Vom Regen in die Traufe
Damals wusste ich nicht, wie ich wieder zu mir gekommen war. Zuerst konnte ich auch gar nichts erkennen. Ich kam von einem dunklen Ort hinein in ein blendend weißes Inferno und ich schätze mal dieser extreme Wechsel war der Grund für mein Erwachen.
Meine Lider schienen Tonnen zu wiegen. Sie waren verklebt und krustig gewesen, als hätte ich lediglich geschlafen. Hören konnte ich zu dem Zeitpunkt auch nichts, soweit ich mich erinnere. Zugegeben, ich hörte etwas: ein anhaltendes, dumpfes Summen, hervorgerufen von dem Druck auf meinen Ohren.
Das Einzige, was ich wirklich mitbekam, war die Bewegung und das entfernt vertraute Gefühl zwischen zwei großen Rädern zu sitzen, die über unebenen und nichtasphaltierten Boden rollten. Jeder Stoß fuhr mir durch das Mark.
Der Druck verschwand allmählich und ging in Lärm über. Ich glaube auch, dass mich in diesem Moment wieder dieses Gefühl heimsuchte, durch welches einem der Magen implodierte. Dieses Gefühl, als wenn sich dir etwas Langes und Dünnes in den Nacken bohrt, die Wirbelsäule hinunter kriecht und dir zeitgleich, wie ein Stoß vor den Kopf, die Situation klar macht. Dieses Gefühl kannte ich gut. Ich glaube jeder kennt es in der ein oder anderen Form. Das fängt beim knapp verhinderten Sturz das Treppenhaus hinunter an und reicht bis hin zum Überholen bei Gegenverkehr. Wenn du realisierst, dass der nächste Schritt gefährlich, oder gar tödlich sein kann und du gerade so noch die Kurve kratzt.
Es gab einen Moment in meinem Leben, da war es mir nicht gelungen die Kurve zu kratzen und die Folge war, dass ich fast abgekratzt wäre.
Meine Augen tränten und trockneten gleichzeitig wieder aus. Instinktiv hielt ich mir den rechten Arm, meinen einzig verbliebenen, vor die Augen, was wiederum Kraft kostete. Ich erkannte Umrisse im hellen Licht. Erst lediglich den meiner Hand, doch dann auch andere Kontraste weiter hinten im Blickfeld.
Direkt vor mir waren Menschen mit dem Rücken mir zugewandt. Zuerst glaubte ich noch, sie würden da nur herumstehen, aber kurz darauf merkte ich, wie sich alles wieder bewegte. Ganz langsam. Sie traten auf staubigem Boden, aus dem noch hier und da vereinzelte Grasbüschel wuchsen. Die Luft war heiß und trocken.
Nach kurzer Zeit konnte ich wieder scharf und deutlich sehen. Ich befand mich tatsächlich in einem Rollstuhl, obwohl ich vor anderthalb Jahren zuletzt einen benutzt hatte. Dies war auch eindeutig nicht meiner. Und ich wurde geschoben! Eine logische Schlussfolgerung.
Mein Nacken schmerzte heftig, als ich mich herum drehen wollte, um nachzusehen, wer es war. Wo war ich überhaupt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung wo ich mich befand, wie ich dorthin gekommen bin und was das überhaupt sollte. Hatten meine Verwandten nun endgültig genug von ihrem mürrischen Krüppel? So, wie meine Frau, die sich von mir hatte scheiden lassen.
Links und rechts erkannte ich nur eine graue, fleckige Wand, die in einem mittleren Abstand zu uns gute drei Meter in die Höhe reichte.
Die Stimme erschreckte mich erst. Sie war mir auch völlig fremd. Es war eine tiefe und ruhige Stimme, die sich jedoch gegen den Lärm durchsetzen musste.
»Sie sind aufgewacht.« Ich hatte versucht mich wieder umzudrehen, doch es wollte mir nicht gelingen. »Keine Sorge. Ich helfe ihnen schon die ganze Zeit. Bleiben sie ganz ruhig sitzen. Dann ist es für uns beide leichter.« Soweit ich mich erinnern kann, waren dies die einzigen Worte zwischen mir und meinem Helfer, bevor der Lärm für eine ganze Weile wieder überhand nahm. Es muss auch die Zeit gewesen sein, zu der mir aufgefallen war, das meine teure Beinprothese weg war. Weshalb ich wohl auch im Rollstuhl saß. Die Sachen, die ich am Leibe trug, welche ich immer noch trage, kannte ich auch nicht. Diese Verbindung aus Sträflingsuniform und Patientenkittel macht mir sogar jetzt noch zuschaffen.
Es muss wohl eine ganze Stunde vergangen sein, bis ich wieder versuchte mich umzudrehen. Ein Teil in mir fürchtete sich auch davor, das gleiche Bild zu erblicken, welches mir der Blick nach vorn offenbarte.
Begleitet von einem sonderbaren und angsteinflößenden Gefühl in meinem Kreuz schaffte ich es schließlich. Leider war es auch der gleiche Anblick, mit dem Unterschied, dass die Leute mir zugewandt in einer schier endlos langen Schlange dahintrotteten.
Der Rollstuhl, auf dem ich saß, wurde von einem untersetzten, aber kräftigen Mann geschoben. An sich wäre dies kaum eine Belastung für ihn gewesen, doch das überaus langsame Schneckentempo, mit dem sich der Zug vorwärts über den unebenen Boden bewegte, machte ihn zu schaffen. Seine dunkle Haut glänzte vor Schweiß. Ich weiß noch, dass ich mich plötzlich ganz mies dabei gefühlt habe. Ich kannte ihn noch nicht einmal und trotzdem schob er mich die ganze Zeit über.
»Danke.« Mehr brachte ich in dem Moment nicht hervor. Ich hätte hundert Worte sagen können, doch im Grunde genommen hätten sie nur dies ausgedrückt. Es wäre sinnlos gewesen, ihn zu bitten, sich eine Pause zu nehmen, denn die Schlange bewegte sich immer weiter, wenn auch langsam. Oft stockte sie, worauf der Mann den Rollstuhl wieder aus dem Stand heraus anschieben musste. Ich wusste nicht, wie er dazu kam, mich zu schieben. War er dazu aufgefordert worden, oder hatte er sich selbst dazu entschlossen? Ich weiß es selbst heute nicht.
Nach gefühlten drei Stunden, und es müssen wohl auch in etwa drei gewesen sein - ich lernte erst später, dass Zeit hier nichts bedeutete - hatten wir eine Art Tor erreicht.
Ich merkte, wie die Stimmung in dem gesamten Abschnitt der Schlange anstieg. Mein intaktes Bein war zwar eingeschlafen und mein Kreuz schmerzte, da dieser Rollstuhl einfach nicht für mich geschaffen war, aber auch ich war jetzt gespannt.
Langsam passierten wir das Tor. Ich hatte damit gerechnet, das dort so etwas wie ein Schalter wäre. Ein Empfang. Oder einfach irgendetwas, verdammt!
Aber es war einfach nur ein offenes Tor, welches wir so ungehindert, aber unendlich langsam passierten, wie den restlichen Weg zuvor. Der darauf folgende Abschnitt war wohl der Schlimmste von allen.
Bisher hatte uns eine hohe Mauer jede Sicht verwehrt und uns von beiden Seiten mit einer erhabenen Präsens eingeengt. Beinahe wie die Wände einer Müllpresse, nur mit einer täuschend sauberen Oberfläche und irgendwie monumentaler. Doch kaum waren wir ganz durch das Tor durch, wünschte ich mir die Mauer zurück und ich schätze dies ging uns allen so in diesem Moment.
Wer hatte denn nicht schon von den vielen Entführungen in ärmeren, instabilen Ländern und insbesondere im sogenannten Nahen Osten gehört. Ich war immer der Meinung, dass dies nur ein Klischee aus den sensationsgeilen Medien war und dass Entführungen in allen Teilen der Welt auf dem Tagesplan standen.
Aber was soll ich sagen. Was ich dort hinter dem hohen Zaun sah, das passte perfekt zu diesem von den Medien kreierten Bild des bösen, islamischen Herrschaftsgebiets. Eine trostlose, wüste Siedlung aus Blech-, Holz- und Dachpapphütten. Eine Slumsiedlung wie aus dem Buche. Und sie erschien endlos. Zu beiden Seiten erstreckte sie sich bis weit in den flimmernden Dunst der aufsteigenden Hitze, die an dem sandigen Boden zerrte und riss.
Ich erblickte unzählige Menschen, scheinbar jeder Altersgruppe und ethnischer Herkunft. Uns trennte lediglich dieser hohe Zaun.
»Verdammt, das ist ein scheiß Konzentrationslager!«, hörte ich einen Mann irgendwo vor mir ausrufen. Ich dachte, er kann nur recht haben.
Leide ich unter Gedächtnisschwund? Schon wieder? Unmittelbar nach meinem Unfall damals konnte ich mich für mehrere Monate an kaum etwas erinnern. Ich hatte sogar vergessen, dass ich verheiratet war. Die Erinnerungen kamen Stück für Stück wieder, dank einer Therapie und dem Durchhaltevermögen von Lisa.
Etwas schreckliches muss passiert sein, dass ich hier gelandet bin. Wieder stellte ich mir die Fragen: Wo war ich hier? und wie bin ich hier hergekommen?
Der Boden war überall sandig, trocken und zertrampelt. Jeder Schritt wühlte ihn kurz auf, doch es wehte kein Wind, der den Staub hätte wegtragen können. Heute denke ich mir, dass es so wahrscheinlich besser ist, sonst wäre das gesamte Lager von einer Staubwolke durchzogen.
Keine Schatten. Die Sonne muss im Zenit stehen. Doch ich konnte meinen Kopf noch nicht weit genug zurücklehnen, um hinauf zu schauen.
Weiter vorn in der Reihe war jetzt Unruhe zu vernehmen. Eine Frau schien zu weinen angefangen zu haben. Man spürte wie die Nervosität sich wie eine Welle ihren Weg durch die Menschenmasse bahnte. Auch mich erfasste sie.
»Was ist dort vorn? Ist etwas zusehen?«, fragte ich meinem Helfer voller Hoffnung. Ich konnte nach vorn hin nicht viel erkennen, da die ganzen Leute meine Sicht blockierten. Der Rollstuhl stoppte abermals und ich hörte, wie der Mann hinter mir ein paar Schritte zur Seite machte um an den Leuten vorbei sehen zu können. Er offenbarte mir ein gequältes Lächeln, als ich mich drehte und ihn ansah.
»Es ist nicht mehr weit.« Das war alles, was er sagte und es waren auch gleichzeitig die letzten Worte, die wir direkt miteinander wechselten. Doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Je weiter wir vorwärts kamen, desto unruhiger wurden die Leute. Vor mir deuteten einige erschrocken nach oben in den Himmel. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, musste sich dort etwas Sonderbares befinden. Die Neugier und die Angst kribbelte mir unter der Haut, fraß mich fast auf. Doch es gelang mir nicht, nach oben zu sehen. Egal wie ich mich winden wollte, es ging nicht und ich wurde nur mit Schmerzen im Rücken und im Nacken gestraft.
Es schien noch eine Ewigkeit zu vergehen - und wenn ich vom jetzigen Zeitpunkt zurückschaue, schien es auch vor einer Ewigkeit gewesen zu sein - doch irgendwann erreichten wir schließlich das vordere Ende der Schlange. Die Leute wurden jeweils zu viert aufgeteilt und einzeln zu einer Art Schalter gebracht. Männer in weißen, jedoch vom Staub verdreckten Anzügen koordinierten das Vorgehen.
Das war das erste Mal, dass ich hier noch Leute erblickte, die nicht selbst in der Schlange standen, natürlich abgesehen von dem Elend, was dort hinter dem Zaun wartete. Auch hinter den Schaltern begann die Slumsiedlung. Wie ein riesiges Auffangbecken, dachte ich damals und ich hätte mich geschlagen, wenn ich gewusst hätte, wie sehr ich doch richtig lag mit diesem Vergleich.
Einer der Männer winkte uns heran und mein Helfer schob den Rollstuhl auf den zweiten Schalter von links zu. Es war ein kleines Häuschen, betoniert, und darin saß ein weiterer Mann.
»Name?« Ich weiß noch, wie ich eine ganze Weile nichts heraus bekommen hatte. Ich muss ihn total verdutzt angesehen haben. »Ihr Name? Bitte beeilen sie sich. Es warten noch andere.«
»Ähm ... Andreas Rau. Wo ...«
»Sie sind verkrüppelt. Gut, dann brauchen sie einen anderen Schein und gesonderte Formulare.« Er tippte auf einer Tastatur herum. Im Schalter war es schattig und man erkannte den Schein des Bildschirms auf seinem Gesicht.
»Ich hatte eine Beinprothese.«
»Auch eine Armprothese? Mit einer Beinprothese können sie jetzt nicht viel anfangen.«
»Nein ... hatte ich nicht. Ging auch so. Wo bin ...«
»Ah, jetzt hab ich sie hier.«, sagte er und sah weiter auf den Bildschirm. »Bei ihnen ist die Sache etwas komplizierter. Es ist nicht ganz klar, ob sie hier überhaupt hergehören. Sie hatten sich einen Kopfschuss zugefügt ...« In dem Moment implodierte wieder mein Magen. Ich hatte noch nie eine Waffe gehabt! »... sind aber auch anschließend die Treppe hinunter gestürzt. Sie bekommen von mir erst einmal ein paar Unterlagen. Passen sie ja auf die auf, sonst sitzen sie hier fest. Für immer!« Seine letzte Aussage schien ihn selbst zu amüsieren. Er räusperte sich, konnte jedoch nicht aufhören dümmlich zu grinsen, da er scheinbar den Witz des Tages gerissen hatte, den ich nicht ganz verstand.
Neben dem Mann druckte eine Maschine ein paar Papiere aus, die er dann zusammen heftete und mir überreichte.
»Der Nächste! Ah, ein Schuss in die Brust.«
Ich kam mir hilflos und verängstigt vor. Ich zitterte so sehr, das mir die Formulare beinahe aus meiner einzig verbliebenen Hand gefallen wären.
Ich schaute nach vorn. Dort begann eine Welt, die in der Kategorie "beste Slumsiedlung" sicher den ersten Platz mit Bonusauszeichnung gemacht hätte. Auch in den Ausschreibungen für Müllhalde und Auffanglager hätte sie wahrscheinlich gewonnen.
An einem hohen Torbogen zwischen einer weiteren Mauer war ein Schild mit einer Aufschrift, die so alt und abgenutzt schien, dass sie auf den ersten Blick überhaupt nicht zu erkennen war. Doch sah man genau hin, konnte man sie noch ohne Probleme lesen.
»Garten von Eden.« Die Frau mit dem ausgemergelten, faltigen Gesicht nickte verständnisvoll. »So geht es allen von uns. Sie versprechen uns erst ewige Glückseligkeit, wenn wir Buße tun und ein anständiges Leben führen. Doch nach dem Tod kommt so oder so die Hölle.«
Nun, ob ich diesen Ort hier als Hölle bezeichnen würde, wusste ich nicht genau. Vor langer Zeit - ungeachtet der Tatsache, dass es hier keine Zeit gab - muss auch das angrenzende Gebiet vom Paradies ein schöner Ort gewesen sein.
»Zuerst dachte ich, dies sei meine Strafe dafür, dass ich nicht gläubig gewesen sei.«, erwiderte ich. Irgendwann hatte ich mich halbwegs an das Leben hier gewöhnt und dieses Wellblech gab ein hervorragendes Vordach ab.
»Dafür kann man niemanden bestrafen. Ich bin Zeit meines Lebens Nonne gewesen und trotzdem erhalte ich keine Sonderbehandlung. Doch es würde auch an meiner Überzeugung rütteln, so etwas zu verlangen. Wir sind alle gleich vor dem Herrn.« Mit diesen Worten erhob sie sich. »Versuche dir die Ewigkeit so angenehm wie möglich zu gestalten und höre den Leuten zu, wenn sie dir ihre Geschichte erzählen.«
Sie war im Begriff zu gehen, als sie doch noch einmal innehielt und sich zu mir umdrehte: »Und bete dafür, dass sie möglichst bald deine Nummer ziehen und dich wieder zusammenflicken. Oder willst du die Ewigkeit als Krüppel verbringen?«
Die Krücke, welche sie stützte und ihr rechtes Bein ersetzte, bohrte sich bei jedem Schritt wenige Zentimeter in den trockenen Sandboden.