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Von Arschlöchern, Zigaretten und Vergebung
Elena war erstaunt. Hier sah es doch ganz passabel aus, und heiss war es wider Erwarten gar nicht. Gut, ernsthaft Sorgen, ob sie hier landen würde, hatte sie sich während ihres ganzen Lebens so oder so nie gemacht, obwohl sie es natürlich aufgrund ihres nicht immer ganz normkonformen Verhaltens irgendwie hätte erwarten können. Aber das waren doch alles nur Lapalien gewesen.
Ernsthaft, wen interessierte das schon, die paar geklauten Kaugummis, ja, und vielleicht hatte sie ein oder zwei Mal einen Typen betrogen. Ab und zu einen Joint geraucht. Aber den Autounfall, den hatte sie definitiv nicht verdient. Frontalcrash, Tod auf der Autobahn mit knapp über Dreissig. Und jetzt sass sie hier. Die Hölle hatte sie sich definitiv anders vorgestellt.
Erst jetzt bemerkte Elena, dass neben ihr ein gut gekleideter Mann sass. Gerade krempelte er die Ärmel seines leicht zerknitterten Hemdes hoch.
„Was hat Sie hierher gebracht?“ Interessiert sah sie ihn an.
„Herzinfarkt“, meinte er trocken. „Und das, obwohl ich seit Jahren auf Alkohol und Zigaretten verzichtet habe. Tolle Sache.“ Er klang genervt.
Elena kramte aus ihrer Handtasche ein Päckchen Zigaretten hervor und bot ihm eine an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Danke. Ich bin Jeffrey. Hast du ne Ahnung, ob das hier, du weisst schon ...“ Er steckte sich die Zigarette an und sog den Rauch tief in seine Lungen.
Elena zuckte mit den Schultern. „Ich weiss nicht. Scheint okay zu sein, es ist nicht heiss, es stinkt nicht. Alles gut. Was hast du verbrochen, dass du mich das fragst?“ Sie sah Jeffrey durchdringend an. Er erwiderte ihren Blick für einen Moment, dann sah er an ihr vorbei und blies den Rauch in die Luft.
„Nichts, ich habe mein ganzes verdammtes Leben mit arbeiten verbracht. Investmentbank. Hätte ich gewusst, wie wenig Zeit mir noch bleibt, hätte ich ... Ich meine, Vierundfünfzig, das ist doch kein Alter?“
Es war ganz still im Raum, ein düsteres Vakuum. Nach einem kurzen Moment räusperte Jeffrey sich. „Na gut, okay. Erwischt.“ Er hob die Hände abwehrend in die Höhe und lächelte selbstgefällig. „Vielleicht hab ich manchmal ein wenig Geld auf mein eigenes Konto abgezweigt. Aber hör mal, ich habe schliesslich auch die ganze Arbeit gemacht, und diese Mistkerle wollten sowieso nur ihr dreckiges Geld waschen. Gut, und meine Sekretärin kniete öfters mal bei mir im Büro neben meinem Schreibtisch, wenn du weisst, was ich meine.“
Allerdings wusste sie das. Er war definitiv ein selbstgerechtes Arschloch, vom Gegenteil würde er sie nicht mehr überzeugen können. Elena fragte sich, was sie mit diesem Menschen gemeinsam hatte. Es musste einen plausiblen Grund geben, dass sie beide nun hier zusammen in diesem Raum sassen. Die Fauxpas ihres kurzen Lebens waren doch nicht vergleichbar mit denjenigen dieses Typen, der ihr von Minute zu Minute unsympathischer wurde. Ausserdem verspürte sie im Gegensatz zu ihm unerwartet Reue, seit sie hier war. Sie dachte an ihren Freund, dem sie ihren rehbraunen Augen sei Dank jede Lüge als banale Wahrheit verkaufen konnte. Irgendwann wurde es einfach zur Gewohnheit, so sehr, dass sie sich ihre Ausreden und Betrügereien zum Schluss selbst glaubte.
„Kann ich noch ne Kippe haben?“ Jeffrey hatte sich bereits während der wohl rhetorischen Frage selbst bedient. Sie nahm sich ebenfalls eine und steckte sie sich in den Mund. Schweigend rauchten sie.
„Auf was wir hier wohl warten“, dachte sie und flüsterte es gleichzeitig in das dämmrige Licht. Es klang wie eine Frage an sich selbst. Die Ewigkeit war schwer vorstellbar, und eine Ewigkeit mit Jeffrey an ihrer Seite noch viel schwerer. Elena erhob sich und schritt quer durch den Raum bis zu einem grossen Tor, das sich problemlos öffnen liess. Tageslicht schlug ihr entgegen, doch die Luft wirkte abgestanden, wie ein Abfallprodukt aus der Welt, die sie bereits kannte. Draussen hasteten Menschen über den Gehsteig, auf den Strassen herrschte reges Treiben.
Jeffrey war ihr mittlerweile gefolgt und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Siehst du, alles in Ordnung. Es wird weitergehen wie bisher. Jeder hat Dreck am Stecken, wieso sollten gerade wir in der Hölle verrotten?“ Er drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und verschwand in der Anonymität der vorbeigehenden Menschen.