Vom Schweigen und Hoffen
Tränen stiegen in meine Augen, wenige Sekunden, nachdem ich die Zimmertür hinter mir geschlossen hatte. Schnell versuchte ich sie niederzukämpfen, zurückzuhalten, Emotionen mit Pragmatismus und Erfahrung zu bekämpfen.
Ein junges Mädchen saß auf ihrem Bett, welches mit weißen Lacken und Decken bezogen war und direkt unter dem Fenster stand, was den Zweck verfolgte möglichst viel Licht auf ihren Schlafplatz zu werfen, von dem sie sich täglich weniger fortbewegte.
Mir wurde dieser Kontrast an diesem Tage wieder schmerzhaft bewusst, als ich meine Schwester einzig mit einem grauen Nachthemd bekleidet und die Arme um die Knie schlingend da sitzen sah und sie mir die Aussichtslosigkeit meiner Lage vor Augen führte, obgleich sie dies nicht absichtlich tat.
Ein fader Geschmack suchte sich den Weg in mein Bewusstsein und die Gerüche von sterilen Möbeln, verbrauchtem Sauerstoff, Schweiß und Tränen paarten sich zu einem beißenden und bedrückenden Gemisch, das die Luft schwängerte und die Trostlosigkeit nahezu plastisch, weltlich, für jeden begreifbar machte. So als würde man Emotionen riechen können, weil sie aus der Isolation des einzelnen Individuums ausgebrochen waren.
>>Hallo Tom<<, sprach sie mich mit brüchiger Stimme an, die mir verriet, dass sie jene schon länger nicht mehr benutzt hatte. Das war nichts neues, die Ärzte hatten mir schon vor längerer Zeit berichtet, dass ich zu der einzigen Person geworden war, mit der Jessica überhaupt ein Wort wechselte.
Aber trotzdem können Sie vielleicht verstehen, dass ich mich jeden Tag aufs Neue an die Hoffnung geklammert habe, es würde irgendwann besser werden. Weil man nicht aufgeben will, nicht aufgeben kann. Und so ringt das Herz ein ums andere Mal mit dem kühlen Verstand, zwei Urgewalten der Natur, die in Harmonie zu Perfektion führen können und im Streit destruktive Folgen biblischen Ausmaßes hervorzurufen vermögen. Irgendwann muss es doch schließlich besser werden oder nicht? Heißt es nicht nach jedem Tief kommt auch ein Hoch?
Unwillkürlich musste ich an die vergangene Zeit denken, als meine Schwester vor Enthusiasmus und Lebensfreude nur so strotzte und mir pflichtbewusst in regelmäßigen Abständen die Nerven geraubt hatte.
Irgendwann war sie trauriger und ruhiger geworden, warum vermochte niemand genau zu sagen, sie sprach nicht darüber. Wie das Leben so spielt, Zeit nahm ihren Lauf, ich bekam wenig von alldem mit. Zu viel Arbeit, zu weit weg, zu wenig Zeit. Mittlerweile nahm ich mir alle Zeit, die nötig war.
Während meine Überlegungen ihren Lauf nahmen, setzte ich mich auf den alten Holzstuhl an ihrem Bett, der sich seit meinem letzten Besuch keinen Zentimeter bewegt hatte. Ich stellte meine Aktentasche auf den Boden ab, legte den Mantel ab, richtete meine Krawatte.
>>Wie war die Arbeit?<< Wissen Sie wie weh es tut von solch einem Menschen in solch einer Situation eine solch banale Frage gestellt zu bekommen? Es zerreißt einem das Herz. Man möchte weinen, hemmungslos. Aber man will auch stark sein, Vorbild sein.
>>Anstrengend, aber erfolgreich<<, sagte ich deshalb nur. Sie nickte anerkennend. Lächeln tat sie schon seit Jahren nicht mehr.
>>Sie hat ihren Lebenswillen verloren, Herr Becker<<, hatten die Ärzte vor einigen Wochen zu mir gesagt. >>Die Medikamente dämmen die extremen Gefühlschwankungen, die sie ja kennen. Was bleibt ist stabile Melancholie. Mehr können wir nicht tun.<< Was blieb war Hoffnung.
Ich fuhr mit der Hand über mein Gesicht, ehe ich sie in einer Position verharren ließ, die mein Kinn stützte. >>Und wie geht’s dir?<<
Sie zuckte die Schultern. >>Ich sehe aus dem Fenster und versuche zu erkennen, warum die Menschen Dinge so sehr lieben, die für mich nichts anderes als Nichtigkeiten sind. Und ich frage mich was aus dem Mädchen geworden ist, das ich war. Ehrlich gesagt ist dieser Ort zum wieder glücklich werden nicht sonderlich geeignet.<<
Ich spürte einen Stich in der Brust, einen kleinen, kaum erkennbaren verbalen Seitenhieb, der mir vorwarf ich würde ihr nicht helfen. Hatte sie den Glauben in mich verloren oder hatte sie sich einfach damit abgefunden, dass ich gar nichts tun konnte? Wieder begann das Gefühlskarussell und die Fragen brachen über mein Bewusstsein ein, wie Wellen an den Felsen einer Brandung. Die Anstrengung meine Emotionen zu verbergen, war jetzt kaum noch zu übertreffen.
>>Wie geht’s dir denn?<<, fragte sie dann.
Meine Damen und Herren, so fühlt es sich an wahrlich hilflos zu sein.
>>Danke, gut<<, antwortete ich.