Vom Sinn und Unsinn
Vom Sinn und Unsinn
Im Augenblick sind wir zu viert, wie wir da bei einander liegen. Zum Teil lehnen wir und aneinander an oder wir liegen so nahe zusammen, dass wir uns fast berühren. Könnten wir atmen, würden wir den Atemhauch des Anderen auf unserem Körper spüren. Wenn wir etwas spüren könnten.
Mir bleibt nur die Erinnerung an das Lebendige, dessen Werk ich bin. Als das Lebendige noch in mir war, konnte ich zwar sehr langsam, aber doch mit der Zeit meine Perspektive wechseln. Dadurch wurde mir klar, dass die Welt nicht nur ein gleicher, immer derselbe Ort ist.
Auch das Lebendige war der großen Kraft aus der Welt ausgeliefert. Die Strecken, die wir aus eigener Kraft zurücklegten, waren viel kleiner als die Strecken, die wir durch die große ungezähmte Kraft weiter gewirbelt und geschleudert wurden.
Ich erinnere mich noch, dass ich nicht immer gleich aussah. Nein, ich wuchs kontinuierlich an, Lage für Lage, Schicht für Schicht.
Jeden Tag konnte ich fühlen, wie ich wieder gewachsen bin. Es schien nie aufzuhören und doch war ich eines Tages fertig.
Das Lebendige war glücklich, weil es in mir geschützt und geborgen war.
Ich war gerade noch leicht genug, dass wir uns zugegeben sehr langsam, aber doch stetig bewegen konnten; mein Lebendiges nahm mich immer mit und war sehr zufrieden.
Nach einigen Sonnen und Monden merkte ich, wie sich doch noch Etwas an mir veränderte. Mein Lebendiges gestaltete mich noch schöner.Meine Oberfläche wurde Stück um Stück glänzender; vielleicht hing das auch damit zusammen, was mein Lebendiges zu essen fand. Ich weiß es nicht genau, es ist auch egal. Jedenfalls registrierte ich, dass ich von so manchen Anderen von uns ehrfurchtsvoll bestaunt wurde. Dieses Glänzende musste also für andere Lebendige besonders schön sein, wozu dieses letzte Schicht auf mir nun sonst dienen sollte, war mir nicht klar.
Im Gegenteil, ich fand das sehr unpraktisch und hatte ständig Angst, dass mein Lebendiges nun besonders schnell gefangen oder gefressen wird, weil wir ja unübersehbar geworden waren. Selbst im Dunkeln funkelte ich, wenn wir an den Felsen vorbeikamen und ich war und bin mir bis heute unsicher, ob diese Schönheit nun ein Vorteil oder ein Nachteil für mich ist.
Jetzt bin ich hier in dieser Anderswelt neben anderen Schönheiten, einfach hinausgeschleudert aus allem, was mir und meinem Lebendigen lieb und teuer war.
Angefangen hat es damit, dass ich bemerkte, wie die große Kraft immer stärker wurde. Dann hat es nicht mehr lang gedauert und mein Lebendiges war nicht mehr lebendig. Gefressen wurde es nicht, wie ich es schon oft beobachtet hatte bei anderen Lebendigen; ich spürte einfach keinen Atemhauch mehr.
Es rührte sich nicht ; wir bewegten uns nicht mehr, sondern wurden nur noch bewegt.
Die große Kraft spülte das Lebendige, das ja nun das Tote war, einfach aus mir heraus. Ich musste lernen, wie es ist, nur noch von außen bewegt zu werden.
Eines nachts wurde ich so heftig hin und her geschleudert, mit ganz vielen meiner Art. Wir stießen ständig gegen einander und ich war froh, dass ich nichts fühlen konnte, denn das hätte Schmerzen bedeutet.
Mit einem gewaltigen Ruck hörte plötzlich die große Kraft auf und die Welt blieb stehen.
Ich war in der Anderswelt. Nichts bewegte sich mehr; ich blieb ganz still liegen auf einem kratzigen Untergrund, der nichts von der sanften Weichheit des Bodens meiner Heimat hatte.
Jetzt spüre ich zwar einen Hauch, der früher in mir war von meinem Lebendigen; auf einmal außen auf meiner Glanzschicht, aber der ist trocken und unruhig und man weiß nie, wann er kommt.
So weit ich sehen kann, liegen ganze Massen von meiner Art über einander, auf einander, neben einander, richtig rum, falsch rum, schief, gerade; es ist ein Desaster.
Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass es so viele von uns gibt. So Viele, irgendwie alle gleich und alle irgendwie verschieden. Bei vielen von uns fehlen Zacken und Ecken und die Meisten sind nur halb angekommen.
Die andere Hälfte ist entweder kaputt oder liegt weit entfernt in irgend einem Haufen von uns, die gewaltige letzte Bewegung der großen Kraft hatte die meisten von uns beschädigt und viele ganz zerstört.
Selbst wenn wir ganz geblieben sind, liegen wir doch merkwürdig nahe bei einander auf diesem kratzigen Boden.
Mir fehlt die große Kraft ganz schrecklich. Genauso wie mein Lebendiges mir schrecklich fehlt.
Nichts wiegt uns mehr sanft hin und her oder wirbelt uns vergnüglich von einem Platz zum Nächsten. Ich starre immer aus der gleichen Perspektive auf meine neuen Nachbarn.
Ich frage mich, warum ich überhaupt übrig bleiben musste. Hätte ich nicht, wie mein Lebendiges einfach verschwinden können, als das Lebendige plötzlich nicht mehr lebendig war?
Zu überleben ohne zu leben, ohne wirklich lebendig zu sein, erscheint mir sehr grausam.
Wie gesagt, wir sind hier zu Viert. Eine ist schön blau, glänzt aber nicht, dafür hat sie schön geschwungene Rippen auf ihrem Körper. Die Andere ist viel breiter als wir alle, aber nicht so schön hoch geschwungen wie ich, sie verjüngt sich auf nicht nach oben und hat keine Spitze wie ich. Dafür glänzt sie nicht nur silber und goldfarben, sondern schillert in verschiedenen Mustern in fast allen Farben. Schwarze Kringel werden ausgefüllt mit grünen, lilafarbenen, silberblauen und rosafarbenen Flächen. Wenn das Licht darauf fällt, ändern sich die Farben.
Ich staune sie an und weiß nicht, ob ich mich freuen oder fürchten soll, bei so einer imposanten Nachbarschaft. Denn eines hab ich gelernt in meinem früheren Leben in der alten Heimat : Schön sein heißt auffallen und auffallen ist immer auch gefährlich.
Dann haben wir noch eine andere Art da, die ist nicht so wie wir Anderen. Da war das Lebendige viel größer und länger als bei uns und es hatte vorne einen Kopf mit zwei Stäbchen dran. Bei unseren Lebendigen hast du nicht gesehen, wo vorne und hinten ist. Ich hab es natürlich gewusst, weil es mich ausgefüllt hat.
Wir sind also übrig gebliebene Behausungen, leere Hüllen, ein Schutz, der niemanden mehr schützt, eine Fassade, die niemanden mehr schmückt. Wozu soll das gut sein und warum sind wir so viele hier?
Die Sonnen sind hier in der Anderswelt unerträglich heiß und hell, selbst die Monde lassen uns leuchten wie verrückt. Für wen glänzen wir so ?
Der Hauch, der hier herrscht ist nicht sanft und gleichmäßig, wie der von unseren Lebendigen, sondern kalt, rauh und sehr plötzlich da und wieder fort. Ich bin wirklich untröstlich, weil mir das Schaukeln unserer großen Kraft so sehr fehlt, weil ich immer und ewig das Gleiche aus dem selben Blickwinkel betrachten muss und ich nirgend wohin mehr bewegt werde.
Stopp: Ich habe mich getäuscht, auch hier gibt es eine große Kraft ! Sie ist schrecklich laut und macht alles kaputt. Wenn wir schreien könnten, wäre die Anderswelt von furchtbaren Schreckens- und Schmerzenslauten erfüllt! So knirscht es lediglich entsetzlich, als die große Kraft über uns hinwegrollt; ich sehe und höre, wie wir sterben, wenn wir sterben könnten, zertreten, zerbröselt, zermalmt; in tausend Stücke zerbrochen.
Doch das ist noch nicht alles. Bevor sie über mich und meine Nachbarinnen hinweg walzt, hebt sie eine unglaubliche Menge von uns in die Höhe und wir werden so hart, wie ich es mir niemals hätte träumen können , auf den Rücken dieses Monsters geworfen. Eben jetzt erst erkenne ich, dass diese große Kraft in der Anderswelt ein riesiges Ungeheuer ist. Wir müssen uns nun auf dem Rücken des Monsters mitbewegen. Ich habe schon beobachtet, dass welche von uns versehentlich im Bauch von Ungeheuern gelandet sind; aber die waren alle leise und wir haben sie nur an der Bewegung bemerkt.
Und nochmals. diesmal werden auf uns drauf kratziger Boden mitsamt von Massen von uns auf mich und meine Nachbarn geschleudert, wobei ich feststelle, mittlerweile ganz andere Nachbarn zu haben.
Es wird dunkel um mich, wie in der mondlosen Nacht.
" Ich war`s nicht," brüllte Tobias.Die Tränen laufen ihm in dicken Spuren über die Backen.
Seine Mutter schüttelt den Kopf und hebt eine Glasscherbe vom Boden auf. " Du hast doch wieder in der Wohnung Fußball gespielt, obwohl ich es dir verboten habe. Jetzt siehst Du auch warum. Mein Lieblingsbild liegt am Boden, und der Glasrahmen ist völlig zuerstört."
Trotzig schüttelt Tobias den Kopf und motzt: " Aber ich war es wirklich nicht. Ich bin da gesessen und hab mir dein neues Bild mit den Muscheln und dem Schneckenhaus angeschaut, aber ich schwöre, ich hab es nicht angefasst."
" Gib es wenigstens zu, wenn du Mist gebaut hast, " erwidert die Mutter, während sie rasch in die Küche läuft, um den Handfeger und das Kehrblech zu holen.
" Aber die silberne Muschel ist verschwunden, schau doch mal Mama! Da ist blos noch Sand auf dem Bild, wo die silberne Muschel aus Perlmutt war."
Die Mutter fegt die Scherben zusammen und unterdrückt ein Lächeln, das ihr wider Willen über das Gesicht huscht. " Jetzt red keinen Quatsch, Tobias, nun sag schon wo hast du den Fußball versteckt ?"
Tobias heult laut auf. " Ich hab gar nicht Fußball gespielt, das musst du mir glauben. Schau mal, der Fußball liegt ja auch im Flur!"
" Ja, da wo du ihn hin gekickt hast," antwortet die Mutter genervt. " So und jetzt Abmarsch in die Badewanne, für heute reicht es!"
Widerwillig trottet Tobias aus dem Zimmer und die Mutter bringt die Glasscherben auf dem Kehrblech in die Küche. Wieder im Wohnzimmer hebt sie das Bild auf und klaubt die letzten übersehenen Scherben vom Bild.
Plötzlich erstarrt sie und kneift die Augen zusammen. Das kann doch nicht möglich sein. Auf dem Bild, das sie letzte Woche gemalt hatte, fehlt die Perlmuttmuschel neben der farbenfrohen Paua. Sie prüft genau, ob sich jemand an dem Bild zu schaffen gemacht hat, doch sie kann keinerlei Spuren von Übermalung entdecken. Einen Augenblick lang zweifelt sie an ihrem eigenen Erinnerungsvermögen, doch sie ist sich sicher, im Vordergrund eine perlmuttfarbene Muschel gemalt zu haben.
Sie schüttelt den Kopf und legt das Bild beiseite. Ihr Blick wird von einem seltsamen Schimmern hinter dem Sessel angezogen. Sie schiebt das Möbelstück beiseite und hebt eine silberne Perlmuttmuschel auf. Zunächst legt sie diese auf ein Tischchen neben dem Sessel und wundert sich. Es ist nichts Ungewöhnliches für sie, eine Muschel auf dem Boden zu finden, da sie eine Sammelleidenschaft für Schneckenhäuser und Muscheln entwickelt hat. Sie weiß aber, dass sie noch nie eine perlmuttfarbene Muschel besessen hat, sonders diese von einem Foto als Vorlage gemalt hat.
Die Mutter schiebt den Gedanken beiseite, so wie Menschen es tun, wenn Dinge nicht logisch zu erklären sind. Sie nimmt den Handbohrer, bohrt ein kleines Loch durch die Spitze der Perlmuttmuschel und fädelt ein dünnes Lederband durch das Loch.
Später als Tobias schon im Bett liegt und um seine Gutenachtgeschichte bettelt, holt die Mutter die Muschel, die nun ein Anhänger geworden ist hervor und hängt ihm das Lederband um den Hals. " Die wird dich jetzt immer beschützen, " flüstert sie ihm ins Ohr.
Er drückt seine Ärmchen eng um die Mutter und wispert : " Danke Mama, die ist soooo schöön."
" Die ist nicht nur schön. Immer wenn du Angst hast, nimmst du die Muschel in die Hand und du wirst merken, dass du dann ganz viel Mut bekommst!"
Tobias umschließt die Muschel ganz fest mit seinem linken kleinen Händchen.
Und ich weiß jetzt endlich, warum ich übrig geblieben bin, als mein Lebendiges fort war. Ich bin gar nicht nur eine Fassade und eine leere Behausung, die keiner mehr braucht. Ich beschütze wieder jemanden. Ich werde wieder bewegt von einem Lebendigen, der auf mich achtet. Er nimmt mich vorsichtig in die Hand und wenn er Angst hat, braucht er meine Hilfe. Die Hilfe eines kleinen nutzlosen Dings, wie mir, das plötzlich nicht länger nutzlos ist.
Titania