Von Angst und von Mut
Anfang Januar endete mein Weg an einer Klippe. Das war seltsam, weil ich gar nicht auf dem Weg zu dieser Klippe gewesen bin oder zu irgendeiner anderen. Es war aber auch nicht seltsam, weil mein Orientierungssinn, beziehungsweise dessen Abwesenheit mich selten an erwartete oder gar gewünschte Orte bringt.
Aber nun war ich eben hier. So breitete ich meine nicht allzu oft verwendete Picknickdecke aus, holte den Wein aus meinem Rucksack und genoss die Stille hier oben.
Nach den ersten Gläsern Wein wurde ich mutiger und setzte mich an den Rand der Klippe um die Aussicht zu genießen. Es war aufregend, hatte den Reiz des Gefährlichen ohne wirklich gefährlich zu sein.
Jedes Zeitgefühl war mir hier oben abhandengekommen, aber ich denke es war bereits Frühsommer als die Erde begann zu beben. Ich wusste nicht was passierte, aber ein gewaltiges Stück meiner Klippe begann den Abhang hinab zu rutschen. Unglücklicherweise, das Stück auf dem ich saß um die Aussicht zu genießen. Ich ruderte mit Armen und Beinen, schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Es war nichts zu machen, es ging bergab.
Glücklicherweise nicht sehr weit. Schon nach ein paar Metern, bekam ich den Stein eines kleinen Felsvorsprungs zu fassen und klammerte mich verzweifelt daran fest. Meine Augen hielt ich fest verschlossen, den Aufprall wieder und wieder im Kopf umherschwirrend.
Das war der Moment, in dem ich die Möglichkeit gehabt hätte, mich zu retten. Es wäre anstrengend gewesen, aber ich hätte mich aus eigener Kraft hochziehen können. Sicher, ein paar Kratzer und Beulen wären zurückgeblieben, aber nichts Schlimmes. Ich hätte nicht mal ins Krankenhaus gemusst, keine offenen Wunden, keine gebrochenen Knochen. Aber ich konnte mich nicht bewegen, alles war wie eingefroren. Es war eine Kombination aus Angst und Neugier und Hoffnung. Angst natürlich der Schwerkraft wegen. Neugier und Hoffnung waren da, weil ich bis jetzt noch nicht ein einziges Mal den Boden habe sehen können. Ich saß monatelang an dieser Klippe, habe mich vornübergebeugt, dass Zirkusakrobaten schwindlig geworden wäre. Aber der Boden ist nie aufgetaucht. Also was war da unten?
Und so hing ich, wieder jeglichen Zeitgefühls beraubt, an diesem kleinen Felsvorsprung, in unsäglicher Höhe und bewegte mich keinen Zentimeter. Es muss schon Oktober gewesen sein, als mir die Kräfte ganz plötzlich schwanden. Kurz nach meinem Geburtstag merkte ich, wie meine Hände zu schwitzen begannen. Und auch wenn der Fels rau war, begann ich zu rutschen. So verlor ich den mehr oder weniger sicheren Halt und hing nun, mich mit nur einer Hand haltend an einer Klippe, deren Boden ich noch nie gesehen hatte.
Es war nun eine Frage der Zeit, dass meine Kraft mich verlassen würde. Der Moment, in dem ich mich hätte retten können war vergangen, ich war müde und ohne große Hoffnung, dass einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Und so war es eher Resignation und kein Mut, als ich meinen Griff um den warmen Stein lockerte.... und fiel.
Das war das erste Mal, dass ich den Boden sehen konnte. Er war unglaublich weit weg. Ich schloss die Augen und dachte in wilder Panik an nichts anderes als an die Verletzungen und Schmerzen die ein Aufprall aus einer solchen Höhe mit sich bringen würde.
Um das folgende wirklich verstehen zu können, sollte man wissen, dass das nicht mein erster Fall ist. Allerdings wohl der Erste dieser Art. Vorher waren es vielmehr kleine Hügel, von denen ich eher gerollt bin, mir ein paar blaue Flecke geholt habe, vielleicht mal ein paar geprellte Rippen oder einen verstauchten Fuß. Aber ich konnte danach aufstehen, mich schütteln wie ein nasser Hund und mein Leben weiterleben, immer im Hinterkopf, beim nächsten Mal ein bisschen vorsichtiger zu sein.
Nur war das hier und jetzt ein komplett anderes Kaliber. Es war kein sanfter Hügel, ich würde danach nicht einfach aufstehen und im schlimmsten Fall ein paar Tage humpeln. Konnte man nach einem solchen Fall überhaupt je wieder gehen? Oder sich bewegen?
Ich weiß nicht, ob mich bei all diesen Gedanken meine Angst fest im Griff hatte oder ob sie der Auslöser dieser Gedanken gewesen ist, aber nachdem ich einige Minuten gefallen bin, ohne zerschmettert am Boden aufzuschlagen, öffnete ich die Augen.
Der Boden war nicht wirklich nähergekommen, also würde das hier wohl noch eine Weile dauern. Ich sah mich erstmals wirklich um und plötzlich war alle Angst verschwunden. Ich denke nicht, dass ich beschreiben kann, was ich sah, aber um es einfach zu machen, sage ich es war Alles, die gesamte Welt und sie lag mir buchstäblich zu Füßen.
Das war das erste Mal, dass sowas wie Hoffnung in mir aufkam, dass ich diesen Fall überstehen konnte. Die Tatsache, dass der Boden noch immer dieselbe Entfernung hatte, half natürlich.
Ich genoss die Aussicht, hörte das Rauschen in meinen Ohren, fühlte mich befreit und hätte glücklicher nicht sein können. All diese Eindrücke, die zu verarbeiten es wohl ein ganzes Leben brauchen würde, stürmten auf mich ein. Das türkisblau des Meeres, der fast schneeweiße Strand auf der einen Seite, das dunkle Grün dichter Wälder, die sich wie ein Teppich über die Welt ausbreiteten auf einer anderen. Da waren Berge, höher als ich sie mir hätte vorstellen können, mit ihren schneebedeckten Kuppen und überall Menschen. Ich konnte sie sehen, blieb aber für sie unbemerkt, war ich doch viel zu weit entfernt von allem.
Und dann war die Angst wieder da. Sie kam nicht langsam und leise oder mit Kapfschrei angestürmt, sondern war einfach da, mich komplett ausfüllend und einnehmend. Ich wusste nicht, wie lang dieser Fall dauern wird und was die Konsequenzen waren, aber im Leben konnte ein solcher Sturz nicht gut ausgehen. Also rollte ich mich zusammen, so gut es eben geht in meiner Situation, spüre, wie sich jeder Muskel in meinem Körper verkrampft, so dass es weh tut und mit Hilfe dieser allumfassenden Panik, erwachen die buntesten Bilder in meinem Kopf zum Leben. Obwohl bunt hier das unpassendste Wort ist, dass man verwenden kann. Die Bilder erinnern an Alpträume, die man als Kind hatte. Von Monstern unter dem Bett und Hexen vor dem Fenster. Nur das es hier nicht um alberne Fantasiegestalten einer vierjährigen geht, sondern um mein Leben.
Ich weiß, dass ich jeden Moment auf dem Boden aufschlagen werde, auf dem Boden aufschlagen muss. Seit einer Ewigkeit stürze ich und es kann nur noch eine Frage der Zeit sein.
Nur als ich zum Boden schaue, ist dieser noch genauso weit entfernt wie damals, als ich noch in Sicherheit auf meiner Picknickdecke saß und Wein trank. Bloß das hier die Aussicht um so vieles besser war. Oder nein, es war nicht nur die Aussicht. Wenn ich alle Kraft aufbiete und die Angst in den Hintergrund dränge, merke ich, dass auch das Gefühl hier ein ganz anderes ist, als das auf der sicheren Decke. Ich fühle mich frei und groß, stark und unabhängig. In diesen Momenten weiß ich, dass das Beben der Erde und mein dadurch verursachter Fall, das Beste ist, was mir passieren konnte. Das ich eine Möglichkeit bekommen habe, die so vielleicht einzigartig ist.
Seit meinem Sturz von der Klippe ist schon viel Zeit vergangen. Zumindest glaube ich das, denn ich konnte am Boden, der mir mal näher und mal weiter entfernt vorkommt, den Wechsel der Jahreszeiten beobachten.
Ich lebe in einem ständigen Wechsel aus purem Erstaunen und vollkommenden Glück, aber auch unerträglicher, schwarzer Angst und Bewegungsunfähigkeit. Es fühlt sich an, als würde in meinem Körper oder vielmehr in meinem Kopf ein erbitterter Kampf geführt werden. Ein Krieg zwischen Angst und Verstand, Realität und Einbildung, Hoffnung und Aussichtslosigkeit.