nicht mehr in ihren Illusionen und Wunschvorstellungen gefangen, sondern war in der Gegenwart und wurde sich ihrer Selbst immer mehr bewusst, wie großartig sie sei und schon immer war.
Die Pflanze war überglücklich, sie leuchtete vor Freude in einem ganz besonderen Grünton. Sie bedankte sich bei dem Heinzelmännchen, welches sich sehr mit der Pflanze freute und nun langsam wieder zurück in den Wald verschwand.
So stand die große, tierische Pflanze da, wurde von den Blumen bestaunt und erfreute sich seiner selbst. Alsbald, als die hochnäsige Ricke wiederkehrte, rief ihr die Pflanze zu, dass sie es geschafft habe, ein Tier zu werden, ein Tier in Pflanzenform. Doch das Reh wollte diesem unsinnigen Gerede der Pflanze nicht weiterzuhören und stieg über sie hinweg. Dabei verbrannte sie sich den Bauch an den Brennhaaren, die die Pflanze durch den Zauber bekam und wie das Eisen in den Fasern zu ihrer tierischen Eigenart gehörte. Es brannte die Ricke wie tausend Ameisen- und Bienenstiche an ihrer wenig behaarten Bauchdecke, sodass sie schmerzerfüllt in den Wald zurücksprang und sich von nun an fern von der Pflanze hielt. Sie erschrak selbst etwas vor ihrer neuen Kraft und hatte Mitleid mit der Ricke, doch ein kleines bisschen Schadenfreude schwang in ihrem Mitleid gleichwohl mit, denn so gemein wie die Ricke zu ihr war, hatte sie es vielleicht nicht anders verdient und würde nun sicher zu niemanden mehr so herablassend und gemein sein.
Eines Tages kam auch ein Mensch des Weges und verbrannte sich ebenfalls an dieser besonderen Pflanze. Er schrie dabei überrascht und voller Schmerz auf und rief: „Was ist das für eine Pflanze?! Sie brennt mir Nesseln auf die Haut … Autsch … diese BRENNNESSEL!“
Und so kam die Pflanze zu ihrem Namen und wurde ein allseits beliebtes Heilkraut. Sie wird noch heute, wenn auch mit Vorsicht vor den Brennhaaren, von jung und alt gepflückt und bewundert. Ihre brennenden Nadeln schützen auch ihre neuen Freunde, die Schmetterlinge vor gefräßigen Feinden. Es ist alles noch viel besser als es sich die Brennnessel als junges Pflänzchen erträumt hatte und so genießt sie es Beschützerin, Heilerin und Zuhause für viele Lebewesen zu sein.