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Vom Leben gezeichnet
Weiße Leinwände gibt es in vielen Größen und Räumen dieser Stadt.
Carola hat sich letztens fünf davon gekauft, und die stehen jetzt quer verteilt in ihrer Wohnung. Carola studiert Kunst auf Lehramt und erhofft sich von den letzten Semesterferien so einiges.
Sie will endlich Ruhe. Mal eine Woche von der Sonne geweckt werden und nicht vom Wecker oder der Müllabfuhr. Abends feiern, ohne an den nächsten Tag zu denken. Auf dem Balkon sitzen, wenn die Sonne genau um vier um die Häuserwand gekrochen kommt und sich vom Leben halten zu lassen anstatt umgekehrt.
In ihre Tagträumen versunken, gleitet, der Faden der Vorlesung an ihr vorbei.
Carola hasst endlose Kunsttheorie. Sie will Kunst machen; mit Händen und Füßen mit Worten und anderen Menschen und glaubt, dazu müsse man nichts lernen.
Einmal entdeckte sie mitten im Treiben der Einkaufsstraße einen roten Ballon und sah minutenlang zu, wie er im steten Puls der Menge mit den Einkaufenden tanzte.
Manchmal, wenn sie das Gefühl hat, sich leer gelebt zu haben, setzt sie sich unauffällig in die hinterste Ecke eines Spielplatzes und sieht den Kindern beim Spielen zu, bis das Gefühl verschwindet. Doch auch sie, so unberührt sie nach außen wirken mag, erwischt sich mittlerweile dabei, wie sie ihre Lippen blutig beißt, wenn ihre Leinwände zu lange weiß bleiben. Wie auch sie im Angesicht des täglichen Hamsterrades vergisst, der Kassiererin bei Alnatura einen schönen Tag zu wünschen.
Eines Tages gibt sie sich einen Ruck, fährt mit ihrem Anhänger ans Klapprad geschnallt zur Galerie und kauft sich jene 5 Leinwände. Nun wird sie Extraschichten im Café übernehmen müssen, dafür sind sie herrlich groß und weißer als es jede Weste, eingeschlossen ihre, je sein könnte.
Am Abend des ersten vorlesungsfreien Tages holt Carola ihren Schlafsack aus dem Schrank und legt sich auf dem Fußboden des Zimmers, dass sie Wohnzimmer nennt. Um sie herum die fünf leeren Staffeleien, im Mondlicht so hell glühend, dass sie erst einschlafen kann, als Wolken aufziehen.
Am nächsten Morgen geht sie ohne zu frühstücken und mit schmerzendem Rücken, ihren einzigen Stuhl unter den Arm geklemmt aus der Wohnung und setzt sich auf die schön bepflanzte Verkehrsinsel vor dem Haus.
Gut sechs Stunden später wechselt sie mit knurrendem Magen und sonnenverbranntem Gesicht auf den Balkon. Dort greift sie nach ihrem Nokia und ruft alle ihre Freunde und noch ein paar mehr an, bis sie meint, die Aufnahmekapazität ihrer Wohnung mehr als ausgereizt zu haben.
Sie bittet alle Essen mitzubringen, mittlerweile hat sie wirklich Hunger, und mit den letzten Euros aus dem Blumentopf in ihrem nach Spektralfarben sortierten Bücherregal besorgt sie für alle Getränke.
Gegen 10 ist die Wohnung zerspringend voll, wozu die Staffeleien nicht unerheblich beitragen.
Als Carola am nächsten Tag aufwacht, ist es bereits dunkel und da sie weder sehr sicher auf den Beinen ist, noch im Halbdunkel für die Sauberkeit des Bodens garantieren kann, bleibt sie einfach liegen.
Würde man näheres über die Party von ihr wissen wollen, könnte sie nur spekulieren, und auch das nicht allzu lange, da ihre Kopfschmerzen längeres Denken unmöglich machen.
Einige Monate später ist die Abschlussarbeit fällig und so betritt sie schwer bepackt und in Eile ein letztes Mal die Universität, ihr Projekt im Anhänger.
Frei aus dem zugehörigen Aufsatz folgende Worte: „Für die, die meinen auf der Suche zu sein, für die, die meinen früher war alles besser und für die, die über den Alltag klagen, habe ich diese Leinwände. Das Leben passiert.“
Dies sind auch die einzigen Worte in ihrem Aufsatz, der damit dem theoretischen Anspruch wohl nicht genügen konnte. Carola mag nun mal keine Theorie, vielleicht wird sie auch doch nicht Lehrerin.
Ob sie die Arbeit dennoch bestanden hat, weiß sie selbst nicht. Noch am selben Tag nimmt sie einen einfachen Flug nach Turku, um ein Jahr in den Wäldern Finnlands zu leben.
Doch eines weiß sie: Weiße Leinwände muss es in vielen Größen und Räumen dieser Stadt geben. Carolas fünf sind nun nicht mehr weiß. Auch an ihnen ist die Party damals nicht spurlos vorbeigegangen.
Das alles ist jetzt lange her.
Wenn ihr heute, morgens um 10 denkt, ihr traut euren Augen nicht, weil da mitten im Lärm der Autos eine kleine Gestalt auf der Verkehrsinsel sitzt, oder ihr in der vollen U-Bahn von einer Frau mit niemals ordentlichen Haaren, sonnenverbranntem Gesicht und Augen so klar und tief wie eine Gletscherspalte warm angelächelt werdet, oder wenn ihr Plakate für Ausstellungen seht, auf denen bloß Vom Leben gezeichnet" steht, dann wisst ihr, es ist Carola und sie ist sich treu geblieben.
Wer selbst vor einem Stück Weiß sitzt, der soll an Carola denken, an ihre Ansichten zur Theorie und zum Leben und beruhigt sein, denn das Weiß wird noch viel zu erzählen haben.