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Vom Paulchen zum Saulchen
Ich war ein gut erzogenes Kind! Ich wurde zum guten Kind, zum „Muttis Liebling“ erzogen. Meine Eltern hatten es aber auch nicht schwer mit mir – ich wollte es schon immer allen recht machen.
Ich habe die Weisheiten und Anweisungen verinnerlicht und zur Blüte gebracht. Sogar in außergewöhnlichen Situationen habe ich mich an die Direktiven gehalten.
Einmal bin ich hingefallen und habe mir wehgetan. Ich wollte verbittert weinen, aber ich habe es zurückgehalten.
„Was ist los“ fragten meine Eltern „Hast Du Dir wehgetan?“
„Ja, und ich muss weinen“
„Und wieso weinst Du nicht?“ kam die verbluffte Frage.
„Ich habe kein Tatentuch...“
Nachdem ich eins erhalten hatte, konnte ich endlich meinen Tränen freien Lauf lassen! Mir wurde beigebracht, dass beim Weinen die Tränen und auch die Ausflüsse der Nase in ein Taschentuch kommen – und ich wollte nichts falsch machen.
Mit mir konnte man auch ruhig zu Besuch gehen (was ich heute nicht mehr empfehlen würde). Ich habe nichts berührt, nichts heruntergerissen, nichts in den Mund genommen und bin nicht unentwegt im Kreis herumgelaufen und habe auch nicht laut, unverständliche Kinderlieder gesungen oder auf irgend etwas gepocht was ich nicht bekam. Meine Mutter hat die Gastgeber, die beim Anblick eines kleinen Kindes sofort anfingen die Tischdecke vom Tisch zu nehmen und alles was nicht niet- und nagelfest war wegzuräumen, ausgelacht. Und während die Erwachsenen sich über Sachen unterhielten, von denen ich nichts verstand, habe ich brav irgendwo gesessen und darauf gewartet, dass wir endlich gehen.
Eine meiner größten Passionen meiner Kindheit war Daumenlutschen! Das hat so gut geschmeckt. (Ich bin seit 25 Jahren auf der Suche nach diesem Geschmack, aber ich finde es nicht! – Vielleicht liegt es daran dass mir bei der Suche bisher ausnahmslos Frauendaumen untergekommen sind) Als es sich abzeichnete, dass meine Zähne, vor allem aber die Zahnstellung, vom ständigen Lutschen Schaden nehmen könnten, wurde mir meine Lieblingsbeschäftigung verboten. Ich hielt mich auch brav daran. Trotzdem, nachts während ich schlief, nahm ich automatisch den Daumen in den Mund, das war im Schlaf, da hat nicht mein Verstand regiert. Deshalb wurde mir kurzer Hand mein Daumen vorm Schlafengehen immer mit Mullbinde verbunden. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten - das Daumenlutschen wurde mir erfolgreich abgewöhnt. Ich weiß bis heute nicht, ob mir der Daumen nicht geschmeckt hat, oder ob er mir vielleicht gar nicht in den Mund gepasst hat mit der dicken Binde. Nur ab und zu, wenn ich nach dem Essen bei meinen Großeltern ruhig sein sollte, weil Opa schlief, habe ich gefragt ob ich Daumen lutschen darf. Meine Mutter war großzügig und hat es mir für paar Minuten erlaubt. Doch es schmeckte nicht mehr so wie früher. Irgendwie hat meine Daumenhaut die Duft der Mullbinde in sich aufgesogen.
Ich habe bis heute noch kein braveres Kind erlebt, als ich es war. So was rächt sich natürlich. Spätestens wenn andere Kinder mit ins Spiel kommen, ohne Eltern, also im Kindergarten und Schule. Sobald diese mitbekommen, dass du alles so tust, wie es die Erwachsenen von dir verlangen, haben sie dich auf dem Kieker. Wenn sie hören dass Du im tiefsten Winter vor jedem verschneiten Hügel höflich deine Großeltern fragst, ob du auf dem Hosenboden rutschen darfst, gibt’s den ersten Minuspunkt. Wenn du erwischt wirst, dass du neben deiner Mutter, die gerade deine kleine Schwester im Wagen schiebt, auch du, als junger Knabe, einen kleinen Puppenwagen steuerst, dann erntest du Blicke, die dich zum ersten mal über deine Rolle in der Gesellschaft nachdenken lassen.
Die ganzen Tugenden, die in den ersten Jahren eingetrichtert werden, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung, das machen was einem die Erwachsenen sagen, usw... helfen einem im Kindergarten und Schule kein Bisschen! Wenn Du obendrein, in einem sozialistischen Land in der 3. Klasse auch noch felsenfest davon überzeugt bist, dass es Osterhasen, Nikolaus und das Christkind gibt, ja, spätestens dann wirst Du zum Außenseiter! Wohlgemerkt zum Außenseiter wider Willen, denn ich wollte mit jedem Freund sein und mit jedem gut stehen, so wurde ich ja erzogen!
Dass ich ein sehr ambitionierter Messdiener war, hat an meinem Außenseitertum in der Schule wenig geändert! Es gab Wochen, da war ich acht mal der Helfer unseres Pastors. Während der Woche abends waren immer nur alte Männer und Frauen in der Kirche, manchmal nur so wenige, dass der Pastor und ich in der Überzahl waren.
Gehofft hatte ich die ganze Zeit über auf ein Wunder. Dass ich endlich groß und stark werde und mich endlich alle respektieren. Die biologische Uhr schien aber in der ganzen Klasse bei mir am langsamsten zu ticken. Während die anderen Jungs schon richtige Oberarmmuskeln hatten, hatte ich immer noch Zwirnärmchen. Manche hatten schon Bartwuchs und ich hatte nicht mal Schambehaarung, aber ich war der Klassenbester – was meine Beliebtheit noch steigerte.
Das musste sich ändern! Aber wie? Niemand würde mich für voll nehmen. Ich kann nicht von heute auf morgen ein schlechter Junge werden. Und was würden die Erwachsenen sagen die mich kennen, wenn sie mich steinewerfend und fluchend mit anderen sehen würden? Es war eine Zwickmühle, zumal ich auch keine Aggressionen in mir spürte. Einmal musste sich der Kleinste in unserer Klasse beweisen, dass er nicht der Schwächste ist und hat mich nach der Schule rangenommen. Er hat mich gegen eine Wand gedrückt und mir irgendwelche Sachen vorgeworfen. Viele standen um uns und haben zugeguckt. Ich hätte ihn von der Kraft her bestimmt besiegen können, nur die Entschlossenheit fehlte, und die Aggression. Ich habe Ihn dann weggestoßen und bin nach Hause gelaufen, weinend, aber nicht vor Wut sondern aus Verzweifelung was die denn alle von mir wollen.
Die Sache war klar. Die Rettung kann nur ein Umgebungswechsel bringen! Und Gott schien meine Gebete erhört zu haben, denn wir zogen in die BRD. Von einer sozialistischen Stadt in ein kapitalistisches Dorf – der Unterschied hätte nicht größer sein können. Nachdem ich in den Sommerferien so gut deutsch gelernt hatte, dass ich verstanden habe wenn man mich nach dem Namen fragte, kam ich in die Schule. Es hat ein halbes Jahr gedauert bis ich meine erste Zigarette inhalierte und mein erstes Bier austrank. Wie mit Dünger umspült fing sogar meine Schambehaarung an zu wachsen, ich wurde des Deutschen mächtig und der Klassenclown. Meine Eltern habe ich fortan angelogen und der staatliche Religionsunterricht hat mich eher vom Glauben abgebracht. Das ich jemals ein Muttersöhnchen war, glaubt mir in meinem Gefängnis keiner mehr!