Von Brückennomaden
Zum Abend hin kam immer Leben unter die Brücke.
Von allen Seiten schlurften sie nach und nach zu ihren Schlafplätzen, einige im kritischen Zustand, alle vom Schicksal gezeichnet, irgendwann, irgendwo durch den Rost gefallen.
Am Brückengeländer lehnte das Fahrrad, so wie Ole es nach Bodos Sturz verlassen hatte. Das Fahrrad hatte Bodo gehört. Näherte sich dem Rad Einer unbefugt mit eindeutiger Absicht, das kam öfter vor, waren Ole oder Freddy oder auch ein anderer sofort zur Stelle. Das sei ein Denkmal, zischte dann jeder in seinem Idiom, Ole hörte sich norddeutsch an, bei Freddy kam der Berliner durch, die übrigen hatten süddeutsche oder westdeutsche Wurzeln. Am „Denkmal“ ging die Flasche Reih' um, prost Bodo, ein Ritual.
Eines Tages lag eine Blume auf dem brüchigen Sattel.
Vor dem Fahrrad stand eine junge Frau mit langen blonden Haaren, sie probierte die Klingel, beobachtet von Freddy.
Als Freddy herbei humpelte, wandte sie sich hastig zum Gehen.
Biste Stella, rief er der jungen Frau noch von weitem zu. Die nickte und verschwand eilig.
Eine Autotür klappte, Motorengeräusch.
Freddy lauschte betrübt, zog hoch, spuckte aus, Scheiße.
Damit meinte er Bodo. Bodo gab es nicht mehr, er war von diesem Fahrrad gestürzt, leise hatte er am Boden gestöhnt. Vom Ufer aus hatte Ole alles amüsiert beobachtet, nicht ohne sich über die Nummer zu wundern, die Bodo da veranstaltete. Ich lach mich tot, hatte er gedacht. Erst als Freddy regelrecht um Hilfe schrie, eilte er hinzu.
In einem anderen Leben, früher einmal, war Ole Arzt gewesen, was mitunter hilfreich war, was ihm die Männer unter der Brücke auf ihre Art dankten. Sorgfältig hatte Ole den am Boden liegenden betastet, dann nur hilflos die Fäuste geballt. Er müsse sofort in ein Krankenhaus, hatte er gemeint. Bodo hatte abgewinkt, war mühselig mit Oles Hilfe unter die Brücke gekrochen. Auf einem Schlafsack hatte ihn Ole behutsam mit seinem Parka zugedeckt, während Bodo leise vor sich hin wimmerte.
Stöhnen war das Letzte, was Ole von ihm hörte. Er war auf die Brücke gerannt, hatte Passanten um Hilfe gebeten, zu aufgeregt, sich gleich verständlich zu artikulieren.
Keiner der Angesprochenen beachtete den etwas verwahrlost wirkenden Mann, bis endlich ein junger Mann sein Handy zückte, zu spät.
Bekümmert schüttelte Freddy den Kopf. Bodo hatte immer so schön erzählt. Oft bogen sie sich vor Lachen, wenn Bodo von der Trasse erzählte, von schuftenden Männern, von Eis und Schlamm, von sibirischer Kälte und von Mückenschwärmen an überhitzten Sommertagen. Da half nur Wodka. Einen Laster hatte Bodo da gefahren, Kamas, ein Mittelding zwischen Jeep und Panzer, wie er sagte. Mit seinen Leuten hatte er in Baracken gehaust, die wurden beheizt mit Öl, daran war kein Mangel, innen war es immer warm. In den kurzen heißen Sommernächten stöhnten sie nur so vor Hitze. Sie bauten diese verdammte Pipeline zusammen, kurz BAM genannt, das bedeute Baikal-Amur-Magistrale, erklärte Bodo breit grinsend. War kein Material da, half nur Wodka.
Das Kraut, das sie rauchten, hieß Kasbek.
Bodo berichtete zur Freude der Männer zungenschnalzend von den Frauen aus der Russensiedlung, sie hörten mit offenen Mündern zu, gierig nach der Flasche langend, von Bodo generös in die Runde gereicht. Drall waren die, gut gebaut, aber Vorsicht, so Bodo. Mit den Männern aus der Siedlung gab es oft Streit. Die Miliz, die Prügeleien immer zugunsten der Russen schlichtete, war nicht zimperlich, den Ärger hatten nur die anderen, die Arbeiter aus der DDR.
Die Frauen verlangten dauernd Leistungen, neue Fensterrahmen, Türen mit Klinken für ihre Hütten, Schlösser dazu, Waschbecken, Wasserhähne und so was, auch Waschpulver, Seife, Cremes. Bodo lachte schenkelklopfend, wenn er von der hinterlistigen Korruption berichtete. Alsbald vermuteten die Männer aus Ostdeutschland ein Komplott mit der Miliz. Die Russen forderten immer mehr Sachen, Kosmetika, Hygieneartikel, Unterwäsche zum Beispiel, auch Westgeld. Manches kannten die Männer kaum.
Das war alles nicht ohne, von allen Seiten nämlich, gluckste Bodo, die hatten alle Flinten. Wenn sie nicht liefern wollten oder konnten, hielten die einem schon mal eine Knarre vors Gesicht. Die Arbeiter an der Trasse mussten ihren Lagerverwalter über Gebühr beklauen. Der war eingeweiht, hielt heimlich die Hand offen und schrieb offiziell Verlustprotokoll auf Verlustprotokoll. Alle hielten dicht, kam doch einmal etwas heraus, drohte Abschiebung in die Heimat. Es gab Schlimmeres, kicherte Bodo. Nur mit der vielen Kohle sei es dann aus gewesen.
Hatte er Papier und einen Stift, schrieb er Gedichte, die las er ungebeten vor, die Männer gähnten bald. Aber sie hörten alle zu, weil Bodo immer lieferte, Wodka nämlich. Und weil Bodos Ton mitten ins Schwarze, auf ihr miserables Leben traf.
Ole fand die Gedichte gut. Eifrig sammelte er, was Bodo achtlos weg warf.
Großspurig verglich sich Bodo mal mit Brecht, mal mit Heiner Müller. Heiner was?
Sie hätten da nicht nur gesoffen an der Trasse, meinte Bodo, viel gelesen hätte er, sehr viel sogar. Eine Baracke wäre der Bibliotheksstützpunkt gewesen, er hätte die Bibliothek an zwei Tagen unter der Woche betreut, gemeinsam mit zwei, drei.., Bodo stockte.
Kumpel? fragte einer. Nee, Genossen, meinte Bodo, das war so üblich. So, so, sagten die anderen. Gelesen hätte er alles, nur gute Sachen, sagte Bodo, Brecht, Mann, Sartre, Hemmingway, Feuchtwanger, so was eben. Er sei aus Feuchtwangen, sagte einer.
Ole lachte, Bodo gab auf.
Wenn Bodo traurig war, erzählte er von Stella, seinem Sternchen.
Wie sich der kleine warme Körper an ihn geschmiegt hatte, wie er ihr ins Ohr flüsterte, ich kann dich nicht heiraten, ich bin dein Papa. Ich hab' dich lieb, flüsterte Stella zurück.
Kam dann ein falscher Zungenschlag, rastete Bodo aus, dann war Schluss mit lustig.
Freddy schüttelte bekümmert den Kopf. Bodo hatte oft geprahlt von dem vielen Geld, das er an der Trasse verdient hätte, geprahlt, und wie, hatte er auch von seinen Frauen, die doch alle nur auf sein Geld aus waren. Eine davon war Lilo, Stellas Mutter. Die hatte ihm eines Tages die Klamotten vor die Tür gestellt, die Autoschlüssel von seinem Trabant lagen oben auf.
Bodo war davon gerast, Richtung Ungarn, von da über Wien nach Bochum, irgendwann kam er zurück nach Berlin, immer noch mit dem Trabant. Meine liebe alte Pappe, sagte er.
Als seine Mutter starb, war niemand mehr da, der sich um ihn sorgte.
Ein schniekes Fahrrad hatte er für Stella vor Lilos Tür gestellt, ein Zettel hing an der Klingel, Gruß Papa. Lange Zeit stand es unberührt, nur der Zettel war weg.
Bodo setzte sich eines Tages auf den Sattel und radelte bis unter die Brücke.
Ole bestimmte, wer bleiben durfte, Bodo blieb von nun an.
Seine kleine Wohnung im Osten behielt er, zum Duschen und als Zuflucht bei bitterer Kälte, Relaxen sagte Ole. Nur er durfte da mit hin.
Bärbel, eine Freundin, sorgte für Ordnung, nahm auch Bodos Sachen zum Waschen mit, später auch mal Oles. Sie war die Frau von Dirk, Bodos Kumpel von der Trasse, der bis zu seinem Tod eine kleine Kneipe unter Bodos Wohnung betrieben hatte.
Krebs, sagte Bodo, schob Ole eine Flasche Bier zu. Nächtelang hätten sie gequatscht, Dirk, Bärbel und er über Gott und die Welt, über all die Ungerechtigkeiten und Schlechtigkeiten, warum man nichts ändern könne, warum es Menschen überall so dreckig ginge, warum diese Kriege kein Ende nähmen. Immer, wenn irgendwo ein Kriegsherd befriedet sei, einer der lokalen Kriegstreiber, zumeist ein ganz banaler Typ, seine gerechte Strafe fände, tauche wieder irgendwo ein neues Monster auf, und das Elend beginne von vorn. Da sei 'was faul im Staate Dänemark. Bodo liebte Zitate, dann
hieb er die Faust auf den Tisch.
Das Flüchtlingselend machte ihnen zu schaffen. Bärbel, so eine Gutmenschin, rieb sich da auf. Nach Dirks schnellem Tod machte sie gleich die Kneipe zu, stellte sie für eine Familie als Unterkunft zur Verfügung bis sie selber fast baden ging.
Schluss, aus, Bodo ballte die Faust, hätte beinahe die Flasche zerquetscht, die Ole ihm behutsam aus der Hand nahm.
Die Geschichte von Dirk und Bärbel erzählte Bodo nur für Ole, unter der Brücke war sie tabu.
Dirk, den verstorbenen Kneipenwirt, kannte Ole nur vom Erzählen, mit Bärbel konnte er gut, wenn er sie an seltenen Tagen zusammen mit Bodo traf.
Im Stillen hatte Ole nach Bodos Tod gehofft, und er hoffte immer noch, mit Bärbels Hilfe so etwas wie Ordnung in sein verpfuschtes Leben zu bringen.
Hoffen und Harren..., hätte Bodo gesagt und breit dabei gegrinst.
Bodo verfügte über etwas Geld, großzügig brachte er es unter die Berliner Brücke.
Er konnte sehr fürsorglich sein.
Freddy schnäuzte, von Erinnerung übermannt.
Wenn der Vollmond Brücke und Kanal in geheimnisvolles Licht tauchte, die mageren Büsche wie Zauberpflanzen leuchteten, konnte keiner schlafen. Einer klimperte auf einer Gitarre, einer dachte laut über sein beschissenes Leben nach, einer hoffte auf Besserung, einer stiftete mit seinem sonoren Bariton einen Song, einer betete still vor sich hin, für Unterhaltung sorgte Bodo.
Prost. Ole schlich an Freddy vorbei zu dem vor sich hin rostendem Rad, die Klingel ging noch. Tschüs Bodo, Freddy reichte Ole die Flasche, ein Ritual. Freddy brach zuerst das Schweigen, ob er das Sternchen benachrichtigt hätte? Ole nickte bekümmert. Von Bodo kannte er Stellas Namen und Adresse. Einen kurzen Brief hatte er Stella geschrieben, eines von Bodos Gedichten beigelegt mit der Überschrift „An mein Sternchen“. Bärbel hatte ihm den Kontakt vermittelt. Danach hätten sie sich vor Bodos Wohnung getroffen, Stella und er, im nahen Café hätte Stella Kaffee und Kuchen spendiert.
Mal was anderes, grinste Freddy.
Stella wollte alles über Bodo wissen, wie er gelebt, wie er gestorben sei, was er noch so geschrieben hätte, Ole fand kein Ende, und Stella hörte ohne Ende zu. Zu guter Letzt wollte er ihr die Schlüssel von Bodos Wohnung geben. Könne er behalten, vorläufig, meinte sie, die Miete sei im voraus bezahlt. Bodos Urne war ohne viel Tamtam im Grab seiner Mutter beigesetzt worden, wusste Ole schon von Bärbel, Zeit und Ort auch. Dem Procedere, kurz und knapp, hatte er verdeckt am Zaun bei gewohnt, danach hatte Ole in Bodos Wohnung eine Flasche Wodka geleert. Nicht einmal Bärbel hatte er sich an diesem Tag genähert. Tagelang blieb er für die Männer unter der Brücke verschwunden.
Da gehen wir mal hin zu dem Friedhof, sagte Ole zu Freddy.
In den Osten? Freddy verzog angewidert das Gesicht.
Na, na, Ole war weich gestimmt, Freddy könne auch mal mit zum Duschen kommen. Duschen? Freddy schlurfte zurück, kopfschüttelnd, Duschen.
Altes Ferkel, brummte Ole, fegte die Blume vom Sattel und ging auch vor dem einsetzenden Regen unter die Brücke.
Zum Abend hin kam immer Leben unter die Brücke.
Von allen Seiten schlurften sie nach und nach zu ihren Schlafplätzen, einige im kritischen Zustand, alle vom Schicksal gezeichnet, irgendwann, irgendwo durch den Rost gefallen.
Am Brückengeländer lehnte das Fahrrad, so wie Ole es nach Bodos Sturz verlassen hatte. Das Fahrrad hatte Bodo gehört. Näherte sich dem Rad Einer unbefugt mit eindeutiger Absicht, das kam öfter vor, waren Ole oder Freddy oder auch ein anderer sofort zur Stelle. Das sei ein Denkmal, zischte dann jeder in seinem Idiom, Ole hörte sich norddeutsch an, bei Freddy kam der Berliner durch, die übrigen hatten süddeutsche oder westdeutsche Wurzeln. Am „Denkmal“ ging die Flasche Reih' um, prost Bodo, ein Ritual.
Eines Tages lag eine Blume auf dem brüchigen Sattel.
Vor dem Fahrrad stand eine junge Frau mit langen blonden Haaren, sie probierte die Klingel, beobachtet von Freddy.
Als Freddy herbei humpelte, wandte sie sich hastig zum Gehen.
Biste Stella, rief er der jungen Frau noch von weitem zu. Die nickte und verschwand eilig.
Eine Autotür klappte, Motorengeräusch.
Freddy lauschte betrübt, zog hoch, spuckte aus, Scheiße.
Damit meinte er Bodo. Bodo gab es nicht mehr, er war von diesem Fahrrad gestürzt, leise hatte er am Boden gestöhnt. Vom Ufer aus hatte Ole alles amüsiert beobachtet, nicht ohne sich über die Nummer zu wundern, die Bodo da veranstaltete. Ich lach mich tot, hatte er gedacht. Erst als Freddy regelrecht um Hilfe schrie, eilte er hinzu.
In einem anderen Leben, früher einmal, war Ole Arzt gewesen, was mitunter hilfreich war, was ihm die Männer unter der Brücke auf ihre Art dankten. Sorgfältig hatte Ole den am Boden liegenden betastet, dann nur hilflos die Fäuste geballt. Er müsse sofort in ein Krankenhaus, hatte er gemeint. Bodo hatte abgewinkt, war mühselig mit Oles Hilfe unter die Brücke gekrochen. Auf einem Schlafsack hatte ihn Ole behutsam mit seinem Parka zugedeckt, während Bodo leise vor sich hin wimmerte.
Stöhnen war das Letzte, was Ole von ihm hörte. Er war auf die Brücke gerannt, hatte Passanten um Hilfe gebeten, zu aufgeregt, sich gleich verständlich zu artikulieren.
Keiner der Angesprochenen beachtete den etwas verwahrlost wirkenden Mann, bis endlich ein junger Mann sein Handy zückte, zu spät.
Bekümmert schüttelte Freddy den Kopf. Bodo hatte immer so schön erzählt. Oft bogen sie sich vor Lachen, wenn Bodo von der Trasse erzählte, von schuftenden Männern, von Eis und Schlamm, von sibirischer Kälte und von Mückenschwärmen an überhitzten Sommertagen. Da half nur Wodka. Einen Laster hatte Bodo da gefahren, Kamas, ein Mittelding zwischen Jeep und Panzer, wie er sagte. Mit seinen Leuten hatte er in Baracken gehaust, die wurden beheizt mit Öl, daran war kein Mangel, innen war es immer warm. In den kurzen heißen Sommernächten stöhnten sie nur so vor Hitze. Sie bauten diese verdammte Pipeline zusammen, kurz BAM genannt, das bedeute Baikal-Amur-Magistrale, erklärte Bodo breit grinsend. War kein Material da, half nur Wodka.
Das Kraut, das sie rauchten, hieß Kasbek.
Bodo berichtete zur Freude der Männer zungenschnalzend von den Frauen aus der Russensiedlung, sie hörten mit offenen Mündern zu, gierig nach der Flasche langend, von Bodo generös in die Runde gereicht. Drall waren die, gut gebaut, aber Vorsicht, so Bodo. Mit den Männern aus der Siedlung gab es oft Streit. Die Miliz, die Prügeleien immer zugunsten der Russen schlichtete, war nicht zimperlich, den Ärger hatten nur die anderen, die Arbeiter aus der DDR.
Die Frauen verlangten dauernd Leistungen, neue Fensterrahmen, Türen mit Klinken für ihre Hütten, Schlösser dazu, Waschbecken, Wasserhähne und so was, auch Waschpulver, Seife, Cremes. Bodo lachte schenkelklopfend, wenn er von der hinterlistigen Korruption berichtete. Alsbald vermuteten die Männer aus Ostdeutschland ein Komplott mit der Miliz. Die Russen forderten immer mehr Sachen, Kosmetika, Hygieneartikel, Unterwäsche zum Beispiel, auch Westgeld. Manches kannten die Männer kaum.
Das war alles nicht ohne, von allen Seiten nämlich, gluckste Bodo, die hatten alle Flinten. Wenn sie nicht liefern wollten oder konnten, hielten die einem schon mal eine Knarre vors Gesicht. Die Arbeiter an der Trasse mussten ihren Lagerverwalter über Gebühr beklauen. Der war eingeweiht, hielt heimlich die Hand offen und schrieb offiziell Verlustprotokoll auf Verlustprotokoll. Alle hielten dicht, kam doch einmal etwas heraus, drohte Abschiebung in die Heimat. Es gab Schlimmeres, kicherte Bodo. Nur mit der vielen Kohle sei es dann aus gewesen.
Hatte er Papier und einen Stift, schrieb er Gedichte, die las er ungebeten vor, die Männer gähnten bald. Aber sie hörten alle zu, weil Bodo immer lieferte, Wodka nämlich. Und weil Bodos Ton mitten ins Schwarze, auf ihr miserables Leben traf.
Ole fand die Gedichte gut. Eifrig sammelte er, was Bodo achtlos weg warf.
Großspurig verglich sich Bodo mal mit Brecht, mal mit Heiner Müller. Heiner was?
Sie hätten da nicht nur gesoffen an der Trasse, meinte Bodo, viel gelesen hätte er, sehr viel sogar. Eine Baracke wäre der Bibliotheksstützpunkt gewesen, er hätte die Bibliothek an zwei Tagen unter der Woche betreut, gemeinsam mit zwei, drei.., Bodo stockte.
Kumpel? fragte einer. Nee, Genossen, meinte Bodo, das war so üblich. So, so, sagten die anderen. Gelesen hätte er alles, nur gute Sachen, sagte Bodo, Brecht, Mann, Sartre, Hemmingway, Feuchtwanger, so was eben. Er sei aus Feuchtwangen, sagte einer.
Ole lachte, Bodo gab auf.
Wenn Bodo traurig war, erzählte er von Stella, seinem Sternchen.
Wie sich der kleine warme Körper an ihn geschmiegt hatte, wie er ihr ins Ohr flüsterte, ich kann dich nicht heiraten, ich bin dein Papa. Ich hab' dich lieb, flüsterte Stella zurück.
Kam dann ein falscher Zungenschlag, rastete Bodo aus, dann war Schluss mit lustig.
Freddy schüttelte bekümmert den Kopf. Bodo hatte oft geprahlt von dem vielen Geld, das er an der Trasse verdient hätte, geprahlt, und wie, hatte er auch von seinen Frauen, die doch alle nur auf sein Geld aus waren. Eine davon war Lilo, Stellas Mutter. Die hatte ihm eines Tages die Klamotten vor die Tür gestellt, die Autoschlüssel von seinem Trabant lagen oben auf.
Bodo war davon gerast, Richtung Ungarn, von da über Wien nach Bochum, irgendwann kam er zurück nach Berlin, immer noch mit dem Trabant. Meine liebe alte Pappe, sagte er.
Als seine Mutter starb, war niemand mehr da, der sich um ihn sorgte.
Ein schniekes Fahrrad hatte er für Stella vor Lilos Tür gestellt, ein Zettel hing an der Klingel, Gruß Papa. Lange Zeit stand es unberührt, nur der Zettel war weg.
Bodo setzte sich eines Tages auf den Sattel und radelte bis unter die Brücke.
Ole bestimmte, wer bleiben durfte, Bodo blieb von nun an.
Seine kleine Wohnung im Osten behielt er, zum Duschen und als Zuflucht bei bitterer Kälte, Relaxen sagte Ole. Nur er durfte da mit hin.
Bärbel, eine Freundin, sorgte für Ordnung, nahm auch Bodos Sachen zum Waschen mit, später auch mal Oles. Sie war die Frau von Dirk, Bodos Kumpel von der Trasse, der bis zu seinem Tod eine kleine Kneipe unter Bodos Wohnung betrieben hatte.
Krebs, sagte Bodo, schob Ole eine Flasche Bier zu. Nächtelang hätten sie gequatscht, Dirk, Bärbel und er über Gott und die Welt, über all die Ungerechtigkeiten und Schlechtigkeiten, warum man nichts ändern könne, warum es Menschen überall so dreckig ginge, warum diese Kriege kein Ende nähmen. Immer, wenn irgendwo ein Kriegsherd befriedet sei, einer der lokalen Kriegstreiber, zumeist ein ganz banaler Typ, seine gerechte Strafe fände, tauche wieder irgendwo ein neues Monster auf, und das Elend beginne von vorn. Da sei 'was faul im Staate Dänemark. Bodo liebte Zitate, dann
hieb er die Faust auf den Tisch.
Das Flüchtlingselend machte ihnen zu schaffen. Bärbel, so eine Gutmenschin, rieb sich da auf. Nach Dirks schnellem Tod machte sie gleich die Kneipe zu, stellte sie für eine Familie als Unterkunft zur Verfügung bis sie selber fast baden ging.
Schluss, aus, Bodo ballte die Faust, hätte beinahe die Flasche zerquetscht, die Ole ihm behutsam aus der Hand nahm.
Die Geschichte von Dirk und Bärbel erzählte Bodo nur für Ole, unter der Brücke war sie tabu.
Dirk, den verstorbenen Kneipenwirt, kannte Ole nur vom Erzählen, mit Bärbel konnte er gut, wenn er sie an seltenen Tagen zusammen mit Bodo traf.
Im Stillen hatte Ole nach Bodos Tod gehofft, und er hoffte immer noch, mit Bärbels Hilfe so etwas wie Ordnung in sein verpfuschtes Leben zu bringen.
Hoffen und Harren..., hätte Bodo gesagt und breit dabei gegrinst.
Bodo verfügte über etwas Geld, großzügig brachte er es unter die Berliner Brücke.
Er konnte sehr fürsorglich sein.
Freddy schnäuzte, von Erinnerung übermannt.
Wenn der Vollmond Brücke und Kanal in geheimnisvolles Licht tauchte, die mageren Büsche wie Zauberpflanzen leuchteten, konnte keiner schlafen. Einer klimperte auf einer Gitarre, einer dachte laut über sein beschissenes Leben nach, einer hoffte auf Besserung, einer stiftete mit seinem sonoren Bariton einen Song, einer betete still vor sich hin, für Unterhaltung sorgte Bodo.
Prost. Ole schlich an Freddy vorbei zu dem vor sich hin rostendem Rad, die Klingel ging noch. Tschüs Bodo, Freddy reichte Ole die Flasche, ein Ritual. Freddy brach zuerst das Schweigen, ob er das Sternchen benachrichtigt hätte? Ole nickte bekümmert. Von Bodo kannte er Stellas Namen und Adresse. Einen kurzen Brief hatte er Stella geschrieben, eines von Bodos Gedichten beigelegt mit der Überschrift „An mein Sternchen“. Bärbel hatte ihm den Kontakt vermittelt. Danach hätten sie sich vor Bodos Wohnung getroffen, Stella und er, im nahen Café hätte Stella Kaffee und Kuchen spendiert.
Mal was anderes, grinste Freddy.
Stella wollte alles über Bodo wissen, wie er gelebt, wie er gestorben sei, was er noch so geschrieben hätte, Ole fand kein Ende, und Stella hörte ohne Ende zu. Zu guter Letzt wollte er ihr die Schlüssel von Bodos Wohnung geben. Könne er behalten, vorläufig, meinte sie, die Miete sei im voraus bezahlt. Bodos Urne war ohne viel Tamtam im Grab seiner Mutter beigesetzt worden, wusste Ole schon von Bärbel, Zeit und Ort auch. Dem Procedere, kurz und knapp, hatte er verdeckt am Zaun bei gewohnt, danach hatte Ole in Bodos Wohnung eine Flasche Wodka geleert. Nicht einmal Bärbel hatte er sich an diesem Tag genähert. Tagelang blieb er für die Männer unter der Brücke verschwunden.
Da gehen wir mal hin zu dem Friedhof, sagte Ole zu Freddy.
In den Osten? Freddy verzog angewidert das Gesicht.
Na, na, Ole war weich gestimmt, Freddy könne auch mal mit zum Duschen kommen. Duschen? Freddy schlurfte zurück, kopfschüttelnd, Duschen.
Altes Ferkel, brummte Ole, fegte die Blume vom Sattel und ging auch vor dem einsetzenden Regen unter die Brücke.