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Von den Tücken der Zeitreise
Es war soweit. Professor Edward Forsythe hatte seine Zeitmaschine fertiggestellt. An diesem schönen Sonntag im Juni des Jahres achtzehnfünfundsiebzig wollte er damit seine erste Reise antreten.
Sein Assistent, George Smythe, hatte den ganzen Morgen damit verbracht, die Einzelteile aus dem Labor im Keller nach oben in den Salon zu transportieren, um sie dort wieder zusammenzusetzen. Denn natürlich war das Labor keine geeignete Umgebung, um ein solches Unterfangen in die Tat umzusetzen.
Gerade als er die letzten Messingröhren für die Dampf- und Kühlleitungen zusammenschraubte, kam der Professor herein. Er trug einen dunkelbraunen, karierten Anzug aus dickem Tweed und einen Hut, als wollte er zur Jagd gehen. Sein kurzer, grauer Bart war frisch gestutzt und seine Stiefel auf Hochglanz poliert.
„George!“, rief er mit lauter Stimme, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er nach ungeteilter Aufmerksamkeit verlangte. „Ich muss mit Ihnen sprechen.“
„Ja, Professor Forsythe, ich komme schon“, gab der pflichtbewusst zurück und legte die Rohrzange hin, um zu seinem langjährigen Arbeitgeber zu eilen.
„Hören Sie, George, ich bin im Begriff, eine Zeitreise anzutreten.“
„Ich weiß, Professor, das ist so aufregend. Wo werden Sie hinreisen? In die Zukunft? Oh, ich möchte zu gern sehen wie die...“
Mit einer harschen Handbewegung schnitt der Professor ihm das Wort ab „Papperlapapp. Ich reise schon seit meiner Geburt in die Zukunft. Da ist nichts Besonderes dabei. Aber darum geht es jetzt nicht. Ich werde Ihnen jetzt Instruktionen geben, für den Fall, dass etwas schief gehen sollte. Hören Sie gut zu. Was immer auch bei diesem Experiment passiert, Sie werden die Zeitmaschine nicht berühren. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja, aber, Professor,...“, versuchte ein sichtlich verwirrter George zu antworten, doch wiederum unterbrach der Professor ihn mit energischen Worten. „Kein aber, George. Ich weiß, Sie sind kein Dummkopf. Auch, wenn Sie keine Ahnung haben, wie diese Maschine funktioniert, würden Sie nichtsdestotrotz in der Lage sein, sie zu bedienen. Ich wünsche nicht, dass Sie versuchen, irgendwelche Geschehnisse rückgängig zu machen. Solche Aktionen können ungeahnte Folgen nach sich ziehen. Folgen, für die Sie nicht bereit sind, George. Haben Sie das verstanden?“
„Ja, Professor, ich verstehe“, entgegnete George verdattert.
„Tun Sie das?“, brummte Professor Forsythe offenkundig unbefriedigt mit dieser Antwort, und machte sich daran, die Zeitmaschine zu inspizieren.
Er schritt die zwei Stufen der kreisrunden Metallplattform nach oben und stellte sich in der Mitte auf. Dort überprüfte er nun das Gewirr von Röhren und Hochspannungsdrähten auf ihre korrekten Verbindungen, während George sein Werkzeug wegräumte und den Kessel anheizte.
Schon bald darauf hörte man Dampf durch die Leitungen der Zeitmaschine zischen. George war dazu übergegangen, die Elektrisierscheibe mit der Hand zu drehen, die die nötige Hochspannung für die Kuppelleitungen erzeugen sollte. Sobald der Kessel genug Druck aufgebaut hatte, würde eine kleine Dampfmaschine diese Aufgabe übernehmen. Aber vorerst wollte der Professor herausfinden, ob es auch keine Kurzschlüsse gab, oder gar Lichtbögen dort entstünden, wo sie nicht entstehen sollten.
Es knallte zwar ein paar Mal, was auf die Feuchtigkeitsbildung durch den Dampf zurückzuführen war, aber das würde sich geben, wenn erst alles vollständig aufgeheizt war.
Der Professor war zufrieden.
Während die Zeitmaschine langsam auf Temperatur ging, wienerte George noch das Messinggeländer, das sich außen um die Plattform herumzog. Der Professor saß unterdessen in seinem Lehnstuhl und paffte nachdenklich an seiner Pfeife.
Plötzlich stand er auf und schritt mit schnellen Schritten auf das Schaltpult zu, welches in einiger Entfernung von der Maschine aufgestellt war. Dicke Kabel und Schläuche liefen über den Boden darauf zu.
„Ich habe mich entschieden, George. Ich weiß jetzt, wohin ich reisen werde.“ Mit diesen Worten drehte er an den Knöpfen des Teakholz-Pults und legte Hebel um.
George hielt inne in seinem Tun um und fragte: „Wohin, Professor? Welches historische Ereignis haben Sie ausgesucht?“
„Ich werde“, begann der Professor, „in eine Zeit, vor meiner eigenen Geburt reisen, um...“ Plötzlich hielt er inne und sah auf. „Nein“, fuhr er schließlich fort, „ich werde es Ihnen nicht sagen George, die Versuchung wäre zu groß... Und halten Sie sich von den Kontrollen fern, hören Sie?“, fügte er scharf hinzu
„Ja, Professor, wie Sie wünschen“, gab sein Assistent, merklich enttäuscht, zurück.
„Nun gut, dann wollen wir beginnen“, sagte Professor Forsythe schließlich. Er schritt auf die Maschine zu und begann, Hebel umzulegen und Dampfventile zu öffnen. Ein dumpfes Summen war zu vernehmen, das schon bald das Tuckern der Dampfmaschine in den Hintergrund drängte. Lichtbögen flammten auf in den Schlingen der Leitungen, die auf der Plattform eine verwobene Kuppel bildeten. Der Professor kontrollierte ein letztes Mal die Einstellungen des Schaltpultes, dann begab er sich unter die Kuppel.
George wartete auf das Zeichen des Professors, um daraufhin den Hebel umzulegen, der die Gleichstrombatterien mit den Spulen verband, was im Endeffekt die Reise des Professors einleiten würde.
Vor lauter Aufregung, standen ihm Schweißtropfen auf der Stirn. Er sah, wie die Haare des Professors aufgrund der Hochspannung begannen, seitlich abzustehen, nun wurde es George auch klar, warum er einen Hut trug.
Langsam hob Professor Forsythe seinen Arm und blickte in Georges Richtung. Jetzt würde es jeden Moment so weit sein. Seine Knöchel traten weiß hervor, so krampfhaft hielt er den Griff des Hebels fest.
Der Professor gab das Zeichen. Plötzlich flog die Tür zum Salon auf und George stürzte herein. Wild gestikulierend rief er: „Nicht! Die Dampfleitung wird bersten!“
Während der Hebelhaltende George noch mit offenem Mund auf sein Ebenbild starrte, kam der Professor fluchend unter der Kuppel hervor
„George, zur Hölle noch mal, was haben Sie getan?“
„Aber Professor, Sie wären gesto...“ In diesem Augenblick gab es einen lauten Knall. Teile der Maschine flogen durch die Luft und bohrten sich in Boden und Wände des Salons.
Zurück blieb ein Loch in den Leitungen der Kuppel, mit einem verbogenen Rohr in der Mitte aus dem zischend der Dampf entwich.
Die Explosion hielt den Ärger des Professors nur wenige Sekunden im Zaum. Kaum hatte er den Schaden erfasst, wandte er sich auch schon wieder George zu, um ihm Vorhaltungen zu machen: „Ich habe Ihnen ausdrückliche Instruktionen gegeben, George. Sie haben mich sehr enttäuscht.“
„Aber, Professor, verstehen Sie doch, die Explosion hätte Sie getötet.“
„Und genau für einen solchen Fall galten auch meine Anweisungen, George! Wenn ich noch am Leben gewesen wäre, hätte ich so etwas ohnehin nie zugelassen. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?“, herrschte der Professor ihn an.
„Aber...“, erwiderte ein kleinlauter George, „...es war doch meine Schuld. Ich habe doch die letzte Verbindung nicht mehr richtig festgezogen, nachdem Sie mit mir gesprochen haben.“
Der Professor zögerte beim Anblick des zutiefst reumütigen George. Fast schien es, als wolle er ihm vergeben, doch plötzlich schüttelte er den Kopf und sagte: “Papperlapapp, also war es meine eigene Schuld. Ich hätte Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören sollen. Jedenfalls haben Sie unverzeihlich gehandelt und jetzt habe ich Sie zweimal am Hals.“ Mit diesen Worten zeigte er auf den anderen George, der noch immer an dem Hebel stand. Aber nicht mehr staunend und mit offenem Mund. George war zusammengesackt und sein Körper schlaff. Ein Stück Rohr ragte aus seiner Brust, von dessen Ende Blut tropfte.
Für einen Moment verlor der Professor die Fassung. „Oh mein Gott, George“, rief er, besann sich aber schnell wieder eines besseren und wandte sich George zu. „Sehen Sie nun, was Sie angerichtet haben?“
George starrte den toten Körper an, den das Rohr an die Wand genagelt hatte, dann wandte er sich mit ungläubiger Verzweiflung in der Stimme an den Professor „Er ist... ich meine, ich bin... tot?“
„Ja, er ist tot“, sagte Professor Forsythe und fügte dann hinzu: „Und Sie sollten an seiner Stelle sein. Oder ich, oder wer auch immer, nur nicht George.“
„Aber... Professor, ich verstehe nicht…“
„Natürlich verstehen Sie nicht, deshalb gab ich Ihnen auch Anweisungen, George. Anweisungen, die Sie nicht befolgt haben, deshalb sind Sie jetzt hier und George ist tot!“ George öffnete den Mund, doch der Professor ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Und jetzt hören Sie genau zu. Falls Sie beide noch leben würden, dann würde ich ihm eine Schrotflinte in die Hand drücken und von ihm verlangen, Sie zu erschießen. Nun, ich überlasse es Ihnen, was Sie mit sich selbst machen, ich muss jetzt nachdenken.“ Noch immer wütend verließ der Professor den Salon durch dieselbe Tür, durch die George erst ein paar Minuten zuvor hereingekommen war und überließ ihn sich selbst.
Als George ein paar Stunden später wagte, das Labor zu betreten fand er den Professor nachdenklich vor der großen Tafel stehend, die er über und über mit Formeln beschrieben hatte.
„Ich habe ihn, äh, mich begraben, Professor.“, meinte er kleinlaut, jederzeit mit einem weiteren Wutausbruch des Professors rechnend. Als er keine Antwort erhielt, fügte er noch hinzu: „Auf dem alten Friedhof, hinter dem Anwesen“
„Ach? Ja? Gut, gut...“, brummte der Professor schließlich, geistesabwesend. Kurz darauf vollendete er eine Formel auf der Tafel und trat ein paar Schritte zurück, um sein Werk zu betrachten. Er schien nicht sehr zufrieden mit dem Ergebnis. „Irgendetwas stimmt nicht, es kann so nicht sein“, murmelte er.
„George“, sagte er plötzlich „erzählen Sie mir, was passiert ist. Die Maschine ist also explodiert. Was haben Sie dann gemacht?“
„Nun, Professor, zunächst war ich entsetzt, ich versuchte Ihnen zu helfen, aber Sie waren...“
„...tot, ich weiß“, vollendete Professor den Satz „aber, das ist jetzt unwichtig, wie ist es Ihnen gelungen, in die Vergangenheit zu reisen, wenn die Maschine doch zerstört war?“
„Nun, Professor, ich wusste doch wie die Maschine zusammengebaut wird. Ich habe die kaputte Maschine wieder hier ins Labor gebracht und repariert.“
Der Professor schien erstaunt. „Sie haben sie repariert? Hier unten?“
George nickte stumm.
„Nun ja, wie ich schon sagte, Sie sind kein Dummkopf, George. Zumindest was Ihre technische Begabung betrifft. Aber Ihnen fehlt es an Verständnis für die Dynamik der Zeit. Es war wohl mein Fehler. Ich hätte Sie genauer informieren sollen, aber jetzt ist es zu spät.“
„Zu spät? Wofür, Professor?“, wollte George nun wissen.
„Kommen Sie“ meinte Professor Forsythe nur, anstatt zu antworten und verließ das Labor, gefolgt von seinem Assistenten.
Oben im Salon setzte er sich in seinen Ohrensessel und bat George, ihm gegenüber Platz zu nehmen. „Nun, George, sagen Sie, wie lange haben Sie gebraucht um die Maschine zu reparieren?“
„Ich weiß nicht, Professor. Ein paar Stunden glaube ich. Ich hab so schnell gemacht, wie ich konnte.“
„Gut, können Sie sich noch an die genaue Zeit erinnern? Wann haben sie die Reise angetreten?“
„Nun, das weiß ich genau, weil es gerade sechs Uhr geschlagen hat als ich an dem Seil zog“
„Seil? Welches Seil?“
„Nun, Professor, ich musste doch den Hebel ziehen, und gleichzeitig unter der Kuppel stehen. Also, habe ich ein Seil dazu benutzt.“
„Ja, verstehe“, murmelte Forsythe und blickte wieder auf seine Taschenuhr.
„Nun, George“, begann er schließlich, „es ist fast sechs Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hätte der andere George die Zeitmaschine in Betrieb nehmen müssen, um in die Vergangenheit zu reisen. Aber George ist tot, er hat die Maschine nicht vollendet und er kann nicht zurückreisen um mich zu retten. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Um sechs Uhr wird niemand in die Vergangenheit reisen. Sie werden nicht hier ankommen und ich werde nicht überleben. Wir werden beide aus der Zeit verschwinden und George wird erneut die Zeitmaschine zusammenbauen. Das Rad wird von vorne beginnen, bis in alle Ewigkeit.“
George war die Verblüffung ins Gesicht geschrieben. „Wollen Sie damit sagen, wir beide werden sterben?“
„Sterben? Nein George, wir sind doch längst tot, nur die Zeit hat uns noch nicht eingeholt, verstehen Sie?“ Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Wer weiß, wie lange das schon so geht?“
George wollte etwas erwidern, doch da fing die Uhr an zu schlagen. Es war Punkt Sechs. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er betrachtete seine Hände um nach Zeichen der Auflösung zu suchen
Dong, Dong, Dong, Dong, Dong, Dong. Sechs Schläge, und nichts passierte. Der Professor und George sahen sich gegenseitig ratlos an.
Plötzlich flog die Tür zum Salon auf und George stürzte herein. Wild gestikulierend rief er: „Nicht! Die Dampfleitung wird bersten!“
Epilog:
Zwei Georges warteten gespannt auf die Ergebnisse der neuen Berechnungen von Professor Forsythe. Der kam schließlich aus seinem Labor wieder nach oben in den Salon, wo die Beiden ihn mit fragenden Blicken erwarteten.
„Kommen Sie mit, meine Herren“, sagte er und ging hinüber zum Waffenschrank in der Ecke. Er schloss ihn auf und nahm eine Schrotflinte heraus. „Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen gesagt habe über den Fall, dass zwei Georges existieren würden?“
„Aber Professor, das kann doch nicht Ihr Ernst sein?“, antworteten beide, wie aus einem Mund.
„Oh doch, George, das ist mein voller Ernst. Einer von ihnen muss weg. Sie sind ein Paradoxon.“
„Aber, Professor, was wäre denn so schlimm daran, wenn wir beide hier existieren würden?“
„Nun, George, mit zwei von Ihnen könnte ich mich abfinden, aber dabei wird es nicht bleiben!“ Die Beiden starrten ihn wortlos an, wodurch der Professor sich genötigt fühlte eine Erklärung abzugeben: „Die Druckleitung, George! Sie müssen sie falsch angeschlossen haben. Der Druck hätte zum Zeitpunkt der Reise abfallen sollen. Aber bei der von ihnen reparierten Maschine steht sie noch immer unter Dampf. Verstehen sie? Der Druck wird niemals abfallen, in einem Zustand, wo Zeit keine Bedeutung hat. Die Maschine hängt irgendwo zwischen dem Jetzt und dem Damals und wird weitere Reisen auslösen. Ich habe keinerlei Einfluss darauf. Und nun beeilen Sie sich, um Mitternacht kommt der nächste George an, und sechs Stunden später wieder einer und immer so weiter. Und beten Sie zu Gott, dass es mir bald möglich sein wird, eine bessere Lösung als das hier zu finden.“ Damit drückte er den beiden ärgerlich die Schrotflinte in die Hand und begab sich wieder nach unten.