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Von den Raben, denen die Flügel abfielen

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27.01.2003
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Von den Raben, denen die Flügel abfielen

Vor einiger Zeit lebte einmal ein Geschlecht von Raben, denen, so sie geboren waren, sofort die kleinen Flügel abfielen, die nicht einmal zum Flug gedient hatten. Auf dem großen Berg, den sie bewohnten, war alsbald kein Platz mehr da für alle, und so wurde eine Familie – ein Rabe mit seinem Weib und seinen drei Küken, und allesamt ohne rettende Flügel – hinabgestoßen vom Berg. Endlose Sekunden Todesqualen ausstehend fielen sie, und die Sekunden wurden zu Minuten und die Minuten zu Stunden, denn sie fielen nur und kamen nicht auf, so wie es zu erwarten gewesen wäre. Sie begannen ihr Schicksal zu akzeptieren, erfreuten sich weiterhin an ihrem Leben und zogen ihre Jungen mit dem auf, was ihre Artgenossen vom Berg herabfallen ließen.
So lebten sie viele Jahre, ohne jemals den tödlichen Boden zu sehen. Irgendwann hatte die fallende Rabenfamilie den Abgrund vergessen und wähnte sich in immerwährender Sicherheit. Bis ein kleiner Rabe, der mittlerweile ein Ururenkel des Raben war, der mit seiner Familie vom Berg gestürzt war, fragte: „Warum fallen wir das ganze Leben, Vater? Warum haben wir nicht etwas, was uns ermöglicht, wieder nach oben zu kommen?“
Sein Vater antwortete: „Höre gut zu, mein Sohn. Vor langer Zeit hat unsere Familie begonnen zu fallen. Dagegen können wir nichts tun. Das, was du meinst, nennt man Flügel, und jedem von uns fallen sie bei der Geburt – einem Fluche gleich – ab. Eines Tages, mein Sohn, werden wir den tödlichen Erdboden erreichen und somit enden. Doch niemand weiß, wann das sein wird. Also hoffe darauf, dass es nicht an dir sein wird, durch den Erdaufprall zu sterben. Gebe die Hoffung, einem unserer Nachfahren würden die Flügel nicht bei der Geburt abfallen, weiter an deine Kinder und Kindeskinder. Nur so können wir weiterleben.“
Der kleine Rabe hatte verstanden und tat, wie ihm geheißen...

(Januar 2001)

 

Hallo tristhor,

es gibt sicher einige Möglichkeiten der Interpretation für Deine Geschichte (Fabel). Die Hoffnung, nicht gerade die Generation zu sein, die die Konsequenzen der Vergangenheit tragen muß, ist in verschiedenen Bereichen wirksam. Dies zeigt aber auch, wie wichtig Hoffnung ist, und wie schwer man diese von Ignoranz trennen kann.
Bei „fallen sie ... einem Fluche gleich ab.“ wird ein Fluch mit abfallenden Flügeln verglichen. Doch - was ist ein abfallender Fluch?
„an“ d i r „sein wird“ - dein Schicksal sein wird den tödlichen Boden zu erreichen.
Daraus ergibt sich: „... dass nicht du“ durch den Aufprall auf die Erde sterben mußt. („Erdboden“ - vermindert die Möglichkeit, Wortwiederholung `Boden´- `Boden´zu vermeiden).

Tschüß... Woltochinon

 

Danke, Woltochinon, für Deine hilfreiche Kritik. :)
Ich habe sie sogleich umgesetzt.
Deine Interpretation finde ich sehr treffend!

Auf bald,

tristhor

 

Richtig geile Story! RESPEKTS! Wirklich gelungene Idee. Da bin ich ja mal fasziniert! Und sie ist so schön klein das man sie ohne weiteres im Freundeskreis herumerzählen kann.

 

Hallo tristhor,

habe noch etwas entdeckt: "sie fallende Rabenfamilie" - die fallende; "Erdaufprall" - Aufprall auf die Erde (wobei Auf - auf etwas stört).

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo!
@Woltochinon: Nochmals danke! Ärgerlich, diese kleinen Fehler! :mad:
Ich möchte beim Wort `Erdaufprall´ bleiben, denn so entfällt das doppelte `auf´.
Und zu Deiner vorherigen Frage, was ein abfallender Fluch sei. Ich weiß es auch nicht. Das Abfallen bezieht sich auf die Flügel, und dieser Vorgang wird vom `Rabenvater´ (:D ) mit einem Fluch verglichen, und nicht umgekehrt.

@Chris Hunter: Danke für das Lob! Und wenn Du sie erzählst, dann sage, dass sie von tristhor kommen! :cool:

Auf bald!
tristhor

 

Ok, ob mir dein name einfällt weis ich nicht. kann mir den nur schwer merken, aber ich werde sie wohl kaum als meine ausgeben. ich sag dann dazu dass ich sie von kurzgeschichten .de habe rubrik philosophisches. ist das ok?

 

@Chris H.:
Ach, das passt schon. Das war ja von mir nicht wirklich ernst gemeint. ;)
Auf bald!
tristhor

 

Hallo tristhor,

ein letztes Mal, nur so aus grundsätzlichem Interesse - da ein Fluch von nichts abfällt, können auch Flügel nicht „einem Fluche gleich“ abfallen.

Übrigens... auch ganz interessant: „Warum haben wir nicht etwas, ... um wieder nach oben zu kommen?“

Tschüß... Woltochinon

 

Servus tristhor!

Eine seltsame Geschichte erzählst du da. Bildhaft, märchenhaft vielleicht sogar, geht sie einem nicht aus dem Kopf.

Die, welche hoffen, nicht jener Generation anzugehören die aufprallt (warum eigentlich, wenn Flügel abfallen können und endlose Stürze möglich sind, könnten sie doch auch ganz weich und wohlig von etwas aufgefangen werden) geben nicht die Hoffnung weiter, sondern die Angst. Ihre Konzentration liegt auf der Angst die betroffene Generation zu sein. Das Bewusstsein einen Makel zu haben, keine Flügel zu haben, tragen sie weiter auf die nächsten Generationen und machen sie so von Geburt an zu Verlierern.

Wenn sie all dies nicht täten, könnten sie einfach zu dem Schluss kommen, dass dies das einzige wunderbare Leben ist und es genießen.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo!

@Woltochinon: Endlich verstehe ich, was Du meinst! Du hast es so verstanden, dass die Flügel der Raben wie ein Fluch abfallen. (Ich glaube schon, dass man sagen kann, dass ein Fluch von etwas / jemanden abfallen kann, aber dann ist es positiv gemeint.) So kann man es verstehen, so war es von mir aber nicht gemeint. Ich meinte damit, dass dieses Flügelabfallen ein Fluch ist!

@schnee.eule: Danke für Deinen Kommentar - er hat mich meinen Text aus einer neuen Perspektive betrachten lassen. Es mag sein, dass die Rabenfamilie, indem sie sich selbst immer wieder an ihre potentiell rettenden, aber fehlenden Flügeln sowie an den Fall erinnert, sich um ein `entspanntes´ und ruhiges Leben bringt. Aber ist es besser, mit der Realität zu leben oder sie ewig zu verdrängen? Die Raben hier jedenfalls sehen die Realität und geben, weil sie sie sehen, Hoffnung und Angst an ihre Kinder weiter. Doch ich glaube, dass Hoffnung etwas bewirken kann. Vielleicht ist es den Raben irgendwie möglich, sich zu retten. Aber das geht nur, wenn sie erkennen, wovor sie sich schützen müssen. Wenn sie dies nicht tun, so werden sie sich vielleicht um das Fortbestehen ihres Geschlechtes bringen, und das wäre doch schade, oder?

Tja, Woltochinon, warum haben wir nicht etwas, ... um wieder nach oben zu kommen? Ich weiß nicht genau, woran Du bei diesem `wir´ gedacht hast, aber ich glaube, dass Du an die Menschen gedacht hast. Vielleicht fehlen uns auch Flügel, die uns in die Lage versetzen, unser Verhalten (global) zu erkennen und etwas zu verändern?!

Nun, das sind vorläufig meine Gedanken dazu, die ohne Euch nicht entstanden wären... Ich bin gespannt auf Eure!

Gruß,
tristhor

 

Servus tristhor!

Du diskutierst wohl gern hm? Ich denke nicht, dass die Raben ihre Realität leben und sie verdrängen würden, wenn sie ihren Kindern nichts erzählen würden von den verlorenen Flügeln. Der Fall selbst ist längst ihre Realität geworden - aber durch das ewige Gestern haben sie das nie akzeptieren gelernt. Und das finde ich schade, denn sie könnten die Kraft ihrer Hoffnung auf etwas anderes konzentrieren.

Ihre Hoffnung liegt im Gestern statt im Morgen. Sie hoffen einen Zustand wieder zu erreichen den sie selbst nie erlebt haben. Für uns als Betrachter von Vögeln im freien Flug erscheint es besser frei fliegen zu können. Aber letztlich tun sie das jetzt auch, im freien Fall. Und wer weiß welch wunderbares Ziel sie unbewusst erreichen können dadurch. Eines das Vögel mit Flügel vielleicht nie kennenlernen.

Wir haben aufgrund dessen was du uns erzählst keine Ahnung ob es nicht am Ende die beste Art zu leben gewesen ist. Wir haben nur den Jetztzustand, das was andere von einst berichten und die Vögel, welche sich ohne Flügel in der Gegend rumwälzen. Aber auch diese können mit dieser Lebensform vielleicht großartiges bewerkstelligen. Außer wir reden ihnen ein, dass dies oder jenes mehr Wert hat. Man kann doch alle drei Möglichkeiten zulassen oder nicht?

Lieben Gruß - schnee.eule

 

Hallo schnee.eule!

Ich muss sagen, es freut mich sehr, dass die Raben Dich bzw. uns so lange beschäftigen...
Ich finde Deinen Standpunkt sehr interessant. Dennoch glaube ich, dass Du ein wenig zu weit von der Geschichte weggehst. Denn dort ist es ein unbestreitbares Faktum, dass der Erdaufprall kommen wird, nur weiß niemand, wann. Er ist kein Mythos. Seine Aktualität war gestern, doch er ist zukünftig, und er wird wieder schmerzliche Gegenwart werden. Ohne Zweifel könnten sie die Kraft ihrer Hoffnung auf anderes lenken und womöglich schöne Dinge erreichen. Doch - ich verstehe jetzt! (Kennst Du das, wenn einem beim Schreiben neue Gedanken kommen?) Sie vergeuden ihr Leben mit ihrer ewigen Angst, mit ihrer Hoffnung, die wahrscheinlich nichts bewirken wird. Sie könnten sich auf andere Dinge konzentrieren, sich aber parallel dazu bewusst sein, dass das Ende stets nahe sein kann... Hmmm.

Gruß,
tristhor

 

Servus Tristhor!

Ja so kommen wir uns im Denken näher. Angst ist nützlich und notwendig um wachsam zu sein. Hoffnung ist unverzichtbar um sich weitertragen zu lassen und nicht aufzugeben. Aber beides darf nicht zum eigentlichen Lebenszweck werden. Sonst leben die Vögel, ebenso wie die Menschen die davon getragen werden, am tatsächlich stattfindenden Leben vorbei.

Lieben Gruß - schnee.eule

 

So, glaube ich, können wir uns einigen: Wenn die Raben sich auf womöglich Wichtigeres konzentrieren (`richtig leben´ - was immer das heißt) und gleichzeitig sich bewusst sein würden, dass in jedem Augenblick das Ende kommen kann, wäre ihr Leben besser als jenes, das nur erfüllt ist mit Angst vor einem Ende, dass zwar stets im Hintergrund `wartet´, aber auch sehr fern sein kann... Für uns würde das bedeuten, dass wir unser Leben genießen sollten, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass auch die, die nach uns kommen, ein ähnlich schönes Leben führen können wie wir.

Gruß,
tristhor

 

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