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Von der Erde genommen

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27.03.2002
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Von der Erde genommen

Von der Erde genommen

„Ich habe die Schnauze voll. Ich sage dazu nichts mehr," der Wirt wandte sich von dem Reporter, der vor dem Tresen stand ab und beschäftigte sich damit in der Spüle einige Biergläser zu spülen, die allerdings schon sauber waren. Er verrichtete diese Tätigkeit mit solcher Heftigkeit und übertriebener Sorgfalt, daß der Reporter keinen Gedanken mehr daran verschwendete, diesen zutiefst zornigen Menschen noch ein weiteres Mal zu belangen. Jedoch blickte der Wirt, ein großer Mann mit Schnauzbart und leicht ergrautem Haupthaar, das sich bereits zu lichten begann, wieder auf und atmete laut aus.
„Die haben uns ganz schön beschissen. Alle waren sie hier, alle. Politiker, Ökos, Reporter und das ganze Pack." Wieder wusch der Wirt die Biergläser und versuchte seine Konzentration auf die Tätigkeit zu verwenden und das Thema fallen zu lassen. Der Reporter sah auf die Biergläser.
„Hat man Ihnen denn nichts gesagt, ich meine, ließ man Sie im unklaren darüber, was mit dem Dorf geschehen soll?"
„Man hat gesagt, daß man eine Lösung finden würde, die für alle gut sein wird. Beschissen hat man uns. Das Dorf machen die platt und uns steckt man in irgendwelche Wohnungen und Vororte. Wissen Sie überhaupt, was das heißt, wenn nicht nur einer sondern die Bürger eines ganzen Dorfes ihre Heimat verlieren?"
Man habe das alles dem Konzern Energia Nova zu verdanken. Dieser habe die Bewohner des Dorfes betrogen und weil man sich dann gewehrt hat, nutzten einige Personen ihre Verbindungen zu Politik und Staat und ohne viel Umstand war das Problem Dorf nicht mehr existent. Man hatte einfach entschieden.

„Über die Köpfe der Dörfler hinweg. Keiner hat etwas von dem gewußt, was hinter ihrem Rücken vorging und dann auf ihrem Rücken ausgetragen wurde. Deswegen mußte der Ministerpräsident auch seinen Hut nehmen. Ich sage Ihnen, daß ist ein Skandal. Schmiergelder wurden gezahlt und die Lobbyisten traten auf den Plan. Geschickt gemacht. Die Energia Nova wog ab zwischen Umweltschutz und Arbeitsplätzen", der Chefredakteur beugte sich über seinen Schreibtisch und reichte dem Reporter eine dicke Mappe. In ihr waren unzählige Briefe, Fotokopien von Zeitungsartikeln und Gerichtsbeschlüssen und anderer offizieller Papierkram enthalten.
„Arbeitsplätze waren also wichtiger, entschied man bei Energia Nova. Man hatte eigens dafür so eine Art Umfrage unter der Bevölkerung in Auftrag gegeben. Irgendein Meinungsforschungsinstitut fand dann heraus, daß heutzutage mehr Zustimmung bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zu machen ist, als bei der Trettung von Natur und Umwelt."
„Was für ein Institut war das? Kann man diese Umfrage denn ernst nehmen?" wollte der Reporter wissen.
„Ich glaube kaum. Das war wohl so eine dubiose Firma, die auch oft für Sender wie RTL oder dergleichen die Statistiken fälscht. Man legte dann diese Umfrageergebnisse nebst irgendwelcher anderen geschönten Zahlen dem Verwaltungsgericht vor und siehe da: das Dorf sollte dem Tagebau weichen."
„Aber der ganze Skandal ist doch nun schon vorbei. Wir haben uns doch mächtig ins Zeug gelegt um vernünftig darüber zu berichten. Eigentlich interessiert diese Sache doch niemanden mehr. Warum also soll ich da hin und dort über einen Schützenzug berichten. Etwas trivialeres gibt es wohl nicht?"
„Mein Lieber, das wird der letzte Schützenumzug eines Dorfes sein, das es in einem Jahr nicht mehr geben wird und über dieses Buch ist unser aller Landesvater und Ministerpräsident Herr Doktor Friedrich Bein gestolpert. Dieses Dorf entwickelte sich dermaßen zur Kontroverse, daß hier noch einige Köpfe rollen könnten."
Der Chefredakteur erhob sich aus seinem Sessel, der ein ächzendes Geräusch von sich gab, und ging zum Fenster um auf die trübe, verschleierte Stadt zu blicken, sich eine Zigarre aus dem Ebenholzkästlein nehmend, das neben dem Bild seiner Frau stand, von der er sich bereits vor Monaten getrennt hatte. Er entzündete die Zigarre und ließ den Reporter schweigend an dem schweren Rauch teilhaben.
„Ich möchte, nein, ich verlange, daß Sie morgen früh dorthin fahren, sich ein Zimmer im Gasthaus nehmen und dort die Leute ein wenig befragen und die Atmosphäre einfangen. Dazu ein paar Bilder, ich weiß, Sie sind kein Fotoreporter, aber mit einer Kamera umgehen können Sie ja. Die ganze Geschichte wird dann in unserer Samstagsbeilage erscheinen."
„Nun gut, wie Sie möchten", verabschiedete sich der Reporter und mit einem leisen Groll verließ er das Büro des Chefredakteurs.

Als er in diesem Dorf ankam, erkundigte er sich beim Wirt des Gasthauses, wen er denn von der Gemeindeverwaltung sprechen könne, denn er sei hier um für die Zeitung eine Reportage über das letzte Schützenfest des Dorfes zu machen und brauche einige Informationen. Der Wirt verwies auf den Gemeindevertreter und auf einen Herrn Starke. Diese beiden müsse der Reporter sprechen, wenn er etwas über das Schützenfest und die Sache mit der Energia Nova erfahren wolle, die Herren würden sich ohnehin am heutigen Abend zu Stammtisch treffen und bei dieser Gelegenheit würde man ihn vorstellen können.

Der Wirt sagte nichts mehr, nur, daß er das Essen und die Getränke auf die Rechnung des Reporters setzten würde.
Der Reporter unternahm einen Spaziergang durch das Dorf, um sich umzusehen, die Gebäude zu betrachten und auch nicht zuletzt um die Landluft zu genießen, die er selten atmen konnte.
Eigentlich war der kleine Ort sehr hübsch. Hier und da standen einige Gebäude leer, die Bewohner waren vor den Abrißwerkzeugen geflohen. Die anderen Häuser waren von Efeu und wildem Wein überwuchert, die Vorgärten der Höfe und Wohnhäuser waren in wilde Vegetation gefallen, überall grünte es und roch es nach alten Pflanzen und verdorbener Erde. In den Ställen war kein Vieh zu hören, aus den Fugen der Straßenbefestigung wucherten Kräuter und kleine Äste, an den Zäunen blätterte die Farbe ab, die einzige Telefonzelle im Ort war geschlossen und die Bushaltestelle übersät mit Plakaten, die auf Veranstaltungen hinwiesen, die bereits vor Monaten gelaufen waren. Auf dem Dorfplatz stand eine Kastanie und in einem Kreis angeordnet einige der ältesten Häuser. Über einigen Türen standen Jahreszahlen. Die älteste, die der Reporter ausmachen konnte war eine 1598.
Rund 700 Menschen lebten hier. Davon waren nun schon ungefähr hundert weggezogen, wie der Reporter später erfuhr. Die verlassenen Häuser waren leicht auszumachen: die Fenster eingeschlagen, die Gärten überwuchert von Unkraut und Wildwuchs. Hier wollte man nicht mehr wohnen und nahm die Abfindung der Energia Nova dankbar entgegen, begrüßte die günstigen Finanzierungsmöglichkeiten für einen Neubau an einem andern Ort, fern von dem heimatlichen Dorf.
Der Reporter ging von einem Ende des Ortes bis zum anderen und sah sich die beiden gelben Ortsschilder an, das eine am Anfang und das andere am Ende. Die Stangen, an denen die Schilder hingen, waren verrostet, der Ortsname kaum zu erkennen und an einem Schild hatte jemand auf die Rückseite, die unterteilt war und auf der zwei Ortsnamen zu lesen waren, nämlich der des Dorfe, rot durchgestrichen und der des Nachbardorfes, neben den Namen dieses Nachbardorfes die Worte bereits totes Dorf geschrieben. Der Lack des Filzstiftes aber, mit dem die Schrift angebracht worden war, verblich nun ebenfalls und ließ den Reporter ahnen, daß diese Worte eine bittere Wahrheit enthielten, der er auf den Grund gehen wollte. Er nahm also die Strecke zum bereits toten Dorf auf sich, die vom Schild angegeben, etwa einen Kilometer lang sein sollte. Vorbei an Weiden, deren Gras fast mannshoch stand, Bäumen und vergessenem Ackergerät spazierte er durch die stille Landschaft. Vögel zwitscherten zwar hier, aber das für eine ländliche Gegend vertraute Geräusch von Traktoren oder Kühe fehlte auf beklemmende Weise, wie ein Ton, der die Nerven des Hörers bis aufs äußerste strapaziert und bei seinem Verschwinden eine Erwartung und eine Lücke zurückläßt.
Das bereits tote Dorf war ein Friedhof aus verfallenen Häusern und Steinhufen. Schilder warnten eindringlich vor dem Betreten der einsturzgefährdeten Gebäude.
Erst als der Reporter zurückkehrte, fielen ihm die Girlanden und Wimpelschnüre auf, die an den Straßenrändern eingepflanzten Birkenäste, die Tannenzweige, mit denen die Gartentore geschmückt waren und die abblätternde Farbe versteckten und die Fahnen, mit denen mansche Häuser geschmückt waren. Papierblumen von Rot und Weiß hatte man überall befestigt, den ganzen Schmuck hatte der Reporter nicht gesehen. Er fotografierte den Schmuck, einige Häuser und grüßte die Menschen, die noch ihre Häuser schmückten. Scheinbar den baldigen Untergang des Dorfes vergessend, begaben sich die Menschen mit freudigen Gesichtern an ihre Arbeit. Befremdlich kam es dem Reporter schon vor, aber vielleicht, so mutmaßte er, ist es doch ein Abfinden mit dem Schicksal, das ihnen drohte und ein letztes Feiern, intensiver als bisher, mag über den Schmerz hinweghelfen. Jedoch sollten sie ihre Heimat verlieren durch den Schaufelbagger und später sollten sie einige Kilometer von hier behaglich in ihren neuen Stuben sitzen und dort die Wärme genießen, die aus der geförderten Braunkohle, welche als elektrischer Strom Licht und Heizung und Fernseher antreiben würde. Man konnte dann in diesen Momenten an die Heimat denken, deren Boden für Wärme und Zufriedenheit sorgte, indem er verbrannte.

Abends traf der Reporter dann den Gemeindevertreter und Herrn Starke am großen Ecktisch des Gasthauses. Die übrigen Stammgästen ließen sich entschuldigen, denn man wolle die drei Herren ungestört lassen.
Wie der Reporter erfuhr, sei Herr Starke ein Zugezogener und der Gemeinderat, der Behrens hieß, habe mit Herrn Starke zusammen die Eingaben, Bürgerbegehren, Interviews, kurz alles, was an Arbeit gegen Energia Nova getan werden mußte, verfaßt und sei auch mit ihm zusammen vor den Gerichten erschienen. Man hatte sie immer zusammen auftreten sehen und bei jeder Pressekonferenz und bei jedem Interview. In der Mappe, die Herr Starke der Zeitung zugeschickt hatte, habe der Reporter ja alles gesehen. Die Akribie, mit der Herr Starke und Herr Behrens diese Dokumente kommentiert und zusammengestellt hatten, war für den Reporter erstaunlich. Nicht müde wollten sie werden im prozessieren und in der Öffentlichkeitsarbeit, aber den Giganten Energia Nova konnten sie nicht bezwingen.
„Wie Sie wissen gab es eigentlich nie eine Chance", sagte Herr Behrens. Herr Starke, der Zugezogene, erklärte, daß ihm innerhalb der letzten drei Jahre bereits einiges an Geld umgekommen sei.
„Warum setzten Sie sich als Zugezogener denn so für das Dorf ein?" wollte der Reporter wissen.
„Vor 35 Jahren, als ich noch ein Kindergartenkind war, nahm mein Vater mich mit in den Urlaub. Er und ein Freund und dessen Sohn wollten ihren Urlaub auf dem Lande verbringen. Ich war ja noch klein und sollte das Landleben richtig kennenlernen, mit der Natur in Kontakt kommen und etwas anderes sehen als die Stadt."
„Ich kenne Herrn Starke nun schon seit damals. Ich bin etwas älter als er, aber wir haben oft zusammen gespielt und unsere Abenteuer erlebt."
„Tja und es gefiel meinem Vater so gut, daß wir fortan fast während zehn Jahren jedes Jahr einmal hierher kamen und Urlaub machten. Ich wuchs teilweise hier auf, feierte meine Geburtstage hier und erlebte eine ganze Menge wichtiges."
Herr Starke zog dann vor 7 Jahren in das Dorf. Jeder kannte ihn und er wurde respektiert und war ein gern gesehener Gast bei einigen Familien. Herr Behrens wußte von der langen Tradition des Schützenvereins zu berichten, der seine Gründung zehn Jahre nach der Gründung des Dorfes feiern konnte. Man hatte sogar ein Fahne anfertigen lassen, die traditionell als erstes vor dem Zug getragen werden mußte. Die Fahne selbst sei nun an die 150 Jahre alt, der Ehrenpokal, ein Wanderpokal übrigens zähle schon stolze 236 Jahre. Ein uraltes Stück. Man habe sich allerdings noch keine Gedanken darüber gemacht, was aus diesen Reliquien werden sollte, wenn das Dorf eines Tages nicht mehr sein wird, wohl merkte man an, daß ein Heimatmuseum bereits Interesse an den Stücken gezeigt hatte. Die Tradition sollte an diesem Wochenende nun ihr eigenes Ende finden. Der letzte Schützenzug sollte ziehen und das ohne Schützenkönig.
„Ohne Schützenkönig?" verwundert, zu recht verwundert, fragte der Reporter.
„Nun, der hat uns sitzenlassen", mit verächtlichem Schnauben kommentierte Herr Behrens die Antwort von Herrn Starke.
„Eigentlich wollte Herr van Freens das bisher größte Schützenfest finanzieren, daß hier je gefeiert wurde. Er versprach einen opulenten Schmuck, eine zweite Musikkapelle, sogar ein Festzelt mit Getränkeausschank und einer Liveband, hinterher ein Feuerwerk."
„Wer ist denn dieser Herr van Freens? Doch nicht der Immobilienmakler?"
„Eben dieser."
Der Reporter erfuhr, daß Herr von Freens, bevor er das Dorf verlassen hatte, ohne jeden Kommentar, auch nicht bereit, den Herren Starke oder Behrens eine Antwort auf ihre Fragen zu geben, noch angekündigt habe, er werde sich zum Fest selbst sehen lassen. Aber nichts dergleichen geschah. Der Schützenkönig blieb fort.
Auch berichtete man dem Reporter manche Anekdote und auch interessante Details betreffend des Schützenfestes und seiner Tradition.
„Aber ist es nicht ein fast schon zynisches Spiel, wenn Sie noch einmal den Schützenzug durch das Dorf unternehmen wollen?" wollte der Reporter wissen.
„Irgendeinmal muß es das letzte Mal sein. Wir haben lange überlegt, ob wir, nachdem wir erfuhren, daß unser Dorf dem Braunkohlentagebau weichen muß, noch unser Schützenfest feiern sollten, aber Herr Behrens und ich wollten es eigentlich nicht zulassen, daß sich das Dorf so einfach von der Erde nehmen läßt."
„Sie wollen also ein Ende mit Pauken und Trompeten?"
„So dramatisch würde ich es nicht ausdrücken", warf Herr Behrens ein. „Es war ja alles entschieden, somit mußten wir damit rechnen, daß keiner unserer Nachbarn dem zustimmen würde, aber sie alle taten es."
„Ich habe gesehen, wie sie ihre Häuser und die Straßen schmückten. Sie machten mir alle einen, ich will es mal vorsichtig sagen, glücklichen Ausdruck."
„Wir erinnern uns an die Vergangenheit. Wir werden unsere Heimat verlieren, man wird dieses Dorf bald nicht mehr finden und eines Tages werden wir in Vergessenheit geraten..."
„Sind wir schon, Anton", warf Behrens ein. „Längst berichtet keine Zeitung, kein Lokalsender oder irgend jemand mehr über uns." Der Reporter sah verlegen zu Boden und Herr Starke ergriff wieder das Wort: „Jedenfalls wird hier ein Dorf ausgelöscht, das Land, von dem die Menschen hier jahrhundertelang lebten wird bald nicht mehr da sein, die Häuser und Höfe, die schon seit Jahrhunderten stehen, werden nicht mehr sein. Die Toten dieses Dorfes liegen ohnehin auf dem Zentralfriedhof, ungefähr 20 Kilometer von hier in der Stadt."
„Die Ironie ist ja, daß ihr Dorf nur zweieinhalb Kilometer von der Tagebaugrenze entfernt liegt."
Behrens lächelte verkniffen. „Ja das ist lächerlich."

Die beiden Herren bedanken sich bei dem Reporter, daß seine Zeitung trotz der vollständig erlahmten Medieninteresses, den letzten Bericht über das Dorf veröffentlichen wollte und damit die Spur dieses Ortes nicht ganz zum Hohnlächeln der Geschichte wird. Immerhin sollte die Erinnerung an das Dorf nochmals wach werden, auch wenn keine Gnade zu erwarten war.

Am nächsten Tag versammelten sich die Dorfbewohner auf dem großen Platz mit dem mächtigen Baum. Um die Eiche herum waren Bänke angebracht. Ein paar der Musikanten und der Schützen hatten sich darauf niedergelassen und warteten ab. Der Himmel bewölkte sich, eine Stille breitete sich aus und wartete.
„Na hoffentlich macht uns das Wetter nicht noch einen Strich durch die Rechnung", sagte Herr Starke
Die einzige Kapelle des Schützenzuges setzte sich gleich nach der Ehrengarde in Bewegung. Die Ehrengarde selbst bestand aus dem Gemeindevertreter, dem Ladenbesitzer, zwei alten Dorfbewohnern, dem Wirt und Herrn
Starke, der die Fahne trug. Die Fahne, zum Schutz vor Wind und Wetter in eine Plastikhülle geschweißt, war in den Farben Grün, Weiß und Gold bestickt, den Namen des Dorfes tragend und das Jahr der Gründung in ebenfalls goldenen Zahlen darunter. Anno 1697 war auf der Fahne z u lesen. Darunter hatte man einen kurzen Querstrich und die Zahl 1997 mit einer Lackfarbe geschrieben. Gegen den dunklen Himmel war die stark verblichene Schrift allerdings gut zu erkennen, sie leuchtet eigentümlich.
Die Ehrengarde war in grüne Lodenuniformen gekleidet und man trug weiße Handschuhe, jeweils einen Hut aus Loden, an dem eine weiße Feder unter das Hutband gesteckt war. Herr Starke trug einen schwarzen Anzug, einen Zylinder und ebenfalls weiße Handschuhe. An seiner Weste ließ sich ein goldenes Band ausmachen, im Knopfloch steckte eine weiße Nelke. Jedoch trugen alle Mitglieder der Ehrenkompanie, die Musiker der Kapelle, die Schützen und die Trachtengruppe, sowie der Lenker des Leiterwagens eine schwarze Binde um den rechten Arm.
Die Kapelle folgte. Sie bestand aus Dörflern und einigen derer Verwandten. Der Kapellmeister hob seinen Stock, ließ ihn herabfallen, fing ihn noch bevor dieser den Boden berühren konnte auf, erhob ihn erneut in die Luft und hielt ihn quer vor seiner Brust. Gleichzeitig mit dem zweiten Erheben, hatte die große dumpfe Trommel begonnen. Der Trommler schlug den Knüppel hart gegen das Fell, es dauerte dann einige Sekunden, bevor er zum zweiten Male zuschlug, zum dritten Male und sofort. Dann setzte irgendwann die erste kleine Trommel ein, einen Wirbel erzeugend und dann gleichzeitig mit einem Schlag der großen Trommel stoppend.
Das zweite kleine Schlagwerk wirbelte hinein. Dem Rhythmus angepaßte marschierten die Gruppen los. Dem Fuhrwerk widerfuhr ein Ruck und die beiden Ochsen setzten sich in Bewegung, die Köpfe gesenkt und den massigen Körper hin und her wiegend.
Das Schlagen der Trommeln dröhnte über den Dorfplatz, die Bewohner kamen aus ihren Häusern, denn sie wußten nun, daß der Zug durch den Ort marschierte.
Der Wind wehte einsam die lustigen bunten Wimpelschnüre hin und her, ein paar weiße Papierblumen wurden aus den Birkenästen geweht und purzelten über die Straße. Die Trommeln wirbelten und schlugen dumpf, die Ehrengruppe an der Spitze sah zum Himmel empor, der sich mehr und mehr verdüsterte.
Der Kapellmeister hielt den Stab wieder quer vor die Brust und die Trommeln erstarben. Der Zug hielt, die Schützen schulterten ihre Holzgewehre, die sie bisher im Paradegriff trugen, die Trachtengruppe begann Blütenblätter aus den Körben zu streuen. Hinter allem Das Fuhrwerk mit seinem düsteren Kutscher. Ein Ochse muhte laut und durchdringend. Auf dem Leiterwagen selbst lag nichts außer ein paar Tannenzweigen, die harzig und durchaus stark dufteten. Während der Zug durch die Straßen des Ortes zog, begaben sich die Bewohner vor ihre Türen. Kein Winken fand statt, keine Begrüßung, weder eine stumme noch eine vernehmbare. Die Frauen, Männer, Kinder und Greise sahen die Ehrengarde, die Kapelle, die Schützenkompanie, die Trachtengruppe und das Fuhrwerk.
Dann vernahm man von der Kapelle ein dumpfes Grollen, das der Mann an der großen Trommel verursachte, es klang wie das entfernte Grollen eines Gewitters. Die Bläser setzten ein, stockend, dann etwas lauter, wie ein Vorwurf, dann schlug die Trommel zu den Bläsern. Die Musik wurde leiser, klagend und vorwerfend. Dann beschrieb sie wie in einem kleinen Rinnsal ihre Klage weiter. So klagte die Musik als der Schützenzug durch das Dorf marschierte.
Eine Begebenheit fiel dem Reporter auf: immer, wenn der Zug an einem Haus vorbei gezogen war, schlossen sich die Bewohner des Hauses oder Hofes dem Zug an. Das Fuhrwerk war vorbei und die Familie ging auf die Straße, folgte dem Wagen mit den Tannenzweigen auf der Ladefläche. Stumm, ohne Gruß und Zeichen, schlossen sich immer mehr Dörfler an.
Fehlen jetzt nur noch die Pechfackeln, dachte sich der Reporter. Er schoß einige Fotos, denn auch wenn ihm die Szene sehr pathetisch vorkam, fesselte ihn das Gespenstische. Der Himmel, der nun vollends die Sonne verdunkelte paßte eigentlich sehr gut dazu, erkannte der Reporter und notierte sich diese Untermalung des Ereignisses.
Einmal durch das ganze Dorf zog man. Die Musik setzte hie und da aus, schwoll von neuem an und begleitet den Zug bis zu seinem Ziel, dem Dorfplatz.
Auf dem Dorfplatz angekommen, legte der Wirt die Fahne nieder, die ganze Gesellschaft versammelte sich um den Baum und zwei Schützen luden die Tannenzweige vom Leiterwagen, verteilten sie an die Umstehenden und dann wurde es still, lediglich am Himmel grollte es, das Licht wurde grünlich und ein frischer Wind brachte erste vereinzelte Regentropfen, Wetterleuchten ließ das grünliche Licht für eine Sekunde verschwinden.
Die Festgesellschaft nahm die Hüte, Mützen und Helme ab. Ein Ochse muhte verwirrt, als enfernte Blitze zuckten und Donnergrollen heftige Schläge in das Land schickte. Keine Rede war zu hören, kein Gespräch, nur völliges Verstummen. Der Regen setzte ein, wurde unangenehm und Blitze änderten den Himmel. Im Donnergrollen warfen alle Dorfbewohner die Tannenzweige in Richtung des großen alten Baumes, senkten die Köpfe und verließen dann in verschiedene Richtungen den Platz. Das Ochsenfuhrwerk wurde eilends in den Stall gebracht, denn die Tiere verspürten Panik.

Der Reporter eilte zum Gasthaus. Dort erwarteten ihn schon einige Dörfler, die sich dort versammelt hatten und darauf warteten, daß der Wirt, der sich beeilte seine Kleidung zu wechseln, ihnen servierte. Es gab kein Fest, weder Herr Behrens noch Herr Starke hielten eine Ansprache, lediglich hatte sich die Festgesellschaft im Saal versammelt, der für solche Gelegenheiten oder andere Veranstaltungen und Feste genutzt wurde. Der Reporter wurde von Herrn Behrens eingeladen, sich mit an die Tafel zu setzten und mit zu feiern, wie er sich ausdrückte.
„Das sieht mir gar nicht nach einer Feier aus."
„Wer sagt denn, daß alle Feiern fröhlich und laut sein müssen? Es gibt auch andere Gelegenheiten, die man Feier nennt und bei denen es stiller zugeht, wenn ich sie daran erinnern darf."
Dem war wohl nicht entgegenzusetzen. Also nahm der Reporter neben Herrn Starke Platz und ließ sich ein Bier bringen.
„Wie gefiel Ihnen der Zug?" wollte Herr Starke wissen.
Noch ehe der Reporter antworten konnte, trommelte der Donner mit solcher Heftigkeit, daß die Scheiben vibrierten und das Parkett des Saales zu beben begann. Einige Augenblicke war es still, dann durchbrach ein Blitz die Stille und mit einem Knirschen, daß von einem großen Etwas stammen mußte, wurde die kurze Helligkeit wieder finster. Im gleichen Augenblick loderte es draußen rot auf, ein lautes Knirschen und Knistern wurde vernehmbar und ließ die Leute sich erheben von ihren Stühlen. Sie stürmten zu den Fenstern und sahen, wie der große Baum in der Mitte des Dorfplatzes anfing niederzubrennen. Der Blitz hatte ihn geteilt, der Baum brannte nieder. Gebannt sahen die Dörfler zu. Der Reporter wollte diesen Schluß des letzten Schützenfestes nicht notieren, er erschien ihm zu erdacht.

© 1999 Mirko Stauch, Krefeld

 

Hi Mirko!

An den „Schauspieler“ kommt diese Geschichte zwar nicht ran, aber gefallen hat sie mir trotzdem.
Das Thema war mal wieder was anderes und hat sich daher abgehoben von der Masse an Geschichten, welche es hier zu lesen gibt. Vom Großteil jedenfalls.

Gestört hat mich persönlich als Leser jedoch, dass die Emotionen der betroffenen Einwohner zu wenig erwähnt wurden.
Selbst bei den beiden Herren Starke und Behrens konnte ich nicht herauslesen wie sie sich tatsächlich fühlen.
Ein paar Sätze mehr über die Ängste, die Wut und die Zukunfspläne wären ganz interessant gewesen.
Auch fehlt mir irgendwie eine genauere Erklärung, wie die Gemeinde so einfach überrumpelt werden konnte. Oder habe ich es einfach nicht kapiert?
Du deutest immer nur an.

Was mich irritiert hat war der Baum.
Zuerst schreibst du über eine Kastanie die auf dem Dorfplatz steht.
Später dann erwähnst du eine Eiche.
Sollte das ein und der selbe Baum sein, und du hast dich nur vertan? Oder sind es zwei unterschiedliche Bäume?

Einige Stilfehler sind mir noch aufgefallen.

„Ohne Schützenkönig?“ verwundert, zu recht verwundert, fragte der Reporter.

Entweder schreibst du, fragte der Reporter verwundert, oder erklärst das „zu recht verwundert“.
Sonst hört sich der Satz etwas merkwürdig an.


„Nun, der hat uns sitzen lassen“, mit verächtlichem Schnauben kommentierte Herr Behrens die Antwort von Herrn Starke.

Mach nach der direkten Aussage einen Punkt.
Ansonsten stell den Rest des Satzes folgendermaßen um: „Nun, .....“, kommentierte Herr Behrens mit verächtlichem Schnauben die Antwort von Herrn Starke“
Oder einfach nur: „Nun, ...“, kommentierte Herr Behrens mit verächtlichem Schnauben Herrn Starkes Antwort.
Aber ehrlich gesagt passt das Wort „Antwort“ überhaupt nicht rein. Denn Herr Starke hat ja keine direkte Antwort auf den Schützenkönig gegeben. Du hattest das ja als Erzählung geschrieben und nicht als direkte Aussage einer bestimmten Person.


“Irgendeinmal muss es das letzte Mal sein...“

Ich hab extra in meinem Wörterbuch nachgeschlagen ob es „irgendeinmal“ überhaupt gibt. :D
Es steht tatsächlich drin.
Da es im allgemeinen Sprachgebrauch jedoch nicht unbedingt verwendet wird, hört es sich äußerst merkwürdig an.
Aber vielleicht wolltest du ja ganz genau dieses Wort, und kein anderes verwenden. Künstlerische Freiheit nennt man das dann wohl? :D


“Ich habe gesehen, wie sie ihre Häuser und die Straßen schmückten. Sie machten mir alle einen, ich will es mal vorsichtig sagen, glücklichen Ausdruck.“

Ausdruck? Hört sich auch äußerst seltsam an.
Zwar denke ich mal, dass Eindruck das falsche Wort für das wäre was du damit sagen wolltest, aber würde alle mal besser passen als Ausdruck.

Und zum Schluss, um noch mal auf meine anfänglichen Sätze zurück zu kommen, ist dies ein gutes Beispiel.
Sie schienen recht glücklich zu sein mit ihrer Situation. Bei der Veranstaltung selbst, da machten sie einen unglücklichen Eindruck und waren schweigsam.
Das meinte ich mitunter mit „etwas mehr Erklärung, wie es ihnen wirklich geht“

Nimm es mal als Kompliment hin, dass ich mich so ausführlich geäußert habe. ;)
Das mache ich nämlich nur bei Geschichten die mir wirklich sehr gut gefallen, und bei Personen bei denen ich merke, sie haben sich wirklich versucht Mühe zu geben.

Liebe Grüße

Andi

 

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