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Vom Walnüsse sammeln und vom Walnüsse essen
Vom Walnüsse sammeln und vom Walnüsse essen
Unter meinem Bett wohnt eine Maus. Sie schläft in einem kleinen rosa Puppenhäuschen, das ich auf dem Speicher fand. Im Sommer trägt sie einen Strohhut, der nach Johannisbeeren riecht und im Winter läuft sie mit rot-weiß gestreiften Socken durch's Haus. Die Socken habe ich ihr zu Weihnachten gestrickt. Meine Maus hat auch einen Namen. Sie heißt Steffi. Eigentlich lautet ihr voller Namen Stefanie. Aber sie mag es nicht, wenn ich sie so nenne. Nur wenn ich wütend auf sie bin, rufe ich sie Stefanie, um ihr zu zeigen, dass ich mich geärgert habe. Meistens tut es aber Steffi.
Meine Maus kann lesen. Davon bin ich fest überzeugt. Auch wenn es ein wenig verrückt klingt. Wie sollte Steffi denn sonst zu mir gefunden haben? Das war nämlich so. Ihr müsst wissen, dass ich leidenschaftlich gerne Walnüsse sammle. Wenn ich ein König wäre, gäbe es in meinem Königreich den ordentlichen Beruf des Walnuss-Sammlers per Gesetz. Steffi ist da auch meiner Meinung. Sie liebt Walnüsse genau so wie ich. Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Manchmal verabreden wir uns zum Walnuss-Essen-Wettstreit in der Küche. Meistens gewinnt sie. Sie hat es einmal fertig gebracht, so viele Nüsse zu essen, dass sie mit ihrem dicken Bauch nicht mehr unters Bett passte. Da konnte sie drei Nächte im Zipfel meines Kopfkissens übernachten. Ich musste mir jeden Abend die Geschichte vom Nussknacker anhören, dem ausgerechnet zur Weihnachtszeit ein Zahn abgebrochen war. Mit seinem Gejammer verdarb er den Kindern fast das Weihnachtsfest. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eigentlich wollte ich euch ja erzählen, warum ich weiß, dass Steffi lesen kann. Das Ganze fing so an. In einem Jahr gab es Unmengen von Walnüssen. Es regnete wortwörtlich Walnüsse von den Bäumen. Ich sammelte und sammelte. Bald war das ganze Haus voller Nüsse. Ich musste Fenster und Türen geschlossen halten. Denn, wenn ich die Vordertür öffnete, rollte rumpeldipumpel ein Teil meiner Walnüsse die Straße hinab, war um die Ecke geflitzt, über den Markt gehuscht und hast du nicht gesehen weg für immer. Bei der Hintertür erging es mir nicht besser. Selbst das Fenster zum Hof konnte ich nicht öffnen ohne das ein Teil der gesammelten Vorräte gierig vom dunklen Dickicht meines Gartens verschluckt wurde. Was sollte ich nur tun? Ich muss einen Teil meiner Schätze verkaufen. Das Herz wurde mir ganz schwer. Aber wie sollte ich das anfangen? Am besten gebe ich eine Annonce in der Zeitung auf, dachte ich. Also machte ich mich am nächsten Tag auf den Weg zu Tante Berta.
Tante Berta hatte einen Zeitungsstand um die Ecke. Am Rathausplatz bei der großen Linde. Ursprünglich war der Zeitungsstand eine kleine rechteckige Holzkiste. Tante Berta hatte gerade genug Platz, um sich darin zu drehen. Mit der Zeit naschte sie jedoch zu viel von ihren eigenen Süßigkeiten statt sie zu verkaufen. Da mal ein Pfefferminzplätzchen, dort mal ein klebriges Karamellbonbon. Tante Berta wurde immer dicker. Sie wurde so dick, dass sie das ganze Häuschen einnahm und die Hütte schließlich den Umriss von ihr annahm. Berta trug den Zeitungsstand wie ein Kleid. Sie ging mit ihm Einkaufen, besuchte mit ihm das Museum und, ob ihr es glaubt oder nicht, sie duschte sogar mit ihm. Dem Zeitungsstand gefiel das sehr. Nur die Kunden von Tante Berta waren ein wenig darüber verstimmt. Wer liest schon gerne pitsche patsche nasse Zeitungen am Frühstückstisch, die nach Apfelshampoo riechen?
Als ich am Marktplatz ankam, sah ich eine tropfende rote Nase aus dem Kistenkleid hängen. Berta hatte eine dicke Erkältung. Sie schniefte und schnuffte. Um sie herum lagen zerknüllte Taschentücher. Es sah aus, als hätte jemand Schneebälle nach ihr geworfen. Ich erzählte ihr was ich wollte. „Eine kleine Annonce in der Abendausgabe, bitteschön!“ Sie nahm Blatt und Stift. “Walnüsse ...”, fing ich an. Weiter kam ich nicht. Berta bekam einen Hustenanfall. Die Zeitungen fielen aus ihren Fächern, Schokoladenkekse rollten über das Pflaster, Gummibären hüpften in den Gulli und eine bunte Reihe runder Kaugummis kullerte den Rinnstein entlang, waren über den Markt gehuscht, um die Ecke geflitzt, die Straße hinab und hast du nicht gesehen weg für immer. Ich half ihr alles wieder einzuräumen. Dann nahm sie wieder Blatt und Stift in die Hand. “Walnüsse zu ...”, fing ich erneut an. Wieder ein Hustenanfall. Zeitungen auf den Boden, Lakritzschnecken in den Gulli und der Rest der roten sauren Drops den Rinnstein entlang, über den Markt gehuscht, um die Ecke geflitzt, die Straße hinab und hast du nicht gesehen weg für immer. Alles noch mal einräumen. Ich fing an: “Walnüsse zu ...” Berta verzog das Gesicht. Oh nein! Diesen Ausdruck kannte ich. Jetzt kam gleich ihr berühmtes Donnerniesen. Ich fing an zu Laufen. War über den Markt gehuscht, um die Ecke geflitzt, die Straße hinab und hast du nicht gesehen ... Na, ihr wisst schon. Halt! Stopp! Da fehlt noch etwas. Natürlich dachte ich. Ich drehte mich um und rief außer Atem: “... verkaufen, Berta, Nüsse zu verkaufen!” Puh! Anzeigen aufgeben kann richtig anstrengend sein.
Am nächsten Tag klingelte es. Als ich die Tür öffnete, stand Steffi auf der untersten Treppenstufe. Sie hob eine pitsche patsche nasse Zeitung hoch. Roch es nicht ein wenig nach Apfelshampoo? Sie tippte mit ihrer Pfote auf einen kleinen Text. Da stand in fetten Druckbuchstaben. Walnüsse zu verschenken!
Verflixt! Stand da wirklich ... zu verschenken? Tante Berta musste wohl ein paar von den sauren Drops in die Ohren bekommen haben. Steffi sah mich mit ihren Kulleraugen an und tippte ungeduldig auf die Stelle, wo stand: ... zu verschenken. Glaubt ihr mir jetzt, dass Mäuse lesen können? Ja ja, kleine Maus, lass mich kurz nachdenken! Jeder kommt in seinem Leben wenigstens einmal an einen Punkt, an dem er zu seinen Entscheidungen stehen muss. Genau an dieser Stelle stand ich jetzt. Ein Wort ist ein Wort. Und wenn man es gegeben hat, sollte man sich auch daran halten. Das gilt allgemein und im ganz besonderen für ein Versprechen unter Nüssesammlern. Wie sieht das denn aus, wenn da steht ... verschenken und plötzlich heißt es ... verkaufen? Ich hätte ja meine Glaubwürdigkeit in der gesamten Mäusewelt verloren. Als Lügner da gestanden. Nein, unter Nüssesammlern gibt es so etwas wie eine Berufsehre, einen feierlichen Ehrenkodex. Der da lautet: “Bietet ein jeglicher Nüssesammler seine gesammelten Vorräte oder ein Teil davon öffentlich und ohne Entgelt an, so ist dieser verpflichtet, seinem Versprechen ohne wenn und aber nachzukommen!” Paragraph 1, Absatz 2 der Walnusssammler-Zunft-Ordnung. Zack, Papp, Ende aus! Da gibt es jetzt kein zurück.
Also bat ich Steffi herein. Auch deswegen, weil wieder ein guter Teil meiner Walnüsse durch die geöffnete Tür rollte. Trippelditrippelditrapp, die Treppe hinunter, den Gartenweg entlang, die Straße hinab, um die Ecke geflitzt, über den Markt gehuscht und hast du nicht gesehen weg für immer. “So, Steffi wie viele Nüsse willst du denn?” Sie hob die Vorderpfote und zeigte mir 1,2,3 ... Na, wer weiß wie viel Zehen eine Maus an der Vorderpfote hat? Genau, vier. Das heißt an den Hinterpfoten haben sie jeweils 5. Merkt euch die Zahl gut! Dass wissen nur die wenigsten Erwachsenen. „Also, vier Kilo Nüsse willst du, richtig?“ Steffi nickte. „Einen Moment! Lass mich kurz rechnen!“ Ich nahm den gelben Taschenrechner aus der Schublade meines Küchenschranks. Ich tippte die Vier ein und drückte anschließend die magische Taste mit der Zahl Pi. Die Zahl Pi ist eine wichtige Zahl. Wenn nicht die wichtigste Zahl überhaupt. Irgend ein griechischer Philosoph hat sie eines Morgens in seiner Hosentasche gefunden. Die Zahl Pi ist eine Art Superklebstoff, der das ganze Universum zusammen hält. Ehrlich! Gäbe es die Zahl Pi nicht, wäre ein Apfel nicht rund, sondern eckig. Wer mag schon eckige Äpfel? Mein Taschenrechner spuckte sofort eine riesige Zahl mit vielen Kommas und Nullen aus. Die Zahl war so groß, dass einige der Nullen nicht mehr genug Platz im Taschenrechner hatten und unten heraus fielen. Plumpspadauf, auf den Boden knatterten und von da aus wie lichtscheue Käfer unter den Teppich rollten. Ihr wisst natürlich auch, das die Null ebenso wie die Zahl Pi eine wichtige Rolle in der Rechenkunst spielt. Geht eine verloren, bekommt das Universum eine winzig kleine Delle, denn das Universum ist reine Mathematik. Es ist vollgestopft mit Zahlen, wie ein Kartoffelsack mit Kartoffeln. Fehlt eine Null stimmt die ganze Rechnung nicht mehr. Was sollte ich jetzt tun? Die Nullen, die sich unter dem Teppich versteckt hatten wieder aufkehren? Nein! Ich entschloss mich eine runde grüne Taste zu drücken. Einfach so. Mal schauen was passiert. Der Taschenrechner fing an zu rechnen. Alle Tasten zitterten leise. Rosafarbener Rauch kam aus dem kleinen Bildschirm. Roch es etwa nach Zimtplätzchen? Dann ein rülpsendes Geräusch und vor mir erschien die Zahl zwei-acht-zwei-sieben-sieben Komma drei-eins-vier-fünf. “Potzblitzzelbrizzel noch mal!”, rief ich laut. Die Nüsse auf der Küchenlampe fielen vor Schreck in den Suppentopf auf dem Küchentisch. Mit so einer Zahl können die meisten Leute natürlich nichts anfangen. Aber ich. Es war genau die Anzahl der Nüsse, die ich unter meinem Bett hatte. Die Menge der Nüsse unter meinem Bett musste also genau vier Kilo wiegen. Mein Taschenrechner lügt doch nicht? Oder? Vielleicht hätte ich doch besser die blaue Taste drücken sollen?
Steffi sah mich nervös an. Sie trippelte ungeduldig von einer Pfote auf die andere. Also erklärte ich ihr, dass alle Walnüsse die unter meinem Bett lagen in diesen Moment ihr gehörten. Unter Walnusssammlern ist es üblich ein Geschäft mit Handschlag zu besiegeln. In unserem Fall war es natürlich ein Hand-Pfoten-Schlag. Wir waren beide glücklich. Steffi war glücklich über die geschenkten Nüsse und ich war glücklich über meine tollen Rechenkünste. Mein alter Mathematiklehrer, Herr Feuereisen, wäre stolz auf mich.
Diejenigen unter euch, die sich ein wenig mit Mäusen und Gewichten auskennen, haben schon längst erkannt, dass bei dem Geschäft ein kleines Problem auftauchte. Wie sollte eine so kleine Maus wie Steffi einen Sack mit vier Kilogramm Nüssen nach Hause tragen? Jede Nuss einzeln? So dachte ich auch. Aber dann viel mir die Haustür ein. Nächste Rechenaufgabe. Zwei-acht-zwei-sieben-sieben Komma drei-eins-vier-fünf Nüsse mal einmal Haustür öffnen, macht zwei-acht-zwei-sieben-sieben Komma drei-eins-vier-fünf Mal Tür aufmachen und wieder zumachen. Und das bedeutet zwei-acht-zwei-sieben-sieben Komma drei-eins-vier-fünf Mal trippelditrippelditrapp, die Treppe hinunter, den Gartenweg entlang, die Straße hinab, um die Ecke geflitzt, über den Markt gehuscht und hast du nicht gesehen weg für immer. Ich wäre alle meine Nüsse los gewesen. Nur noch die Nüsse von der Küchenlampe, die im Suppentopf lagen wären mir übrig geblieben.
Mir wurde ganz übel. Steffi sah mich mit mitleidigem Blick an. In diesem Augenblick, fiel mir ein Bericht über Mäuse ein, die ich in einer fast trockenen Zeitung gelesen hatte. Da stand. “Die Hausmaus hat sich wahrscheinlich dem Menschen schon vor über 8000 Jahren angeschlossen, etwa in der Zeit, als die Menschen mit dem Sammeln von Walnüssen begannen ...” “Steffi, willst du bei mir einziehen und deine Nüsse hier nach und nach essen?” Sie nickte aufgeregt.