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Vom Paulchen zum Saulchen

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25.08.2003
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Vom Paulchen zum Saulchen

Ich war ein gut erzogenes Kind! Ich wurde zum guten Kind, zum „Muttis Liebling“ erzogen. Meine Eltern hatten es aber auch nicht schwer mit mir – ich wollte es schon immer allen recht machen.
Ich habe die Weisheiten und Anweisungen verinnerlicht und zur Blüte gebracht. Sogar in außergewöhnlichen Situationen habe ich mich an die Direktiven gehalten.
Einmal bin ich hingefallen und habe mir wehgetan. Ich wollte verbittert weinen, aber ich habe es zurückgehalten.
„Was ist los“ fragten meine Eltern „Hast Du Dir wehgetan?“
„Ja, und ich muss weinen“
„Und wieso weinst Du nicht?“ kam die verbluffte Frage.
„Ich habe kein Tatentuch...“
Nachdem ich eins erhalten hatte, konnte ich endlich meinen Tränen freien Lauf lassen! Mir wurde beigebracht, dass beim Weinen die Tränen und auch die Ausflüsse der Nase in ein Taschentuch kommen – und ich wollte nichts falsch machen.

Mit mir konnte man auch ruhig zu Besuch gehen (was ich heute nicht mehr empfehlen würde). Ich habe nichts berührt, nichts heruntergerissen, nichts in den Mund genommen und bin nicht unentwegt im Kreis herumgelaufen und habe auch nicht laut, unverständliche Kinderlieder gesungen oder auf irgend etwas gepocht was ich nicht bekam. Meine Mutter hat die Gastgeber, die beim Anblick eines kleinen Kindes sofort anfingen die Tischdecke vom Tisch zu nehmen und alles was nicht niet- und nagelfest war wegzuräumen, ausgelacht. Und während die Erwachsenen sich über Sachen unterhielten, von denen ich nichts verstand, habe ich brav irgendwo gesessen und darauf gewartet, dass wir endlich gehen.

Eine meiner größten Passionen meiner Kindheit war Daumenlutschen! Das hat so gut geschmeckt. (Ich bin seit 25 Jahren auf der Suche nach diesem Geschmack, aber ich finde es nicht! – Vielleicht liegt es daran dass mir bei der Suche bisher ausnahmslos Frauendaumen untergekommen sind) Als es sich abzeichnete, dass meine Zähne, vor allem aber die Zahnstellung, vom ständigen Lutschen Schaden nehmen könnten, wurde mir meine Lieblingsbeschäftigung verboten. Ich hielt mich auch brav daran. Trotzdem, nachts während ich schlief, nahm ich automatisch den Daumen in den Mund, das war im Schlaf, da hat nicht mein Verstand regiert. Deshalb wurde mir kurzer Hand mein Daumen vorm Schlafengehen immer mit Mullbinde verbunden. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten - das Daumenlutschen wurde mir erfolgreich abgewöhnt. Ich weiß bis heute nicht, ob mir der Daumen nicht geschmeckt hat, oder ob er mir vielleicht gar nicht in den Mund gepasst hat mit der dicken Binde. Nur ab und zu, wenn ich nach dem Essen bei meinen Großeltern ruhig sein sollte, weil Opa schlief, habe ich gefragt ob ich Daumen lutschen darf. Meine Mutter war großzügig und hat es mir für paar Minuten erlaubt. Doch es schmeckte nicht mehr so wie früher. Irgendwie hat meine Daumenhaut die Duft der Mullbinde in sich aufgesogen.

Ich habe bis heute noch kein braveres Kind erlebt, als ich es war. So was rächt sich natürlich. Spätestens wenn andere Kinder mit ins Spiel kommen, ohne Eltern, also im Kindergarten und Schule. Sobald diese mitbekommen, dass du alles so tust, wie es die Erwachsenen von dir verlangen, haben sie dich auf dem Kieker. Wenn sie hören dass Du im tiefsten Winter vor jedem verschneiten Hügel höflich deine Großeltern fragst, ob du auf dem Hosenboden rutschen darfst, gibt’s den ersten Minuspunkt. Wenn du erwischt wirst, dass du neben deiner Mutter, die gerade deine kleine Schwester im Wagen schiebt, auch du, als junger Knabe, einen kleinen Puppenwagen steuerst, dann erntest du Blicke, die dich zum ersten mal über deine Rolle in der Gesellschaft nachdenken lassen.

Die ganzen Tugenden, die in den ersten Jahren eingetrichtert werden, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung, das machen was einem die Erwachsenen sagen, usw... helfen einem im Kindergarten und Schule kein Bisschen! Wenn Du obendrein, in einem sozialistischen Land in der 3. Klasse auch noch felsenfest davon überzeugt bist, dass es Osterhasen, Nikolaus und das Christkind gibt, ja, spätestens dann wirst Du zum Außenseiter! Wohlgemerkt zum Außenseiter wider Willen, denn ich wollte mit jedem Freund sein und mit jedem gut stehen, so wurde ich ja erzogen!

Dass ich ein sehr ambitionierter Messdiener war, hat an meinem Außenseitertum in der Schule wenig geändert! Es gab Wochen, da war ich acht mal der Helfer unseres Pastors. Während der Woche abends waren immer nur alte Männer und Frauen in der Kirche, manchmal nur so wenige, dass der Pastor und ich in der Überzahl waren.

Gehofft hatte ich die ganze Zeit über auf ein Wunder. Dass ich endlich groß und stark werde und mich endlich alle respektieren. Die biologische Uhr schien aber in der ganzen Klasse bei mir am langsamsten zu ticken. Während die anderen Jungs schon richtige Oberarmmuskeln hatten, hatte ich immer noch Zwirnärmchen. Manche hatten schon Bartwuchs und ich hatte nicht mal Schambehaarung, aber ich war der Klassenbester – was meine Beliebtheit noch steigerte.

Das musste sich ändern! Aber wie? Niemand würde mich für voll nehmen. Ich kann nicht von heute auf morgen ein schlechter Junge werden. Und was würden die Erwachsenen sagen die mich kennen, wenn sie mich steinewerfend und fluchend mit anderen sehen würden? Es war eine Zwickmühle, zumal ich auch keine Aggressionen in mir spürte. Einmal musste sich der Kleinste in unserer Klasse beweisen, dass er nicht der Schwächste ist und hat mich nach der Schule rangenommen. Er hat mich gegen eine Wand gedrückt und mir irgendwelche Sachen vorgeworfen. Viele standen um uns und haben zugeguckt. Ich hätte ihn von der Kraft her bestimmt besiegen können, nur die Entschlossenheit fehlte, und die Aggression. Ich habe Ihn dann weggestoßen und bin nach Hause gelaufen, weinend, aber nicht vor Wut sondern aus Verzweifelung was die denn alle von mir wollen.

Die Sache war klar. Die Rettung kann nur ein Umgebungswechsel bringen! Und Gott schien meine Gebete erhört zu haben, denn wir zogen in die BRD. Von einer sozialistischen Stadt in ein kapitalistisches Dorf – der Unterschied hätte nicht größer sein können. Nachdem ich in den Sommerferien so gut deutsch gelernt hatte, dass ich verstanden habe wenn man mich nach dem Namen fragte, kam ich in die Schule. Es hat ein halbes Jahr gedauert bis ich meine erste Zigarette inhalierte und mein erstes Bier austrank. Wie mit Dünger umspült fing sogar meine Schambehaarung an zu wachsen, ich wurde des Deutschen mächtig und der Klassenclown. Meine Eltern habe ich fortan angelogen und der staatliche Religionsunterricht hat mich eher vom Glauben abgebracht. Das ich jemals ein Muttersöhnchen war, glaubt mir in meinem Gefängnis keiner mehr!

 

Hallo Bakir Aly,

die Geschichte ist gut erzählt, obgleich mir der Spannungsbogen etwas fehlt. Auch der Schluss ist mir etwas rätselhaft, wieso empfindet der Protagonist die Bundesrepublik als Gefängnis? Oder ist er etwa ein Gefängnisdirektor?

Rätselhafte Grüße! Marion

 

Hallo Bakir Aly!

Grübel, grübel.
Lebt denn der Protagonist vorher woanders? Wahrscheinlich in der ehemaligen DDR? Nein! Er lernt ja dann Deutsch, das heißt, er muss irgendwo aus dem Ausland herkommen. Hab ich das überlesen oder sollte das rüberkommen?
Natürlich wird es durch den Schluss klar, aber es kommt doch überraschend.
Im vorletzten ABsatz, als er weinend heimläuft, fällt mir noch einmal das fehlende Taschentuch ein. Könnte man das nochmal aufrollen,(„Und wieso weinst Du nicht?“ kam die verbluffte Frage.
„Ich habe kein Tatentuch - Taschentuch?...“ ) oder meinst du wäre es dann zu viel?

Ansonsten hat mir deine Geschichte wirklich gut gefallen. Erinnert eher an einen kabarettistischen Text. Ist flüssig und belustigend zu lesen und gipfelt am Ende im menschlichen und sozialen Abstieg deines Protanisten.

@Marion Reich
Er landet offenbar tatsächlich im Gefängnis, denn im letzten Absatz geht es mit ihm steil bergab.

Lieb eGrüße
Barbara

 
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Hallo Marion, hallo Barbara,

erst einmal vielen Dank für das Lesen meiner Geschichte!

Ich denke eine Kurzgeschichte sollte zum Nachdenken animieren und das habe ich (unverhoffter Weise) anscheinend tasächlich erreicht. Die BRD mit Gefängnis gleichzusetzen, das habe ich nicht beabsichtigt, aber ich habe es schon offen gelassen mit "meinem Gefängnis" ob man da an das richtige Gef., oder an ein Gefängnis das durch äußere Zwänge, Regeln, gesellschaftliche Verpflichtungen, evtl auch durch die Beschränktheit des menschlichen Verstandes, gegeben ist, denkt.

Auch für die Herkunft des Prot. gibt es ja genau die Anhaltspunkte die Du, Barbara, richtig aufzählst. Und ich wollte auch nicht dass man mehr erfährt, sozialistisches Ausland - nicht deutschsprachig. Ich glaube, wenn in einer Kg auf alles eingegangen wird (wieso die Ausreise, in welchem Alter, von wo, wohin genau usw.), kommt man schnell vom 100-stel ins 1000-ste und die eigentliche Geschichte wird unübersichtlich, und nimmt noch mehr biographische Züge an.

Das mit dem Taschentuch ist natürlich eine gute Idee! Allerdings ist er ja nicht mehr so klein und hat diese Hemmschwelle evtl. schon überwunden. Ich werde den Abschnitt evtl. noch umgestalten, danke. :-)

Mit der fehlenden Spannung, Marion, ist mir auch schon durch den Kopf gegangen aber es ist kein Krimi und es gibt auch keine durchgehende Handlung. Da ist schwer Spannung aufzubauen. Ich hatte nur Angst, dass die Geschichte ohne Spannung auch langweilig wirkt! Diese Befürchtung wurde durch Eure Kritik aber nicht unbedingt bestätigt! Darüber bin ich sehr froh und es gibt mir Mut für weitere Geschichten!

LG

AB

 

hallo bakir aly,

du bist ja noch sehr neu hier auf kg.de - deshalb zuerst mal recht herzlich willkommen im klub.

ich bin als mensch ein alter zyniker - deshalb sucht man wahrscheinlich bei stories von anderen automatisch auch nach zynischen bemerkungen. und die glaubte ich bei dir gefunden zu haben. so zynisch sogar, dass sie fast schon wie eine satire auf mich wirkten, z.b.

Meine Mutter war großzügig und hat es mir für paar Minuten erlaubt.
- wirklich ECHT großzügig!

aber ich war der Klassenbester – was meine Beliebtheit noch steigerte.
die streber sind ja bekanntlich die beliebtesten in der klasse

Während der Woche abends waren immer nur alte Männer und Frauen in der Kirche, manchmal nur so wenige, dass der Pastor und ich in der Überzahl waren.
- das ist mein lieblingssatz in deiner geschichte

ich in den Sommerferien so gut deutsch gelernt hatte, dass ich verstanden habe wenn man mich nach dem Namen fragte, kam ich in die Schule.
- meine vorstellung beim lesen: er kam aus der Ex-DDR und brauchte erstmal einen deutsch-kurs, damit sein dialekt im westen verstanden würde

und jetzt sagst du, dass du wirklich aus dem nicht deutschsprachigen ausland kommst?? du nimmst mir alle meine illusionen!!!

nein, jetzt im ernst: deine story liest sich vom stil her nicht ganz flüssig...versuche mal die unebenheiten rauszunehmen. mein tipp: warte mal eine woche und lies dir dann die geschichte selbst vor. achte auf die stellen, bei denen du beim vorlesen "stolperst" - und suche nach einer geschlieffeneren lösung.

beste grüße
ernst

 
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Hallo Clemens,

danke für Deine Kritik!

Werde es beherzigen.

Ich finde es natürlich schade, dass ich Deine Illusion zerstört habe! Und ich habe daraus gelernt, nie wieder darauf einzugehen, wie ich die Geschichte eigentlich gemeint habe. Denn das wichtigste ist, finde ich, was der Leser damit verbinden kann. Bei jedem tauchen andere Assoziationen auf. Ich habe die Textanalysen in der Schule immer gehasst, weil der Lehrer meistens das hören wollte, woran er gedacht hat!

Die meisten Entdeckungen und Erfindungen basieren auf Zufälle. Genauso hält es sich, glaube ich, mit Texten. Ich bin überzeugt, dass die meisten philisophischen, literarischen, usw. Texte sehr oft ganz anders gedeutet werden, als es die Autoren eigentlich beabsichtigt haben! Sind sie deshalb schlechter? Also, für Dich kam ich aus der DDR - dabei solls bleiben!

Ich werde meinen Text nächste Woche nochmal durchlesen!

Viele Grüße

AB

 

Hat mir gut gefallen :).

Was mich aber gestört hat, waren die vielen Ausrufezeichen - das wirkt immer so , als würde die Person ihren Satz herausschreien wollen.

Inhaltlich wundert es mich etwas, dass der Protagonist, als er in den anderen Ort zog, ziemlich schnell ziemlich das genaue Gegenteil vond em wurde, was er vorher war - er kann sich vll nach und nach entwickeln, aber so schnell?

Noch was zum Ende: am besten sagst du dazu einfach gar nichts mehr - jeder hat seinen eigenen Kopf um darüber nachdenken zu könenn :).

 
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Freut mich, dass es Dir gefallen hat.(kein Ausrufezeichen :))

Wenn Dich nur die Ausrufezeichen stören, darüber können wir reden ;)

Zu Deiner Anmerkung: ich denke 180° Wenden sind durchaus auch schnell möglich...

Grüße
AB

 

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