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Von der Faszination zur Liebe
Nicht, dass ich wirklich Angst gehabt hätte, aber der Blick über die Bettdecke verhieß nichts Gutes. Der Raum schien enger zu werden, die Ecken des Zimmers sich konkav mir entgegenstrecken zu wollen. Schnell aufstehen, ... schien mir jetzt die einzige Lösung. Auf der Bettkante sitzend, fing ich an über das Geschehene nachzudenken. Wer war ich eigentlich und war ich je ehrlich zu mir selbst? Lara lag noch im Bett. Sie schlief ruhig und wirkte harmlos. Sie schlafend und ich sitzend wussten stets beide, dass es nicht so war.
Leise ging ich aus meinem Zimmer ins Bad. Dort war es kalt und ich ließ, bevor ich mich auszog und meine Zähne putzte, die Dusche an, um den Raum durch das warme Wasser zu erwärmen. Das leise Surren des niederprasselnden Wassers beruhigte mich etwas, ich zog mich aus und genoss das warme Wasser, wie es meinen Körper Stück für Stück befeuchtete. Ich konnte die Nacht kaum schlafen. Lara machte mir mit ihren großen Augen Angst, mit ihrer Besessenheit, immer nur das Richtige für sich selbst zu tun. Wenn ich früher von dem kleinen Sielplatz hinter dem Haus wieder nach Hause kam, fragte mich meine Liebende Mutter immer, ob ich schön mit den anderen Kindern gespielt habe. Laras Mutter wird wohl gefragt haben, ob sie selbst Spaß gehabt habe. Vielleicht war das der Grund, warum sie es nicht schaffte, richtige Freunde zu finden.
Während ich so dastand und nachdachte, klopfte mein Mitbewohner Antoine an die Tür. Antoine sah gut aus, Kind spanischer Eltern mit französischem Vornamen. Seine braunen Haare lagen immer lässig. Wenn man ihn sah, brauchte man nicht zu erklären, woher sein unbändiges Selbstbewusstsein rührte. Lara fand ihn zwar kindlich, aber sie konnte ihre heimliche Faszination für ihn nicht verbergen. Ich rief Antoine zu, er solle kurz warten, stellte die Dusche ab, zog mir meinen lilanen Morgenmantel über und verließ Antoine lachend grüßend das Badezimmer.
Als ich mein Zimmer betrat, schlief Lara immer noch. Zärtlich streichelte ich ihr über die Wange und flüsterte ihr zu: ‚Wir müssen los.’ Ihr Blick wanderte durch den Raum, in die Ecken, die ihr nicht bedrohlich erschienen, zu mir, zu dem Bücherstapel mit Marx’ 'Kapital' und Foucaults 'Die Ordnung des Diskurses', zu der grünen Wand hinter dem Bett, auf der 'George Best – Fuck The Rest' stand und auf den Teddy neben meinem Bett. Seitdem wir uns in der Uni kennengelernt hatten, faszinierte Lara sich für meine Widersprüchlichkeiten. Sie konnte mich nicht einordnen in ihr System von Homologien: gut-böse, spannend-langweilig, links-rechts oder klug-dumm. Tiefe Furcht durchzog meinen Körper und die Ungewissheit plagte mich, ob sie mich wohl lieben könnte. Sie schaute mich an, sagte, dass sie mich liebe, verließ das Zimmer und die Ungewissheit blieb.
Wir waren gerade eine halbe Stunde unterwegs im Auto, ich fuhr, als Lara anfing mit mir zu sprechen. Sie würde sich in Belgien nicht nur für Brügge interessieren, sondern wollte ebenso nach Antwerpen und wenn es ginge, wolle sie auch noch nach Brüssel. Warum wir uns gerade nach Belgien aufmachten, um uns und jeder sich selbst zu finden, war uns nicht ganz klar. ‚Das Land hat was Französisches’, meinte Lara vorher, ‚ich war schon einmal für ein halbes Jahr in Frankreich, weißt Du?’ Zwar seien die Menschen in Belgien nicht so schön wie die in Schweden, Lara war auch mal in Schweden, doch Belgier sind auch hübsch. Während ich Lara so zuhörte, war es mir, als wollte ich sofort schreien. Wenn ich noch einmal was von Schweden höre, dachte ich, fahre ich den Wagen gegen den nächsten Baum auf dieser Allee. Lara überbetonte schlichtweg alles das, was sie tat und konnte. Jeder ihrer Lebensabschnitte war ein Erfolgserlebnis für sich, es bedurfte der fortwährenden Erinnerung daran und an die damit einhergehenden Kenntnisse und Erfolge. Ich war glücklich darüber, dass Antoine in diesem Moment anrief und mich fragte, ob er den Alkohol aus meinem Zimmer nehmen dürfe. Ich werde ihn in der nächsten Woche ja wohl kaum brauchen und schließlich habe er es sich verdient, nachdem er mir so viel zugehört hatte. Ich willigte ein, ohne Lara zu sagen, worum es ging und legte wieder auf. Lara sagte: ‚Je veux domir, das heißt, ich will schlafen.’
Während Lara mir noch erklärte, dass man die hell erleuchteten belgischen Autobahnen sogar aus dem Weltall bei Nacht sehen könnte, schlief sie ein. Ruhig fuhr ich unseren kleinen Wagen weiter Richtung Brügge und überlegte. Lara hatte eine gewisse Ausstrahlung, als ich sie kennenlernte, der ich mich einfach nicht entziehen konnte. Sie hatte etwas intellektuell-snobistisches und lässig-cooles. Ich verließ meine langjährige Freundin für sie, verbrachte jeden Tag mit ihr und ihrem Können und verlor mich selbst. Alles richtete sich von nun an auf sie aus: meine Tagesplanung, meine Lesegewohnheiten, mein Musikgeschmack. Lara beanspruchte alles und man merkte, wie sie sich in dieser Rolle gefiel. Ich gefiel mir auch, als ihr vermeintlicher Retter, der sie versteht, der sie durchschaut und der ihr hilft.
In Brügge angekommen, beziehen wir unser kleines Zimmer. Ich sehe Lara fest in ihre großen Angst einflößenden Augen:
‚Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr. Das ist zu viel. Zu viel. Bitte bleib bei mir. Bei mir.’
‚Du musst es aushalten. Du wirst es aushalten müssen. Ich kann so etwas aushalten.’
Wir schlafen miteinander, ich fühle mich schlecht und möchte ins Kissen brechen. Antoine schreibt mir, wo meine Kondome sind. Ich antworte ihm. Wir stehen auf, duschen uns, fahren mit dem Taxi in die Stadt und essen.
Und es war mir, als ob ich gehe und ich ging.